Johannes Scherr
Die Pilger der Wildnis
Johannes Scherr

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4.

Und Ruth antwortete: Rede mir nicht davon, daß ich dich verlassen und von dir umkehren solle. Denn wo du hingehest, da will auch ich hingehen, und wo du bleibest, da bleibe auch ich. Dein Volk ist mein Volk, und dem Gott ist mein Gott. Wo du stirbst, dort sterbe auch ich, dort will auch ich begraben werden. Der Herr tue mir dies und das und noch mehr, wenn nicht der Tod allein uns scheiden muß.

Buch Ruth, 1, 15–17.

Wir machten die Bekanntschaft des Vater Blackstone, als er, reitend auf seinem Bukephalos, nach dem seither vom Verderben heimgesuchten Swanzey kam, um seinen Freund Eaton von seinen Beobachtungen und Befürchtungen in Kenntnis zu setzen.

Die Siedelei des Alten lag eine kurze Tagereise westwärts von Merry-Mount im dichtesten Urwald, welchem das Beil des Einsiedlers eine kleine Lichtung abgewonnen hatte. Seine Hütte, wie sie inmitten eines sorgfältig gepflegten Gemüse- und Obstgartens auf dieser Lichtung errichtet war, hatte etwas Trauliches zugleich und Malerisches. Man sah es dem Häuschen, dessen Wände hinter Baumspalieren verschwanden und dessen Dach das üppige Geranke wilder Reben mit einem dichten grünen Netz überzogen hatte, gleichsam schon von weitem an, daß es einem Menschen zur Heimat diente, welcher, wie mit sich selbst, so auch mit aller Welt in Frieden lebte. In einer Einfenzung zur Seite weidete Bukephalos in Gesellschaft des Pferdes, welches Lovely hergebracht hatte, sowie einer kleinen Kuh und einer ganzen Kolonie jener Murmeltiere der amerikanischen Savannen, welche man Präriehunde nennt. Am Eingänge des Häuschens lag, an einem Lederstrick angekettet, ein Wächter, wie er dieser Waldeinsamkeit wohl anstand, ein zahmer Bär, dem ein gezähmter Steinadler, welcher über ihm auf einer Stange saß, zur Gesellschaft diente. Ein junges Musetier, dessen stattliches Geweih zum erstenmal »schob«, lief frei umher und stutzte nur leicht, als jetzt Groot Willem, der im Walde gewesen, über die Lichtung auf die Hütte zuschritt.

Der alte Trapper war, wie alle Menschen, welche die Einsamkeit lieben, ein großer Freund von Tieren und sowohl er als sein Hund, der ihm auf den Fersen folgte, waren hier alte Bekannte. Der Bär erhob sich bei seinem Herannahen und wiegte sich mit freudigem Gebrumm auf den Hinterpfoten, der Adler schlug kreischend mit den Flügeln, das Musetier rieb sich den Hals am Arm des Jägers und schaute ihn mit seinen schönen braunen Augen zutraulich an, als er stillstand, um die ihm gegebenen Beweise von Freundschaft gebührendermaßen zu erwidern.

»Der Vater Blackstone,« sagte er bei sich, »führt doch mit seinen Tieren ein recht froliksames Leben. Wenn mir die Knochen einmal steif werden, muß ich trachten, mir tief im Walde auch so 'ne Art von Einsiedlerklause anzulegen, wahrhaftig, das muß ich. Und Tiere muß ich mir zur Gesellschaft zähmen,« fügte er hinzu, indem sich seine Züge verdüsterten, »denn mein lieber Junge wird sich, vermut' ich, sein eigenes Nest bauen wollen – ja, ja. Doch das ist Natur, und die muß ihr Recht haben.«

So trat er in das Haus und durch die Hintertür in den Garten, von woher er die Stimmen des Einsiedlers und De Lussans vernahm.

Die beiden saßen im Schatten eines Apfelbaumes, und der Flibustier hörte den Erzählungen seines Wirtes mit der Artigkeit eines wohlerzogenen Franzosen zu. Zugleich bemühte er sich, einem vor ihm stehenden Getränke, welches aus gegorenem Ahornsaft bestand und von dem Vater Blackstone als der Gesundheit höchst zuträglich gerühmt wurde, Geschmack abzugewinnen, was ihm aber nicht sehr zu gelingen schien.

»Nun, wie ist's?« rief er dem Ankömmling entgegen. »Bringt Ihr eine Bestätigung der Vermutungen unseres ehrenwerten Wirtes?«

»Vater Blackstone,« versetzte Willem, »ist in den Zeichen der Wälder zu erfahren, um sich in so etwas zu täuschen. Es ist etwas in den Forsten, Kapitän, was mich um des lieben Mädchens willen wünschen läßt, daß wir ungesäumt aufbrechen, um noch heute Fort Tabor zu erreichen. Es liegt ohnehin an unserem Wege, der uns nach Süden zu gegen die Landzunge von Mountaup hinabführt, wo wir den Nachrichten zufolge, die ich aus der höllischen roten Vettel auf Mount Wallaston herauspreßte, wißt Ihr – beim Duivel, 's war kein geringes Stück Arbeit! – die Leute finden sollen, welche wir suchen,« »Ihr glaubt also, wir seien hier nicht sicher?« »Wir? Bah, Kapitän, was uns angeht, so brauchen wir uns nicht zu fürchten. Aber das arme Kind, wißt Ihr, möchte ich, bevor die Nacht anbricht, hinter den Palisaden des Forts wissen. Es sind rote Krieger in den Wäldern und, wie ich glaube, auf unserer Spur. Wer kann sagen, was sie für eine Teufelei anrichten, wenn es erst Nacht geworden? Ich fürchte, wir haben eine große Unbesonnenheit begangen, daß wir uns in Providence nicht des grimmen Annawon zu versichern suchten. Er ist ein eingefleischter Teufel. Wir müssen fort, um des Mädchens willen. Die Sonne steht noch hoch genug, um uns mehr als die Hälfte des Weges zu leuchten. Ja, der verteufelte Annawon! Hätte den Burschen fassen sollen, sag' ich Euch, Kapitän. Metakom hat sicher schon lange Wind von dem, was in Providence vorgegangen, und weiß, wie wir jetzt zu ihm stehen. – Aber wo sind denn die Kinder?«

Der Seemann lächelte schelmisch, indem er sagte: »Sie waren gerade noch da. Ich sah das schöne Kind mit seiner Bibel dort hinausgehen, und Thorkil ist ihm gefolgt, wahrscheinlich um die Responsen des Gebetes herzusagen.«

»Wahrscheinlich hat er dem Mädchen den Wasserfall hinten bei den beiden Ulmen zeigen wollen,« bemerkte der gute Einsiedler arglos. »Es ist ein lieblicher Ort.«

»Wahrscheinlich, ja, sehr wahrscheinlich,« versetzte Groot Willem, indem sowohl er als De Lussan das Gesicht abwandten, um ihr Lachen zu verbergen. »Doch kommt, Kapitän,« setzte er hinzu, »wir wollen sie suchen, Während uns Vater Blackstone den Gefallen tut, das Pferd zu satteln.«

Der Kapitän folgte dem Trapper, welcher rasch den Garten durchschritt.

»Hört, Freund,« sagte De Lussan im Gehen, »ich will Euch einmal einen Beweis liefern, daß ich es in der bildlichen Ausdrucksweise der Eingeborenen dieses Landes schon ziemlich weit gebracht habe. Es kommt mir vor – foi de gentilhomme! – als sähe ich eine Blumenkette, deren eines Ende an dem Herzen unseres jungen Freundes, deren anderes Ende an dem Lovelys befestigt ist. Ist das richtig indianisch gesprochen?«

»Richtig indianisch und richtig menschlich. Aber was wollt Ihr, Kapitän? Das ist Natur, und ich war dabei, als die ersten Glieder dieser Kette geflochten wurden. 's war an dem Ort, welchen ich meine Vrolijheid zu nennen pflege, wißt Ihr? – Doch still,« fügte er bei, vor einem hohen und dichten Sumachgebüsche stehen bleibend, dessen Zweige er auseinandergebogen, um hindurchzuschreiten, »still, Kapitän, und seht dorthin.«

Der Flibustier brachte sein Auge an die kleine Öffnung in der grünen Wand, und beide Männer blieben regungslos stehen.

Seit Lovely gestern in der Siedelei angekommen, hatte sie mittels eines langen und tiefen Schlafes ihre physischen und psychischen Kräfte wiederhergestellt. Sowie sie sich nun im Vollbesitz derselben fühlte, drängte es sie, vor allem dem ihren Dank darzubringen, welcher ihrem innigen Glauben zufolge ihr die Freunde zur Hilfe gesandt, durch die sie im Augenblicke höchster Gefahr dem Verderben entrissen worden war.

Sie nahm daher das heilige Buch zur Hand und suchte einen stillen Platz, ihre Andacht zu verrichten. So ging sie durch den Garten und trat aus demselben in den Wald hinaus. Am Rande eines schmalen klaren Baches, der, aus der Tiefe des Forstes hervorkommend, die Gartenanlagen des Einsiedlers bespülte und unfern von der Siedelei den von Blackstone erwähnten Wasserfall bildete, ließ sie sich nieder und strömte, wie sie gewohnt war, ihren Dank gegen Gott mit den Worten der Bibel aus.

Und doch war, wohl zum erstenmal in ihrem Leben, die Seele des Mädchens nicht völlig und ganz bei dem, an welchen ihre Worte gerichtet waren. Wir schließen dies daraus, daß sie der leisesten Störung acht hatte, einer Störung, welche durch das kaum hörbare Hingleiten eines Fußtrittes über das Moos verursacht wurde.

Lovely blickte auf und sah jenseits des Büchleins den jungen Jäger vor sich.

In welcher Absicht Thorkil gekommen, wissen wir nicht, aber daß er kam, ist eine Tatsache.

»Die bewußte Kette hat eine größere Zugkraft als die stärkste Bulie meines Schiffes,« flüsterte hinter dem Sumachgebüsch der Seemann dem alten Trapper ins Ohr.

Lovely faltete die Hände über der Bibel, welche auf ihrem Schoße aufgeschlagen war, und senkte tief errötend das Köpfchen.

Auch Thorkil war sehr verlegen und wußte sozusagen nicht, wohin er seine Hände und Beine tun sollte. Endlich faßte er sich einigermaßen und sagte stockend:

»Verzeiht, Mistreß Kordelia« – er wagte es nicht, der arme Junge, das Mädchen mit dessen traulicherem Namen Lovely anzureden – »verzeiht, wenn ich Euch störe. Ich wollte – ich –«

»Ihr stört mich nicht, Thorkil,« versetzte sie, und es tat ihm ordentlich wohl, daß sie das steife Master vor seinem Namen wegließ – »Ihr stört mich nicht, aber Euer Anblick erinnert mich daran, daß ich die große Schuld des Dankes, welche Ihr mir auferlegt, noch nicht einmal mit Worten abzutragen oder vielmehr anzuerkennen bemüht war.«

»Sprecht nicht davon, sprecht nicht davon! Wenn von Dank die Rede sein soll, so bin ich es, der ihn schuldet. Doch ich wollte sagen, Mistreß, daß Ihr Euch über das Schicksal der Eurigen nicht zu sehr grämen sollt. Wir wissen, daß ihr Leben unversehrt ist, wir wissen, wo wir sie zu suchen haben, und meine Freunde und ich wollen unser Leben einsetzen, um sie Euch wiederzugeben.«

»Ich glaub' Euch, ich glaub' Euch, Thorkil. Ihr seid brav und edelgesinnt. O, ich fühle es wohl, daß ich nicht mehr verlassen bin, wie in dem schrecklichen Haus auf dem Hügel.«

»Nein, das seid Ihr nicht und werdet es nie mehr sein, wenigstens solange ein Funke von Leben in mir ist. Seht, ich bin nur ein armer einfacher Jäger, aber ich – ja, ich möchte–«

Er hielt inne, als fürchtete er, zu viel zu sagen.

Lovely hob die Augen zu ihm auf, und ihr Herz lag in ihren Augen.

»Ich wollte sagen,« hob er wieder an, »daß wir hoffen, Euch binnen wenigen Tagen den Eurigen wiedergeben zu können, aber dann – dann werdet Ihr mich verlassen, vielleicht für immer – und seht –«

Abermals brach er ab, und in dem fragenden Blick, womit er das Mädchen ansah, lag eine brennende Angst.

Purpurglut überzog Stirn, Wangen und Nacken Lovelys, ihre Augen, die sich von denen des Jünglings nicht loszureißen vermochten, feuchteten sich, und mit bebender Stimme entgegnete sie:

»Thorkil, ein sittsames Mädchen sollte Euch vielleicht nicht verstehen wollen; aber die Fügung Gottes, die uns zusammenführte, ist so wunderbar, daß ich nicht heucheln kann oder mag. Ja, Thorkil, ich verstehe Euch, ich verstehe Eure stumme Frage und – ich kann nicht anders – da nehmt meine Antwort.«

Sie schlug die Blätter der Bibel um, stand auf und hielt das heilige Buch dem Jüngling über den Bach hin, mit dem Zeigefinger der Rechten auf die aufgeschlagene Stelle weisend und zugleich mit holder Züchtigkeit ihr Antlitz abwendend.

Der junge Jäger faßte das Buch, welches sie mit der linken Hand festhielt, und las entzückt die Stelle, auf deren Anfangsbuchstaben ihre Fingerspitze ruhte.

Es waren die rührenden Worte, welche wir an die Spitze des Kapitels gestellt haben, die Worte, welche die kindliche Ruth zu Naemi sprach.

»Das ist die seltsamste Liebeserklärung, von welcher ich je gehört!« flüsterte De Lussan, nicht ohne sympathische Regung, seinem Begleiter zu.

Der Jüngling las die Stelle wieder und immer wieder, er las sie leise, er las sie laut.

Dann offenbarte er all das Glück, welches seine Seele erfüllte, indem er nur halblaut ausrief:

»Lovely!«

»Thorkil!« erwiderte das Mädchen, das strahlende Antlitz dem Geliebten zukehrend.

Und ihre von Seligkeit überströmenden Augen ineinander tauchend, gehorchten sie dem Impulse heiliger Begeisterung, indem sie unwillkürlich die Hände auf den Blättern des teuren Buches verschlangen und so ihre Gelübde ewiger Liebe und Treue austauschten.

Der Jüngling überschritt den Bach und drückte seine Lippen auf die reine Stirn seiner Verlobten. Ihren Mund zu berühren, war er nicht kühn genug. Aber in der Jungfrau erwachte die Zärtlichkeit ihres Geschlechtes. Sie schlang die Arme um den Nacken des Geliebten, schmiegte sich bebend an seine Brust und verwehrte ihm nicht ihren süßen Mund.

Die Lauscher hinter dem Gebüsche wandten ihre Blicke von dem anmutigen Schauspiel ab, auf welchem der Hauch einer religiösen Weihe lag.

»Ich wußte, daß es so kommen müßte,« murmelte der alte Trapper mit väterlicher Befriedigung in seinen Zügen. »Ja, ich wußte es. Das ist Natur, echte, unverfälschte Natur, und die findet ihre Wege.«

»Sie sind glücklich, sehr glücklich,« versetzte De Lussan; »ich kann es ermessen, wie glücklich sie sind. foi de gentilhomme, es ist schade, daß wir sie stören müssen.«

»Ja, Kapitän, es ist wahrhaftig schade, sehr schade!«


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