Maximilian Schmidt
Hančička das Chodenmädchen
Maximilian Schmidt

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VI.

Der Chodenzug hatte sich wieder auf die Wanderung gemacht, ohne weiteren Aufenthalt ging es Böhmisch-Kubitzen zu. Auf der aussichtsreichen Höhe ward beim Erblicken des nun fernen Wallfahrtsortes der Himmelsmutter nochmals ein andächtiger Gruß zugesandt, und inbrünstig wurden die Amulette und Bildchen geküßt, welche die Angebetete darstellten.

Der doppelkuppige Osser und der langgestreckte Hohenbogen standen in herrlicher Abendbeleuchtung, namentlich prangte der letztere in einem wunderbar dunkelvioletten Kleide. Aus der Ferne grüßte der König des Waldes, der Arber. Ueber dem zur Seite gelegenen Gebirgszuge des Czerkow hatten sich bereits die Schatten gelegt, während der Himmel in allen Tönen von rot und gelb erglänzte. Es war ein bezaubernder Anblick, der manchem der Wallfahrer einen freudigen Ausruf entlockte.

Nur eine der Chodenfrauen hatte für die Herrlichkeit der Natur keinen Blick, besorgt durcheilte sie die verschiedenen Gruppen, überall fragend, wo ihre Hančička sei. Die Mutter hatte sich seit dem Aufbruche von der letzten Rast nicht mehr um ihre Tochter umgesehen, da diese meist mit den übrigen Kindern hinter dem Vorsinger Jirka marschierte. Frau Soukup war eine der letzten gewesen, die sich mit einigen anderen Frauen auf den Weg 55 machte, und sie hatte keine Ahnung davon, daß das Töchterchen nicht mit den anderen fortmarschierte, sondern schlafend im Walde zurückgeblieben war.

»Hančička! Hančička!« hallte es jetzt von ihrem Munde. In stets wachsender Angst durcheilte sie die Reihen; niemand wußte von dem Mädchen. Nun fing es bereits zu dämmern an. – Wo war das Kind? Mehrere ihrer Bekannten trösteten die Mutter und erboten sich, zurückzugehen, um Hančička zu suchen. Da aber berichtete Jirka, einige der Wallfahrer hätten auf der Wasserscheide nur kurze Rast gemacht und wären dann nach Trhanow vorangeeilt. Bei ihnen wären mehrere Kinder gewesen, und Hančička sei sicherlich unter diesen.

Die Mutter beruhigte sich ein wenig durch diese Aussage. Vielleicht hatte die Sehnsucht nach dem Vater des Mädchens Schritte beflügelt. Andere Mütter gaben ihr überdies die trostreiche Versicherung, daß ihre Kinder ebenfalls nach dem Heimatsdorfe vorangeeilt wären. So ging Hančičkas Mutter denn mit den andern weiter, obwohl ihr das Herz unendlich beschwert war. Sie hatte nun keinen Sinn mehr für die goldenen Abendwolken und den im Osten heraufsteigenden Vollmond, sie beteiligte sich nicht mehr am Gesange, selbst nicht, als er am Eingange ihres Pfarrdorfes zum letztenmale angestimmt wurde, und die Kirchenglocken den Wallfahrern zum Willkommen entgegentönten. Im Gegenteile löste sie sich jetzt vom Zuge und lief mit wieder wachsendem Bangen ihrem Heim zu.

Eine Magd kam ihr bestürzt entgegen.

»Ist Hančička daheim?« war ihre erste Frage.

»Noch nicht,« antwortete die Magd. »Aber der Bauer 56 ist letzer (kränker) worn, die Wunden ist wieder aufbrochen und hat stark geblutet. Jetzt ist der geistliche Herr bei ihm.«

Der Bäurin brachen vor Schreck die Kniee. »Himmlischer Vater!« rief sie und eilte, so schnell sie es vermochte, dem Hause zu.

»Schau dich um Hančička um,« rief sie der Magd noch zu, »bring sie heim, aber schnell! Sie ist vielleicht in der Kirche beim Segenspenden. Laus, bring sie heim!«

Dann eilte sie in die Krankenstube, um hier neuem Jammer entgegen zu gehen.

Der Geistliche erhob sich bei dem Eintritte der Frau und gab ihr ein Zeichen, leise zu sein.

»Wie steht's mit meinem Manne, Hochwürden?« fragte sie zitternd vor Erregung.

»Gut, daß Ihr endlich da seid!« erwiderte der Pfarrer. »Schlecht ist's ihm gegangen. Heute Mittag hat sich der Stier im Stalle losgemacht, und weil der Hansl, den der Bauer nach Kauth geschickt hatte, nicht da war, machte sich Soukup selbst daran, das Tier wieder an die Kette zu legen. Dabei hat er sich aber zu sehr angestrengt, sodaß an der Wunde die Nähte rissen und er sich beinahe verblutet hätte. Gottlob! der Doktor hat die Sache wieder repariert, so gut es ging. Das Wundfieber hat sich nun auch wieder gelegt, und seit einer Viertelstunde schläft er. Weckt ihn nicht!« mahnte er, als die Bäuerin Miene machte, in lautes Weinen auszubrechen. »Ihr wäret besser zu Hause geblieben.«

»Mein Gott, wie konnt' ich das ahnen!« jammerte die arme, gequälte Frau. »Die Himmelsmutter in Neukirchen hat mein Verspruch g'habt, sie allein hat g'holfen und – sie wird auch weiter helfen!«

57 »Liebe Frau, die Himmelsmutter will nicht, daß man seine heiligsten Pflichten darüber versäumt und eine mehrtägige Reise zu einer entfernten Gnadenstätte macht, wenn der Mann daheim krank liegt und der Pflege bedarf. Euer Gebet im stillen Kämmerlein, Euer Glaube und Euer Vertrauen findet überall Erhörung, wenn es im Willen des Höchsten nicht anders bestimmt ist. Aber wo ist Hančička?« fragte er jetzt, sich umschauend. »Der Vater fragte schon wiederholt nach ihr.«

»Weiß nicht!« entgegnete die Frau, hastig Atem holend. »Die Dirn sucht nach ihr in der Kirche.«

Sie hatte sich inzwischen ihres Kopftuches und des Packes entledigt, den sie am Rücken getragen, und sich sachte dem Bette des Schlummernden genähert. Sein Antlitz war totenbleich, der Atem kurz und stoßweise, hin und wieder drang ein undeutlicher Laut aus seinem Munde. Es war klar, er lag noch im Fieber.

»Jan!« rief die Frau in ihrem Schmerze – »mein Jan!«

Der Bauer schlug die Augen auf, sein Blick traf sein Weib.

»Wo ist Hančička?« fragte er.

»Sie wird kommen! Aber wie ist dir?«

»Schlafen,« lautete die Antwort. »Wenn Hančička kommt, wecke mich.« Und er schloß die Augen wieder.

»Weckt ihn nicht mehr,« versetzte der Pfarrer. »Der Schlaf wird ihm gut thun; er bedarf der Ruhe. Unser Herrgott wird's zum Guten ändern!«

Er entfernte sich. Die Bäurin gab ihm das Geleite bis an die Hausthüre. Eben kam die nach Hančička ausgeschickte Magd zurück.

58 »Hančička?« fragte die Mutter.

»Nirgends zu finden!« lautete die trostlose Antwort.

»Sie war doch bei den Kindern!«

»Sie wollen sie seit der letzten Rast im Grenzwalde droben nicht mehr gesehen haben,« berichtete die Dirn.

Die Mutter mußte sich an dem Thürpfosten anklammern, um bei dieser neuen Schreckensbotschaft nicht umzusinken.

»Heilige Mutter von Neukirchen!« rief sie, »auf dich hab' ich gehofft und du schickst mir ein Unglück größer, als das andere!«

»Laßt die Heilige aus dem Spiel,« versetzte der Pfarrer. »Da ist jetzt nichts zu machen, als Boten auszuschicken und das Mädchen suchen zu lassen. Es hat sich wahrscheinlich im Walde verirrt. Wir haben keinen Urwald, und Bären giebt es auch nicht mehr; sie wird sich herausfinden und vielleicht, wenn auch auf Umwegen, bald heimkommen.«

»Aber es ist ja schon Nacht!« rief die Mutter verzweiflungsvoll.

»Auch in der Nacht wacht der Herr über uns!« tröstete der Geistliche. »Ihm wollen wir vertrauen und das unsere dazu thun. Geht jetzt zu Eurem Manne. Ich sorge, daß Hančička gesucht wird, und frage später nochmals an.«

Die Bäuerin küßte dem würdigen Manne unter heftigem Schluchzen die Hand, und während dieser dem Dorfe zuging, wankte sie ins Haus zurück.

Es waren qualvolle Stunden, die nun folgten. So oft der Bauer erwachte, fragte er nach Hančička. Man gab vor, das Mädchen sei sehr ermüdet und schon zu Bette. Noch in später Stunde erschien der Pfarrer, um sich zu 59 erkundigen, ob Hančička zurückgekehrt sei, denn auch bei ihm war keine Nachricht von ihr eingelaufen.

Die Mutter war trostlos. Aber der Priester tröstete, so gut er es vermochte und bat sie, auf den morgigen Tag zu hoffen und vor allem auf den Himmel zu vertrauen.

Zwischen Furcht und Hoffnung ließ er die Aermste zurück am Lager des Schwerkranken, voll namenloser Angst um ihr geliebtes einziges Kind. 60


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