Johannes Scherr
Die Pilger der Wildnis
Johannes Scherr

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18.

Das Stück ist aus, der Fürhang fällt –
Ade! und klatscht, wenn's euch gefällt.
Wenn's aber euch mißfallen tät',
So schließt uns ein in eu'r Gebet,
Daß Gott verleih' uns Kraft und Stärk'
Ein andermal zu besserm Werk.
Epilog zu einer alten Komödie.

Der geneigte Leser, welcher dem Gange unserer Geschichte bis hierher gefolgt ist, hat ohne Zweifel die Bemerkung gemacht, daß wir seiner Phantasie etwas zumuteten, mehr, viel mehr, als jene breitspurigen Erzähler zu tun pflegen, welche das Publikum mit dem kleinfügigsten Detail behelligen und der Meinung zu sein scheinen, ein Werk der Fiktion sei um so wertvoller, je dickleibiger das Volumen desselben. Da wir uns zu diesem Glauben nicht bekennen, so könnten wir unserer bisherigen Manier treu bleiben und es der Einbildungskraft des Lesers überlassen, unserer Erzählung den Schlußstein zu setzen. Dem widerstreitet jedoch unsere Achtung vor einem alten Brauche, welcher verlangt, eine Erzählung dadurch abzurunden, daß der Autor die Hauptpersonen derselben dem Leser noch einmal in Erinnerung bringe und über ihre Schicksale schließlich das nötige beifüge.

Thorkil und Lovely wurden einige Monate nach den zuletzt erzählten Ereignissen ein Ehepaar. Roger Williams vereinigte ihre Hände und segnete ihren Bund ein, dessen Innigkeit und Heiligkeit keine Prüfung des Lebens zu stören vermochte. Die Begründung einer Familie hat einen festen Wohnsitz zur Voraussetzung, und deshalb wurde Thorkil aus einem Jäger allmählich zu einem Farmer. Groot Willem trat seinem Adoptivsohn seine Vrolykheid ab, und so erblühte an dem Orte, wo die jungen Leute sich zuerst begegnet waren, das Glück einer reich gesegneten Familie, von welcher mehrere der geachtetsten Häuser Neuenglands mit dankbarer Pietät ihre Abstammung herleiten.

Lovelys Vrolykheid, wie Thorkil seiner Gattin zu Ehren seinen Wohnsitz nannte und wie der Ort bis zum Anfange des neunzehnten Jahrhunderts hieß, bot den beiden Obersten, welche mit über König Karl I. zu Gericht gesessen hatten, einen sichern Zufluchtsort. Die Verfolgung gegen sie erneute sich nicht mehr, da bald darauf in England Ereignisse eintraten, welche geschehene Dinge weit in den Hintergrund drängten. In ungestörter Zurückgezogenheit verbrachten die beiden Verschollenen noch eine lange Reihe von Jahren, sahen Enkel und Urenkel heranwachsen und hofften, täglich über den Geheimnissen der Apokalypse brütend, von Jahr zu Jahr auf die Wiedergeburt der Gemeinde Israel in ihrem Vaterlande. Der Aufenthalt dieser Männer in den Kolonien wurde nachmals der Gegenstand eines gewissen romantischen Interesses, welches noch heutzutage nicht ganz erloschen ist. Noch jetzt wird an zwei Orten der Neuenglandstaaten eine Höhle gezeigt, welche den Flüchtlingen zum Asyl diente und an beiden Orten unter dem Namen der Richterhöhle bekannt ist. Nachdem sie in der englischen Geschichte eine Rolle gespielt hatte, bemächtigte sich der beiden Obersten die amerikanische Sage, durch deren Dunkel jedoch einzelne historische Lichtblitze brechen. Ein solcher geschichtlich beglaubigter Zug ist das von uns erwähnte Erscheinen der beiden Männer bei einer der furchtbarsten Szenen in dem Trauerspiele, welches die Annalen Nordamerikas König Philipps Krieg betiteln.

In weit höherem Grade, als die beiden Königsrichter ihre phantastisch-apokalyptischen Hoffnungen in Erfüllung gehen sahen, sah der ehrwürdige Patriarch von Rhode-Island, Roger Williams, seine auf die Zukunft Amerikas gerichteten Erwartungen sich erfüllen. Denn seine segensreiche Laufbahn ging erst im Jahre 1683 zu Ende. Hochgeehrt von den Bewohnern des von ihm gegründeten Staates, geachtet und geliebt von allen, welche in nähere Berührung mit ihm kamen, starb er als rüstiger Greis von vierundachtzig Jahren. Auch Eaton erreichte ein hohes Alter; er sah sein Haus und die Ansiedelung Swanzey wieder aus ihren Ruinen erstehen, und seine ans dem Grabe der Schwester mit Groot Willem erneuerte Freundschaft erlitt keine Störung mehr, da die schwere Heimsuchung, welche über ihn gekommen, die Starrheit seines Charakters einigermaßen gemildert und ihn gelehrt hatte, daß Duldung den Glauben eher ziere als verunehre. Sein Andenken, wie das von Miles Standish, blieb leuchtend in der Reihe derer, welche die dankbaren Nachkommen der Pilger der Wildnis mit dem Ehrennamen der Pilgrimväter bezeichneten.

Der alte Willem blieb ein unsteter Waldläufer bis an das Ende seiner Tage. Er war ein häufiger Gast in Lovelys Vrolykheid, wo er der Abgott der Kinder wurde, aber stets blieb er nur Gast, und keine Bitte Lovelys und Thorkils konnten ihn vermögen, seinen vorübergehenden Aufenthalt in einen bleibenden zu verwandeln. Der Pater Blackstone, welchem er in den Schwächen des Alters redlichen Beistand geleistet hatte, vermachte ihm bei seinem Tode seine Siedelei, und da hatte es eine Weile den Anschein, als wollte Willem sich seßhaft machen. Aber bald wich er vor der heranrückenden Kultur weiter in die westlichen Wälder zurück. Er gehörte mit zu den ersten der kühnen Abenteurer, welche der Zivilisation, wenn auch oft unfreiwillig, die Wege bahnend, das Alleghany-Gebirge überschritten und in das Tal des Ohio hinabstiegen. Auf den Grenzen zwischen den Ansiedelungen der Weißen und den Jagdgründen der Indianer des Westens gingen noch lange nachher Sagen um von dem riesenhaften, einohrigen Jäger, der, fast ein Hundertjähriger, durch Kühnheit und gerechten Sinn beiden Völkern Hochachtung abgenötigt hatte. Drei Jahre lang nach seinem letzten Erscheinen in ihrem Hause hatte die Familie, deren Begründern er ein so treuer Freund gewesen, nichts mehr von ihm gehört. Da sprach eines Tages ein Pelzhändler, der aus dem Westen kam, bei ihr ein und überbrachte Thorkil das Roer Willems. Es war der letzte Gruß des biedern, einfachen, hochsinnigen Waldgängers. Er war gestorben in den Wäldern, die er so sehr geliebt hatte.

Das Schicksal De Lussans und Desdemonas blieb den Bewohnern von Lovelys Vrolykheid verhohlen und verborgen. In ihren traulichsten Gesprächen gedachten Thorkil und seine Gattin oft des verschwundenen Paares, während die beiden Obersten desselben nie erwähnten, und an hundert und wieder hundert Morgen und Abenden richtete Lovely ihre Blicke auf die See, um vielleicht das Flattern der Segel der Gloria zu erspähen. Aber nie mehr zeigte das Schiff seine rote Flagge an diesen Küsten. Auch wir wären in Verlegenheit, noch eine Spur des romantischen Paares aufzufinden, hätte nicht der Flibustier in den Büchern der Geschichte ein Zeugnis seines Daseins hinterlassen, ein Zeugnis, welches aus einer späteren Zeit stammt, als die Ereignisse unserer Erzählung.

Der Geschichtschreiber von Haiti, Charlevoix, meldet, daß in den achtziger Jahren des 17. Jahrhunderts der Gouverneur dieser Insel, De Cussy, die Flibustier aufforderte, eine Expedition nach der Südsee zu unternehmen, und fügt hinzu: »Dieser Zug bildet den Höhepunkt der Flibustiergeschichte.« Charlevoix' Erzählungen von ihren Abenteuern erinnern unwillkürlich an die sagenhafte Zeit der griechischen Geschichte, an den Argonautenzug und an den Trojanischen Krieg. Die Fahrten einer kleine Schar, welche unweit der Halbinsel Kalifornien Schiffbruch erlitt und, nachdem sie drei Jahre lang auf drei kleinen unbewohnten Inseln gelebt, in selbstgefertigten gebrechlichen Booten längs der Küste bis in die Magellansstraße hinabsegelte, von hier aber, einer sie plötzlich überkommenden Laune nachgebend, wieder nach den Küsten Perus umkehrte, um nicht mit leeren Händen in St. Domingo anzukommen, im Hafen von Arika ein mit den Schätzen Potosis beladenes Schiff eroberte, auf diesem südwärts segelte, in der Magellansstraße zum zweitenmal Schiffbruch litt, aber dennoch mit einem großen Teil ihrer Beute in einer Schaluppe, die sie aus dem Wrack des spanischen Fahrzeugs gezimmert, glücklich auf der Insel Kayenne anlangte – diese Fahrten hätten es verdient, einen amerikanischen Homer zu finden und in einer neuen Odyssee besungen zu werden; denn an Abenteuerlichkeit und buntem Wechsel der überstandenen Gefahren und Erlebnisse können sie sich dreist messen mit den fabelhaften Irrfahrten des schlauen Sohnes des Laertes oder auch mit denen Sindbads, des arabischen Odysseus in den Märchen von Tausendundeine Nacht. Die Heimkehr einer andern größeren Schar von 300 Flibustiern, welche ihre untauglich gewordenen Fahrzeuge verbrannten und sich quer über das Festland an 200 Meilen weit durch die Besitzungen der Spanier durchschlugen, erinnert lebhaft, selbst in vielen Einzelheiten, an den Rückzug der zehntausend unter Xenophon. In der ersten Estancia, auf welche sie stießen, fanden sie einen Zettel angeschlagen, in welchem die Spanier höhnisch ihre Freude darüber aussprachen, daß sie ihre Provinz zum Durchzuge nach der Heimat gewählt hätten, und nur bedauerten, daß sie nicht noch schwerer mit Gold beladen seien. So sicher glaubte man die kleine Schar zu haben. Wohin sie kamen, fanden sie alle Lebensmittel fortgeschleppt oder verdorben, die Savannen in Brand gesteckt und ihren Weg an schwierigen Stellen durch Verhaue gesperrt. Ein Beobachtungskorps folgte ihnen auf den Fersen, um ihnen bei guter Gelegenheit in den Rücken zu fallen. Zu wiederholten Malen hatten sie sich mit einem drei- und mehrfach überlegenen Feind zu schlagen, und immer warf ihn ihre tollkühne Tapferkeit. Hinter Neu-Segovia, daß die Spanier völlig verlassen und ausgeräumt hatten, fanden sie den einzigen Paß durch das steile Gebirge, welches die Stadt rings umgab, durch drei Verschanzungen und 1500 Mann gesperrt. Der Vorschlag ihres Anführers De Lussan, achtzig Mann zum Schutze der Kranken und Verwundeten gegen die 300 Spanier in ihrem Rücken zurückzulassen und mit den übrigen, was es auch koste, über die steilen Felsenwände und Abgründe des Gebirges hinweg die Stellung des Feindes vor ihnen zu umgehen und ihn im Rücken anzugreifen, schien anfangs unausführbar, wurde aber doch als einziges Rettungsmittel angenommen. Nachdem sie für die Zurückbleibenden schnell ein festes Lager aufgeschlagen, machten sich die zweihundert Abenteurer während der Nacht auf und erreichten nach unsäglichen Beschwerden die Höhen hinter der letzten spanischen Verschanzung, von der aus der Weg weiter führte. Die fünfhundert Mann, welche diese Verschanzung besetzt hielten, ergriff ein panischer Schrecken, als im Augenblicke des Sonnenaufgangs eine Salve in ihrem Rücken krachte und eine Menge von Leuten niederstreckte. Hastig flohen sie hinter die vorderste Schanze. Allein auch hier vermochten sich die Spanier, ihrer fünfzehnhundert gegen zweihundert, kaum eine Stunde zu verteidigen. Mit dem Säbel in der Faust drangen die Flibustier auf sie ein, warfen sie und drängten sie bis an die Verhaue, welche jetzt ihr eigenes Verderben wurden, denn während sie mühsam hinüberkletterten, streckte fast jede Kugel der Verfolger ein Opfer zu Boden. Unter den Gefallenen befand sich auch der General der Spanier. »Sind die Flibustier Menschen,« hatte er gesagt, als ihn vor dem Kampfe jemand fragte, ob er sich auch vor dem Umgangenwerden gesichert, »so sollen sie es wohl bleiben lassen, an uns vorbeizukommen; sind sie aber Teufel, so kann uns keine Verschanzung, kein Gebirge etwas helfen.« Und wirklich galten sie nach diesem bewunderungswürdigen Siege für Teufel, denen man nichts anhaben könnte. Wohlberitten auf Kosten der Spanier gelangten sie hinfort unangefochten bis an den Fluß Herbias, der sich beim Vorgebirge Gracias a Dios in den mexikanischen Meerbusen ergießt. Hier schifften sie sich ein auf Piperis, Flößen von leichtem Holze, die höchstens zwei Mann tragen, weil sie der vielen, oft eng zusammenstehenden Felsen und der zahlreichen Wasserfälle wegen, welche dieser Strom hat, nur schmal und klein sein dürfen. Nach einer gefahrvollen und beschwerlichen Wasserfahrt von 150 Meilen erreichten sie endlich das heißersehnte Meer, das auch sie mit Freudengeschrei begrüßten, wie einst die zehntausend Griechen der Anabasis Xenophons »Thalassa! Thalassa!« gejubelt hatten.

Dieser historische Exkurs enthält alles, was wir über De Lussan noch in Erfahrung zu bringen vermochten. Er beweist wenigstens, daß das glühende Trachten nach Ruhm, welches den Flibustier beseelte, ihm eine Stelle in der Geschichte Amerikas gesichert hat. Der romantische Nimbus, welcher ihn und seine Geliebte umgibt, wird durch die Ungewißheit über seinen und ihren Ausgang unseres Erachtens eher erhöht als gemindert.

Der entschiedene Sieg, welchen die Weißen in König Philipps Krieg erfochten hatten, sicherte ihnen für immer die herrschende Stellung gegenüber den ursprünglichen Besitzern des Bodens von Neuengland, welche, so viele deren der Krieg übrig gelassen, unter strenger Bewachung und harten Gesetzen in dumpfer Untätigkeit fortlebten, bis sie allmählich ausstarben. Leider müssen wir sagen, daß die Kolonisten ihren Sieg durch Grausamkeit befleckten. Es herrschte im Volke eine furchtbare Erbitterung gegen die roten Männer. Man traute keinem Indianer mehr, und ganz ernstlich wurde der Vorschlag gemacht, das ganze Geschlecht der Heiden auszurotten. Ein puritanischer Geistlicher, Inkrease Mather, welcher die Begebenheiten des Kampfes beschrieben hat, erwähnt die blutigsten Greueltaten der Weißen mit unverhohlenem Lob und sagt an einer Stelle: »Unsere Leute entschlossen sich, mit dem Beistande Gottes die Wilden gänzlich zu vertilgen.« Keinem Indianer, habe er sich freiwillig ergeben oder sei er zum Gefangenen gemacht worden, wurde mehr gesichert als das nackte Leben. Welcher aber überwiesen ward, an der Tötung eines Weißen irgendwie sich beteiligt zu haben, der mußte ohne Gnade sterben. Zu Boston und zu Plymouth floß das Blut einer großen Anzahl von Häuptlingen vom Schaffote. Scharen von Indianern wurden nach den Westindischen Inseln in die Sklaverei verkauft. Dies war auch das Los von dem gefangenen neunjährigen Sohne Metakoms. Die Geistlichkeit wurde befragt, was mit dem armen Kinde angefangen werden sollte, und es ist charakteristisch für den Geist der puritanischen Theologie, daß ihre Lehrer, indem sie mit den Beispielen Sauls, Ahabs und Hamans argumentierten, für den Tod des Knaben stimmten. Endlich wurde beschlossen, ihn als Sklaven zu verkaufen, und er verschwand spurlos. Man muß hierbei der strafenden Worte gedenken, welche in späterer Zeit einer der größten Amerikaner aussprach, der Worte Jeffersons: »Ich zittere für mein Volk, wenn ich den Ungerechtigkeiten nachsinne, deren es sich gegen die Eingeborenen schuldig gemacht hat.«

Die Kultur ist eine schonungslose Eroberin. Was sich ihr nicht zu assimilieren vermag, das vernichtet und verschlingt sie. Die Ureinwohner der westlichen Hemisphäre, in ihrer Masse der Zivilisation durchaus unfähig, mußten und müssen vom Erdboden verschwinden, um der angelsächsich-germanischen Rasse Raum zu gewähren. Diese hat mit einer Arbeits- und Tatkraft, wie sie ihr eigen, einen Freistaat von unerhörtem Wachstum geschaffen. Was auch in der Zukunft das Geschick dieses Staates sein mag, der weltgeschichtliche Ruhm, die Fundamente desselben gelegt zu haben, gehört für alle Zeit den »Pilgern der Wildnis«.

Ende.


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