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Die Schandrose

Die wunderschöne Anna vom Bühl, der Witwe Kind,
Sucht mit den Augen am Boden und tut, als wäre sie blind.

Die finkenhelle Stimme erstarb wie ein scheuer Traum,
Und sagt man ihr »Guten Morgen«, so ist's, als dankte sie kaum.

Die sonst mit dem goldensten Lachen alle Tage überstreut,
Ist wie ein Rosengarten über Nacht mit Schnee beschneit. –

Da schwirrt's durch die Gassenstuben: Wißt ihr's von ihrer Schmach?
Sie lief den Patrizierssöhnen ins Karnevalstoben nach!

Da tollte sie mit den Stolzen und muß nun in Schande gehn. –
Und durch die Stadt erdröhnt es: Am Pranger soll sie stehn! – –

Und wie eine matte Ranke, die man vom Stocke schnitt,
Die Blassende am Pranger in ihre Stricke glitt.

Sie hörte nicht die Lieder, die man auf sie gemacht,
Sie dachte nur des einen aus der funkelnden Wundernacht.

Des einen, den sie liebte, um den sie dorthin gemußt.
Ihre Augen fielen nieder auf die Rose an ihrer Brust.

Die die sittigen Nachbarstöchter ihr rot aufs Schandkleid genäht,
Die sie tragen muß heute und immer, bis sie zu Grabe geht. –

Und das brodelnde Johlen versummte, und der Henker band sie los.
Und sie schritt wie in hoher Freiheit, ihre Augen gingen groß. –

Und sie nahm ihr Kind, wie von Lauben man eine Knospe nimmt,
Und nährte es still an den Brüsten, darüber die Schandrose glimmt.

Und sie stickte aus grünen Seiden Ranken und Blätter daran,
Daß man bald – so lieblich umsponnen – die Schmach nicht mehr sehen kann.

Und die ihr süßes Feuer einsargend zugedeckt,
Hat aus dem getretnen Herzen inbrünstige Flammen geweckt.

Sie trug in die ärmsten Stuben, in die schluchzende, graue Pein
Ihrer Augen Glanz und der Stirne strömende Milde hinein.

Ihre Stimme ward frühlingshelle, als brächte sie Veilchen ans Licht,
Und wo ihre Hände kühlten, da schmerzten die Wunden nicht.

Und es war, wenn sie so gegangen, als ob sie Lilien trug,
Davon ein weißer Schleier sich über die Schandrose schlug.


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