Maximilian Schmidt
Hančička das Chodenmädchen
Maximilian Schmidt

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VII.

Hančička wurde durch den Klageruf eines von einem Habicht verfolgten Vogels plötzlich aus ihrem festen und gesunden Schlummer aufgeweckt. Es dämmerte bereits im Walde, und mit Entsetzen gewahrte sie, daß sie allein sei und die Wallfahrer längst fortgezogen sein mußten. Eine namenlose Angst überfiel sie. Ohne sich lange zu besinnen, lief sie auf dem Waldpfade der Richtung zu, welche die andern genommen haben mußten. Doch bemerkte sie in [ihrer Verwirrung nicht,] 61 daß sie in einen Seitenpfad eingelenkt hatte, auf welchem sie zu einer Anhöhe gelangte, die einen weiten Ueberblick über einen Strich wilden, öden, sumpfigen Moorlandes gewährte, in welchem steinige Hügel mit moosigen Flächen wechselten und hie und da dunkle Pfützen sich zeigten. Ein kaum erkennbarer Weg wand sich schlangenartig durch diese Wildnis. Hančička folgte diesem. Sie schrie oft laut um Hilfe, aber niemand antwortete ihr; nur das Echo ihrer eigenen Stimme tönte manchmal schaurig zurück. Die darauf folgende Grabesstille war nur um so entsetzlicher.

Schon war die Dämmerung der hereinbrechenden Nacht gewichen, aber der Mond leuchtete am Himmel und zauberte phantastische Gebilde in die nächtliche Waldlandschaft.

Das Mädchen glaubte nach langer, hastiger Wanderung endlich einen breiten Waldpfad vor sich zu haben und eilte, so schnell als möglich, denselben entlang. Er führte in der That aus dem Walde hinaus, und Hančička stieß einen Freudenruf aus, denn in der Nähe erblickte sie das erleuchtete Fenster eines Hauses.

Das Mädchen eilte darauf zu. Aus der Richtung desselben näherten sich zwei Männer in eifrigem Gespräch, denen in einiger Entfernung ein dritter folgte.

Hančička atmete erleichtert auf. Nun konnte sie Auskunft und Hilfe erlangen.

Aber neuer Schrecken erwartete sie.

Die vom Wein etwas bekneipten Burschen waren erst überrascht, von einem allein daher eilenden, böhmischen Mädchen um Auskunft angegangen zu werden, dann aber glaubten sie sich unziemliche Spässe mit der Kleinen 62 erlauben zu dürfen, und einer wagte sich an sie, um ihr mit Gewalt einen Kuß zu rauben.

Hančička schrie vor Angst laut auf. Sie entwand sich dem Angreifer und lief auf den herankommenden dritten zu, ihn um Hilfe zu bitten.

»Deandl, wem g'hörst denn?« fragte dieser.

»'n Schloßbauern von Trhanow,« erwiderte das Mädchen. »Ich bin mit meiner Mutter wallfahrten gangen. Aber ich bin vom Wallfahrtszug abkommen und hab' mich verirrt. Helft mir heim, meine Eltern werden's Euch danken. Um Gotteswillen, steht mir bei!«

»Hellseiten!« rief der Bursche. »Ja kennst mi denn nöd, Hančička? I bin ja der Waldbauernfranzl, mit dem's d' beim Drachenstich beisamm gwen bist.«

»Franzl, du?« rief Hančička und sandte einen dankbaren Blick zum Himmel, der ihr zur rechten Zeit den Helfer geschickt.

»Verlaß di nur auf mi; es g'schieht dir nix!« sagte dieser und wandte sich dann zu den Burschen mit den Worten: »Laßt's dös Deandl in Fried. Sie is unter mein' Schutz. Macht's, daß's weiter kömmt's!«

Die Burschen lachten und machten einige lustig sein sollende Bemerkungen, dann gingen sie aber doch ihrer Wege.

»Fürcht di nöt, Deandl,« sagte Franz, »mei' Hof is ganz in der Näh. Da fehlt dir nix d' Nacht über und morgen früh wirst richti hoambracht. Brauchst di nöd z' fürchten.«

Hančička hatte die Hand des Burschen erfaßt.

»Aber ich möcht' heut noch heim,« rief sie. »Meine Eltern wissen gar nicht, was es mit mir ist.«

63 »'s Hoamgehn mußt dir für heut aus'n Kopf schlagn,« meinte der Bursche; »aber deine Eltern lassen ma Botschaft zuakömma – wenn's nöd anders geht, mach i selm no' den Weg, 's wern guatding zwoa Stunden sein. Z'erst aber führ i dich hoam zu meiner Ahnl. Da bist guat aufg'hoben. Siehgst, dort leucht' uns 's Liacht schon entgegen von mein' Hof, also verhalt ma uns nöd länger.«

Hančička hatte keine andere Wahl, als dem Burschen zu folgen.

Die beiden andern Burschen hatten sich noch in der Nähe gehalten. Es ärgerte sie, daß ihre Landsmännin sich der Obhut eines Bayern anvertraute. Dazu hielten sie das Chodenmädchen für eine Czechin, und als Deutschböhmen hatten sie eine Abneigung gegen alles, was czechisch war. Sie wagten es zwar nicht mehr, dem Mädchen nahe zu kommen, sondern folgten nur in kurzem Abstande dem rasch voranschreitenden Paare. Doch konnten sie es nicht unterlassen, laut ihre Glossen zu machen und Franz den Spottnamen »Bayernfack!« zuzurufen. Sie waren in bester Laune, noch einmal mit ihm anzubinden, Aber der junge Bauer that einen gellenden, weithin hallenden Pfiff, auf welchen hin sofort aus seinem Hofe ein großer Fanghund mit freudigem Gebell herangesprungen kam. Um sich seiner Liebkosungen zu erwehren, rief ihm Franz ein »Kusch dich, Sultan!« zu, worauf der Hund gehorsam auf dem Fuße nachfolgte.

Hančička schmiegte sich furchtsam an ihren Begleiter, aber Sultan belästigte sie nicht. Dagegen waren ihre beiden Verfolger verschwunden. Sie schienen einen andern Weg eingeschlagen zu haben.

»Kennst du die Burschen?« fragte das Mädchen.

64 »Es scheinen Leut von der Dampfsäg drent z'sein,« meinte Franz. »G'merkt hon i mir's, daß i's wieder erkenn'. No', mei' Ahnl wird schaug'n,« fuhr er dann fort, »wenn ma unverhofft glei zu zwoat kömma. Woaßt, i kimm' grad aa erst wieder hoam. I war die ganz' Zeit drent im Künischen, seit wir uns in Furth gsehgn ham.«

Hančička erzählte nun auch ihrerseits, was sich seitdem zugetragen, von der Verwundung ihres Vaters und von dem Wallfahrtsgange nach Neukirchen.

Franz war über den angeblichen Raubanfall auf Soukup sehr empört und meinte:

»Wird ja dengerst so a Lump nöd frei ausgehn! Dös is ja a Schand für unser ganze Gegend.«

Sie waren inzwischen beim Waldbauernhofe angekommen. Die alte Großmutter, welche unter der Eingangsthüre stand, rief erfreut:

»Ui Gottes! Ui Gottes! Bist es denn, Franzl?«

»I bin's scho', Ahnl,« rief der Bursche entgegen;»und da bring i glei no' wen mit, 's Deandl vom Schloßbauern z' Trhanow, dös si' vergangn hat. Sie wird für d' Nacht unser Gast sein, d' Hančička. Woaßt, die hat dir die süßen Zelten g'schickt, die dir so g'schmeckt hab'n.«

»Ja, Deandl, grüß di Gott!« sagte die Alte, das Mädchen bei der Hand nehmend. »Kimm nur glei eina in d' Stuben. Du zitterst ja förmli – unter unserm Dach hast nix z'fürchten. Dein' Vatern und dei' Muatta kenn' i guat. Wie geht's eam denn, dein' Vatern? Gel, er is wieder auf der Besserhand? Wenn's 'n nur kriegeten, den Schandbuam, der 'n so herg'richt' hat! Aber nix is so fein g'spunna, es kimmt an d' Sunna!«

Sie hatten während dieses Gespräches den Hof 65 durchschritten und waren in die Wohnstube eingetreten. Nun erkundigte sich die Alte bei Franz nach dem Befinden des Vetters und berichtete, daß der Waldhofbauer in Kubitzen sei und wahrscheinlich, wie gewöhnlich, spät heimkomme.

Hančička hatte inzwischen wieder zu weinen angefangen. Sie dachte an die Angst der Eltern; die Sehnsucht nach Hause quälte sie. Sowohl die Großmutter, als Franz suchten das Mädchen, dessen Gesichtszüge sie jetzt erst beim Scheine der Lampe erkennen konnten, zu beruhigen und zu trösten; die Großmutter hieß Hančička auf dem alten, mit Leder überzogenen Sofa Platz nehmen und ging in die Speisekammer, um einen kleinen Nachtimbiß herbei zu holen. Mit demselben zugleich stellte sie eine Flasche Bier auf den Tisch, die Franz sofort entkorkte und den beiden Frauen einschenkte. Auch für sich füllte er ein Glas. Dann stieß er mit denselben an.

»Daß d' nur wieder da bist, mei' Franzl,« sagte die Großmutter, vergnügt dem Enkel die krausen Haare streichelnd; »'n Vater wird's aa g'freun. Hat di scho' irr gangen, meiner Seel!«

Das gutmütige und vergnügte Wesen der alten Frau wirkte äußerst beruhigend auf das fremde Mädchen. Es zeugte überhaupt alles hier im Hause von Wohlhabenheit und Zufriedenheit. Die Stube war sehr reinlich gehalten, selbst der in dieser Gegend meist schwarzgetäfelte Holzplafond war hier weiß übertüncht. An den Wänden hingen auf Glas gemalte Heiligenbilder, der Hausaltar in der Ecke über dem großen Tische war wohl mit Blumen gepflegt und über dem Tische selbst schwebte in einer Glaskugel der heilige Geist. Das Mobiliar zeigte buntgemalte 66 Blumen auf blauem Grunde. Tisch, Bänke und Boden waren tadellos blank.

Den ersten Knecht, der nach Hause kam, rief der junge Bauer in die Stube und trug ihm unter Ueberreichung eines namhaften Trinkgeldes auf, sofort und ohne Aufenthalt nach dem Chodenschlosse zu eilen und dort anzuzeigen, daß Hančička hier am Hofe wohl geborgen sei. Es ward ihm erlaubt, dort zu übernachten und mit dem Fuhrwerke, welches Hančička morgen hinüberbringen würde, zurückzukehren. Letztere gab ihm Grüße an die Eltern mit und der Bote machte sich ungesäumt auf den Weg.

Jetzt war Hančička getröstet und ihre natürliche Fröhlichkeit kehrte zurück. Aufmerksam lauschte sie den Worten des jungen Bauers, der, nachdem er seinen Janker ausgezogen, nun in schneeweißen Hemdärmeln am Tische saß und der Großmutter erzählte, wie's drüben bei dem künischen Freibauern stünde. Die Ahnl stammte selbst aus jenem Freibauernhofe, darum interessierte sie alles, selbst das kleinste und unbedeutendste Vorkommnis. Ihre Tochter hatte den Waldhofbauern, Franzens Vater, geheiratet und seit dem Tode derselben führte sie auf dem Hofe die Wirtschaft. So war sie ins Bayerische gekommen und nun ward sie des Fragens nicht müde nach den Zuständen in der alten Heimat.

Aber während Franz die Wißbegier der Alten befriedigte, vergaß er auch nicht, den kleinen Gast nach Möglichkeit zu unterhalten. Er brachte dem Mädchen lange Schnüre mit Glasperlen, die er sich als kleiner Bub gesammelt, und da es Wohlgefallen daran fand, schenkte er ihm dieselben. Dann machte er mit Hančička ein paar Spiele auf der Zwickmühle und da sie immer heiterer wurde, 67 holte er sein Röhrlpfeiferl und spielte manch heiteres Stückchen auf. Dies führte zum Gesang, das Röhrlpfeiferl wurde mit der Zither vertauscht. Franz sang zuerst allein einige Lieder und als er bemerkte, daß Hančička in den Refrain leise mit einstimmte, forderte er sie auf, ebenfalls etwas zum besten zu geben.

Das brachte sie durchaus nicht in Verlegenheit und sie sang mit sehr klangvoller Stimme erst mit czechischem, dann mit deutschem Texte folgendes Lied:

»Flog ein Täubchen ob dem Hofe
Herrenlos daher,
Und es weinte, und es klagte,
Daß ich dich verlör'!
Ruhig, wein' nicht, Aennchen mein,
Finde bald mich wieder ein,
Ja, will's Gott, freu'n wir uns wieder
Im Beisammensein.«

Franz sang die letzten Zeilen des deutschen Textes mit. Das schöne Lied schien ihm zur gegenwärtigen Lage des Mädchens sehr zu passen und wäre dieses um etliche Jahre älter gewesen, er würde in der That die Versicherung eines baldigen Wiedersehens mit Freuden gegeben haben. Aber dennoch sang er nochmals sehr warm und deutlich:

»Ruhig, wein' nicht, Aennchen mein,
Finde bald mich wieder ein,
Ja, will's Gott, freu'n wir uns wieder
Im Beisammensein!«

»Höllsaxendi!« rief jetzt der von ihnen unbeachtet eingetretene Waldhofbauer, »dös is ja grad a Pracht! Da kann ma' si' ja gar nöd gnua lusen (hören)! Aber aa nöd gnua schau'n!«

68 »Du brauchst nöd übel vom Bauern z' denken, wenn er ebba a bißl antrunken is,« sagte die Ahnl zu dem jungen Mädchen. »Beim Viehhandel wird viel g'red't und viel trunken; aber er is dabei alleweil kreuzfidel. Kümmer di also nöd drum, wenn er mehr red't, als er verantworten kann. Wir gehn eh bald mit anand ins Bett. I hab' dir in meiner Kammer a Liegerstatt herrichten lassen, da kannst ruhig schlafen, und morgen früh fahrt di der Franzl zu deine Eltern hoam.«

Franz war in den Stall gegangen, um das Pferd zu versorgen, mit welchem der Vater gekommen. Dieser aber trat zum Tische und rief:

»Meiner Seel, da is ja dös verflogne Vögerl, dös in der ganzen Gegend g'suacht wird! In Kubitzen sitzen zwoa Abg'sandte drent, die di suachen soll'n, aber alle zwoa ham's auf (zu viel getrunken) und leg'n si' lieber aufs Heu, als daß 's Kind vom Bauern suachen. Ueberhaupts, die ganz' Welt is heunt b'soffen – a liaderliche Welt! Nu, mi gfreut's, daß d' bei uns aufg'sessen bist, da bist guat aufg'hoben. Also grüß di Gott tausendmal!«

Hančička war von ihrem Platze aufgestanden und reichte dem Bauer die Hand zum Gruße.

»Und woaßt denn, wie's 'n Vater geht?« fragte dieser.

»Gottlob, es geht ihm wieder ganz gut,« erwiderte das Mädchen.

»So, so? Hm, hm! Na ja –« der Bauer schnupfte, nochmals dabei überlegend, ob er die schlimme Nachricht, die er von den Leuten vernommen, der ahnungslosen Tochter mitteilen solle.

»Deshalb sind wir ja nach Maria Neukirchen gewallfahrtet, weil es dem Vater so gut geht,« erklärte diese.

69 »Von mir braucht's es nöd zu erfahren,« dachte er; dann fragte er:

»Hast fein aa bet', daß 's an Tag kimmt, wer dös Verbrechen begangen hat?«

»Darum nicht,« bekannte Hančička.

»Nu,« meinte der Bauer, »wenn's a Gerechtigkeit giebt, so därf der Lump nöd leer ausgeh'n!«

»Dazua sag' i Amen,« versetzte Franz, der soeben wieder in die Stube trat.

Jetzt mahnte die Großmutter, daß es an der Zeit sei, zu Bette zu gehen. Hančička war sofort dazu bereit. Sie dankte Franz noch einmal für seinen Beistand, sagte dem Bauern gute Nacht und folgte der alten Frau in die Schlafkammer, wo sie für sich ein gutes, frisch überzogenes Bett vorfand, in welchem sie bald der Ruhe pflegte. Die Erlebnisse des heutigen Tages waren so mannigfaltiger Art gewesen, daß sie noch jetzt nicht klar war, ob die angenehmen oder die schreckenerregenden die Oberhand behielten. Sie hatte ihr Nachtgebet verrichtet und war im Einschlafen begriffen, als sie unter ihrem Fenster die Melodie des von ihr gesungenen Liedes auf dem Röhrpfeiferl nachblasen hörte. Aber während sie noch lauschte, übermannte sie der Schlaf; doch das Bild des jungen Burschen, der sie so männlich in Schutz genommen, begleitete sie hinüber in das Zauberreich der süßen Träume. 70


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