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Siebentes Kapitel.

Smith wußte nur zu wohl, wie recht seine Tochter hatte.

»Um durch Ihre liebenswürdige Gegenwart die Curtisschen Damen über das andauernde Unwohlsein Ralphs zu trösten und der gestörten Behaglichkeit des Hauses aufzuhelfen«, hatte die ostensible Einladungsformel in seinem Briefe an Marie gelautet. Nun war sie Pflegerin des Kranken geworden nicht in einem vorübergehenden Notfalle, was ja auch wohl ein Uebelwollender begreiflich gefunden hätte, sondern in dem ganzen Umfange einer berufsmäßig ausgeübten Hilfe. Die einzige Erklärung aber, die man dafür etwa hätte gelten lassen: daß Marie Ralphs Verlobte sei, blieb aus.

Wahrlich nicht durch Ralphs Schuld.

Ich bin ein freier Mann, sagte er; ich habe meine Handlungsweise vor niemand zu verantworten, als vor meinem eigenen Gewissen. Wie ich leider in Geist und Gemüt meinem Vater immer fremd gewesen bin, habe ich auch in materieller Beziehung mich längst von ihm gelöst. Sie können es mir bezeugen, Smith, daß ich bereits seit einer Reihe von Jahren nicht einen Cent von ihm angenommen habe, sowenig wie Sie selbst das jemals gethan. In diesem Augenblicke sind wir nur Gäste in seinem Hause und gezwungene dazu. Wir wollten allein herübergehen. Es war ja alles abgemacht und geordnet. Erst in der letzten Stunde ist es meinem Vater eingefallen, uns mit der Mutter und Anne begleiten zu wollen. Der einzige Fehler, den wir begangen haben, Smith, ist, daß wir uns hier nicht sofort wieder von ihnen trennten, wie drüben. Wir thaten es Annes willen nicht, um ihr hier im fremden Lande die Sorge für die Mutter von Zeit zu Zeit abnehmen zu können. Aber das kann doch kein Grund sein, mit einer Erklärung zurückzuhalten, die allen Verständigen wenigstens genügen wird.

Marie und ihr Vater suchten dann den Aufgeregten zu beruhigen, so gut sie konnten. Die paar Verständigen würden sich das Richtige auch ohnedies denken; an dem Gerede der Unverständigen sei doch wahrlich nichts gelegen. Man wolle, vielmehr müsse mit entscheidenden Schritten warten, bis Ralph hinreichend hergestellt sei, um alles, was jetzt nur durch andere geschehen könnte, in Person zu erledigen. Damit aber eile es ja nicht; würde es doch nur in dem Fall, daß seine Eltern der Verbindung Schwierigkeiten in den Weg legten. Davon, müsse er selbst zugeben, sei keine Rede.

Ralph mußte es zugeben. Hinsichtlich seiner Mutter war es allerdings fraglich, ob sie auch nur mit einiger Bestimmtheit wisse, in welcher Eigenschaft Marie in ihrem Hause sei. Das eine Mal behandelte sie dieselbe als geehrten Gast mit aller gebührenden formvollen Höflichkeit. Dann wieder schien es, als ob die Erinnerung, daß die junge Dame sich an einem der ersten Tage als Gesellschafterin angeboten habe, in ihr lebendig werde, sie in ihr auch nur eine solche sehe und demgemäß schon ein übriges thue, wenn sie ihr von Zeit zu Zeit ein herablassendes Lächeln, oder gar ein freundliches Wort zuwende. Kam sie dann wieder, was glücklicherweise selten geschah, in das Krankenzimmer, so ließ sie augenscheinlich beide Annahmen fallen, beobachtete Maries stilles Walten mit gespannten Brauen durch die goldene Lorgnette; erzählte von einer barmherzigen Schwester in New-York, welche das höchste Vertrauen der ganzen genteelen Gesellschaft besessen habe, bis sich herausstellte, daß sie eine aus dem Gefängnisse von Francisco entsprungene zwiefache Mörderin war, und fragte Smith flüsternd, ob er sich überzeugt, daß die Referenzen »der Person« auch wirklich gut und zufriedenstellend? Wieder ein andres Mal sprach sie von Marie als ihrer lieben Tochter, redete sie demgemäß an, und man hätte schwören mögen, sie halte das junge Paar für bereits seit längerer Zeit verheiratet.

Aber auch Herr Curtis bezeigte Marie, wo und wann immer er ihr begegnete, dieselbe steifstellige Höflichkeit; ja, bei seinen ebenfalls nur seltenen Besuchen in Ralphs Zimmern nahm sein Verhalten gegen sie noch einen besondern Ausdruck fast väterlich zu nennender Güte und Freundlichkeit an.

Marie freilich und ihr Vater wußten besser, was sie von dieser Güte, dieser Freundlichkeit zu halten hatten.

Bereits am zweiten Tage von Maries Anwesenheit im Hause hatte sich Smith zu Herrn Curtis begeben und ihm mitgeteilt einmal, welches sein wahrer Name sei, in welchem Verhältnis er also zu Marie, in welchen Beziehungen zu der Iliciusschen Familie stehe; sodann, daß Ralph Marie liebe und sie nach seiner Genesung zu seinem Weibe machen werde.

Der Amerikaner hatte ihn ruhig aussprechen lassen und dann nicht ohne einen Anflug seines sarkastischen Lächelns erwidert:

Von Ihren Mitteilungen, werter Herr – Smith? oder Alden? – Sie haben zu befehlen, wie ich Sie in Zukunft nennen soll – überrascht mich die eine wenig und die andre gar nicht. Daß Sie der waren, für den Sie sich gaben, habe ich nicht einen Moment geglaubt. Im allgemeinen geht mich die Thatsache, daß Sie eigentlich Alden heißen und Fräulein Marie Ihre Tochter ist, nichts an, würde mich nur dann etwas angehen, wenn Sie nicht – darf ich sagen: die Extravaganz? – begangen hätten, sich Ihres immerhin schönen Vermögens zu entäußern. Ich würde in diesem Falle der Verbindung Ralphs und Ihrer Tochter meinen Segen nicht vorenthalten haben. Nun aber ist Ihr einstiges Vermögen in den Besitz Ihrer ehemaligen Gattin, respektive deren Gatten übergegangen. Der Zufall hat gewollt, daß ich mit dem letzteren Herrn gewisse, für mich sehr wichtige geschäftliche Transaktionen eingegangen bin, bei denen von der andren Seite die stillschweigende Voraussetzung war, daß ich einer Doppelverbindung meiner beiden Kinder mit zwei aus jener Familie geneigt sei, derselben keinesfalls, wenn die jungen Leute sich einigen könnten, Hindernisse in den Weg legen werde. Ich habe der geplanten Verbindung keine Hindernisse in den Weg gelegt – im Gegenteil. Nichtsdestoweniger hat man mir von jener Seite zu verstehen gegeben – meine Tochter Anne würdigt mich dergleichen vertraulicher Mitteilungen nicht – daß Mister Reginald dieserseits gezwungen worden sei, von seiner Werbung zurückzutreten. Es scheint freilich, als ob nun der ältere Bruder seine Stelle einnehmen wolle – ich habe Gründe, zu vermuten: mit keinem besseren Erfolge. Ich kann nichts dafür; aber Sie werden begreifen, wie ärgerlich mir aus den oben angeführten Gründen die Sache ist. Nun kommen Sie und sagen mir, daß auch aus der zweiten Verbindung nichts werden kann. Ihre Tochter ist freilich auch die der Frau Ilicius, aber ich höre: nicht gerade die Lieblingstochter, so daß eine Vertauschung derselben mit Miß Ada drüben sehr böses Blut machen würde. Ich habe die Herzen der jungen Leute nicht in der Hand, und Ralph braucht meinen Konsens nicht, um zu heiraten, wen er will. Aber befördern, unterstützen darf ich die Affaire auf keine Weise, will ich meinen gegen die Ilicius als ehrlicher Mann eingegangenen Verbindlichkeiten weiter ehrlich nachkommen. In den Augen aller vernünftigen Menschen ist es eine derartige Förderung und Unterstützung, wenn ich die Fortsetzung des zwischen Ralph und Ihrer Tochter angesponnenen Verhältnisses in meinem Hause unter meinen Augen dulde. Also: ich weiß von nichts, das Verhältnis existiert für mich nicht – gut: so mag Ihre Tochter in Gottes Namen hier bleiben und Ralph weiter pflegen; oder Ralph publiziert das Verhältnis, so bin ich in der unangenehmen Lage, Ihre Tochter noch heute bitten zu müssen, mein Haus zu verlassen. Ich glaube, Mister Smith oder Alden, ich habe meine Ansicht über die Sachlage mit hinlänglicher Deutlichkeit ausgesprochen. Daß ich an meinen Ansichten bis auf das Tüttelchen über dem I festzuhalten pflege, wissen Sie. Und nun, Mister Smith – oder muß ich sagen: Mister Alden? – ich bin gerade heute vormittag sehr beschäftigt.

Damit war die Unterredung zu Ende gewesen; Smith und Marie hatten die schwere Aufgabe, dem Kranken gegenüber sich die Miene zu geben, als habe nichts derart stattgefunden. Es war ihnen das verhältnismäßig leicht gelungen aus einem schlimmen Grunde. Ralphs Krankheit hatte in den letzten Tagen verhängnisvolle Fortschritte gemacht. Mit der Einengung der physischen Energie schien ihm zugleich die Fähigkeit und Neigung geschwunden, Gegenwart und Zukunft auf Bedingungen hin zu betrachten, die ihm auch in gesunden Tagen als untergeordnet erschienen sein würden. Man mußte annehmen, daß, was ihm von seelischer Kraft geblieben war, aufging in der einen Empfindung: der Liebe zur Geliebten; in dem einen Drange, ihr seine Liebe auszudrücken; in dem einen Verlangen, sich mit der Seligkeit zu erfüllen, von ihr geliebt zu sein.

Ich habe Deinem Vater ein Großes abzubitten, sagte er. Wenn er mich mit sich in seine ideale Welt erhob und tief unter mir, die, welche uns sonst umgibt, liegen blieb in ihrer prosaischen Breite und baren Gemeinheit, habe ich ihm oft gezürnt und bei mir gedacht: er thut unrecht: die Kraft, Dich in diesen Regionen zu halten, besitzt er nicht. Du mußt doch wieder zu der Wirklichkeit hinab, die Dir dann doppelt prosaisch und gemein erscheinen, Dich doppelt unglücklich und elend machen wird. Nun hat er mir Dich gegeben: Dich, Engel, der Du mir Deine Flügel leihest, mich so weiter und immer fort zu tragen durch den lichten Aether – Dein Lebenselement; und in dem ich nun leben werde mit Dir, durch Dich, solange dies arme Herz schlägt.

Das hätte vielleicht aus andrem Munde übertrieben und phrasenhaft geklungen; aber wenn es von diesen Lippen kam, welche die Schmerzen, die den zerrütteten Körper durchwühlten, zucken machten, da hatte es für Marie eine rührende Einfachheit, und sie wußte, daß, wenn je, hinter dieser enthusiastischen Seele im wesenlosen Scheine lag, was uns alle bändigt.

Und sie wußte noch ein andres, ein Fürchterliches; sie wußte, daß der Geliebte sterben würde.

Doktor Brunns von Tag zu Tag sorgenvollere Miene hätte es ihr nicht zu bestätigen brauchen. Der Verlauf von Ralphs Krankheit war bis in die kleinsten Einzelnheiten derselbe, den sie an jener Patientin im Augustahospital beobachtet hatte; und damals hatte Doktor Brunn in einem viel früheren Stadium der Krankheit gesagt – und die andern Aerzte hatten es bestätigt – daß ein tödlicher Ausgang unabwendbar sei. Auch versuchte es der großgesinnte Arzt ihr gegenüber nicht einmal mit dem trostlosen Trost: man müsse der Natur vertrauen; die Wissenschaft habe sich schon bei weniger komplizierten Fällen geirrt. Wenn ihre und seine Augen sich begegneten, waren es die Blicke von zwei Menschen, die um ein trauriges Geheimnis wissen.

Ein Geheimnis, das ihres bleiben mußte jedenfalls vor den Augen des Vaters. Er hätte es nicht ertragen, die Verklärung seines Lebensabends, die ihm die Verbindung der beiden geliebten Kinder war, so bald in des Todes öder Nacht verlöschen zu sehen. Keinesfalls hätte er das dankbar-hoffnungsvolle Lächeln bewahrt, mit dem er die andern anblickte, so oft eine jener scheinbaren Besserungen in dem Zustand des Kranken eintrat. Und Ralph selbst?

Wer in den Stunden, in welchen er von den Folterqualen aufatmen durfte, seine leuchtenden Augen sah; der Rede lauschte, die dann, geistreich und heiter, von seinen Lippen floß; sich mit fortgetragen fühlte von seiner Phantasie, die weit ihre Flügel spannte und in goldne Zukunftsmorgenröten strebte – dem wilden Schwane gleich, der aus der Nacht, die sein Fittich durchrauscht hat, dem Glanz des kommenden Tages entgegen eilt – er mußte glauben, daß in dieser lichten Seele die dunkle Todesahnung keinen Raum finde; geschweige denn die finstre Gewißheit des nahen Endes. Selbst des Arztes Auge, das in den Rätseln der Menschenseele zu lesen gewohnt war, hatte auch nicht das kleinste Zeichen entdecken können, welches auf das Gegenteil deutete; für Marie war es eine trauervolle Beruhigung gewesen, daß sie die ungeheure Last der schrecklichen Gewißheit ohne den ahnungslosen Geliebten allein zu tragen habe.

Ein Wahn, aus dem sie dann doch geweckt werden sollte.

Es war in einer Nacht, die schlimmer begonnen hatte, als alle vorhergehenden. Der Kranke war von entsetzlichen Schmerzen, fürchterlichen Beängstigungen gequält worden, die endlich, als schon der Morgen graute, den angewandten heroischen Mitteln hatten weichen müssen. Doktor Brunn, der seit vier Stunden am Bett gesessen, war gegangen; der Vater hatte sich, von Müdigkeit überwältigt, in dem Nebenzimmer auf das Sofa geworfen; Marie, deren stählerne Kraft die Liebe unverwüstlich machte, wachte allein bei dem Geliebten. Er hatte wohl eine Viertelstunde regungslos dagelegen. Plötzlich öffnete er die Augen, sah sie mit einem wundersam feierlichen Blicke an und sagte, die Hand, die längst schon in der seinen ruhte, sanft drückend:

Ich habe es erst vor mir selbst verbergen wollen und mich und Euch mit Sorgen um eine Zukunft gequält, von der mir doch die innere Stimme sagte, daß sie niemals kommen werde. Verzeihe mir! Und laß den Vater noch so die paar Tage weiter träumen: zu träumen war ihm von je so süß. Dir, Geliebte, sage ich nichts, was Deine liebe Seele nicht bereits wüßte: es ist für mich keine Rettung – ich gehöre zu dem selig-unseligen Stamm der Asra, welche sterben, wenn sie lieben. Ich habe es immer gewußt und bin die Liebe geflohen, wie ein homerischer Krieger vor der Göttin flieht, die ihn über das Blachfeld scheucht. Vor den Göttern ist kein Entfliehen. Du tratest vor mich – da gab es keinen Ausweg mehr – mein Los war besiegelt. Mich kann ich ja nur selig preisen. Zu sterben in der Liebe herrlichem Aufglühen, das heißt: sterben, wie der Prophet auf Horebs Höhen. Aber Du, meine wonnesame Braut, mein holdes Weib – die Du nun so weiter leben sollst, wie wirst Du es tragen ohne die Hoffnung des Wiedersehens, mit der nur Kinder sich täuschen können? mit nichts von mir, das bliebe, außer der Erinnerung in Deinem Herzen? Geliebte Seele, bei dem Gedanken daran müßte ich verzagen, hielte mich nicht eines aufrecht: der feste Glaube an Deine Geistesstärke, für die alles Vergängliche nur ein Gleichnis ist. Unsre Liebe hat nichts zu schaffen mit Raum und Zeit – ein Augenblick im Paradiese und eine paradiesische Ewigkeit, das kann doch nur ein Unterschied in Thorenaugen sein. Und wäre dieser Augenblick mein letzter – ich war Dein, Du warst mein – dazu können Aeonen nichts hinzu-, davon nichts hinwegthun. Sag mir in einem Kuß, Geliebte, daß Du denkst wie ich! Und wortlos, thränenlos – entrückt in ein Reich wunschloser, verklärter Geister, neigte Marie ihr Angesicht auf des Geliebten Angesicht und drückte ihre Lippen auf die seinen.


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