Peter Rosegger
Peter Mayr der Wirt an der Mahr
Peter Rosegger

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Ich will nicht mein Leben durch eine Lüge erkaufen!

Das Gelaß war eine weißgetünchte Stube mit wurmstichigem Holzboden und zwei tiefen, vergitterten Fenstern, die hinausschauten in einen winterlich kahlen Garten. Ein grüner Kachelofen, in dem das Feuer prasselte, ein Strohbett mit blauer Decke, ein Tisch, auf welchem Schreibzeug, ein Krug Wein stand und ein Erbauungsbuch lag, dann eine altmodisch getäfelte Thür, die versperrt war. Ein allzuhartes Gefängnis schien es gerade nicht zu sein, in welches der Mahrwirt an diesem Tage gebracht worden war. Draußen vor der Thür standen freilich ein paar baumstarke Kerle, die manchmal mit den Säbeln rasselten und ihre Gewehrkolben derb auf den Boden stießen.

Peter Mayr saß am Tische und schrieb einen Brief. Und als der Brief fertig geschrieben, gefaltet, gesiegelt war und mit der Adresse versehen: An die ehrsame Frau Notburga Mayrin, Wirtin an der Mahr bei Brixen – that der Mann einen tiefen Atemzug: »Gottlob, mit der Welt wär' ich fertig.«

Sein Gesicht hatte einen tiefernsten Zug, aber eigentlich traurig waren weder die Züge, noch sein sonstiges Gehaben. Sein Haar und Bart war mit einer gewissen Sorgfalt gekämmt, sein bäuerlicher Anzug in guter Ordnung. In Hemdärmeln befand er sich, denn der Ofen strömte reichliche Wärme aus. An der Wand zwischen den Fenstern hing ein kleines hölzernes Kruzifix. Peter ging zu ihm hin und fragte es leise: »Nicht wahr, mein Jesu, du wirst mir beistehen bis zum letzten Augenblick?«

Jetzt schloß jemand von außen die Thür auf, sie rasselte und sie knarrte nicht sonderlich. Als Peter den Kerkermeister sah, sagte er: »Ist recht, daß du kommst. Sei mir doch so gut, und sorge, daß dieser Brief aufs Postamt kommt, mir ist viel daran gelegen.«

»Das wird schon geschehen,« antwortete der Gefängniswärter. »Ein Herr ist da, der will mit dir sprechen.«

Vor der Thür stand ein städtisch gekleideter Mann mit grauem, kurzgeschnittenem Bart, der hielt die Arme auseinander und rief: »Nun, Mahrwirt, kennst du mich noch?«

Peter trat vor und schüttelte verneinend das Haupt.

»Und sind so oft beisammen in lustiger Gesellschaft gesessen zu Klausen, zu Brixen, auch an der Mahr!«

»Ich erinnere mich schon,« versetzte Peter gleichmütig, »du wirst der Doctor Boltolini sein.«

Der Angekommene trat in das Gelaß; nachdem der Kerkermeister hinausgegangen war und hinter sich sorgfältig zugesperrt hatte, setzte er sich ohne Umstände an den Tisch und sagte zum Gefangenen: »Ja Mahrwirt, wir beide sind in Fröhlichkeit beisammen gewesen und es ist auch nichts Trauriges, was mich heute zu dir führt.«

Peter schaute ihn an Und dann sprach er: »Mein lieber Freund, wo ich heute bin, da gibt's nichts Fröhliches und nichts Trauriges mehr. Du weißt ja doch, wie es steht.«

»Das Urteil kann aufgehoben werden,« sagte Doktor Boltolini. »Laß mich ruhig sprechen. Es ist bei deiner Aburteilung ein Formfehler vorgekommen; auch bedarf es noch weiterer Erhebungen. Du wirst noch einmal vor den Tisch gestellt. Es steht günstiger um dich, als du glaubst. Mahrwirt, es steht viel günstiger.«

Peter horchte auf.

»Du hast Freunde, von denen du nichts weißt,« fuhr der Doktor fort. »Ich bin berufen worden, daß ich deine Sache vertrete, und komme dir anzuzeigen, daß du morgen früh nochmals verhört werden wirst. Man hat zu wenig beachtet, daß dir bei der Geschichte in den Eisackschluchten die Thatsache, daß der Frieden geschlossen worden war, vollkommen unbekannt gewesen ist.«

»Das ist nicht so,« antwortete Peter, »mir ist der Friedensschluß wohlbekannt gewesen.«

»Oder unbekannt gewesen sein konnte,« fuhr der Doktor fort. »Es haben damals ja gar viele Leute im Lande von den verschiedenen Bekanntmachungen nichts gewußt, oder an den Frieden wenigstens nicht geglaubt. Noch heute gibt es Leute, die daran zweifeln.«

»Es ist an allen Mauerecken angeschlagen worden,« sagte Peter. »Glauben hat man's freilich nicht können, aber die Verordnungen hat man gesehen und gehört und gelesen.«

»Kurz und gut, du wirst morgen befragt werden, ob dir bei deiner inkriminierten That der Abschluß aller Feindseligkeiten und die Uebergabe Tirols bekannt gewesen ist oder nicht.«

»Die Umständlichkeit verstehe ich nicht.«

»Hast du davon keine Kenntnis gehabt, warst du der Meinung, du verteidigst noch das Recht Oesterreichs und Tirols, so wie bei den früheren Kämpfen, so wird die Sache anders stehen. Dann wirst du nicht als Rebell behandelt.«

Peter schaute dem Doktor mit Befremdung ins Gesicht.

»Du wirst also,« fuhr der Doktor fort, »morgen bei Gericht ruhig angeben, vom Friedensschluß und seinen Folgen hättest du nichts gewußt, seiest zur Zeit im Gebirge gewesen, hättest nur gehört, es käme wieder der Feind und hättest dich eben mit den Waffen, die ein armes Bergvolk besitzt, neuerdings zur Wehr gesetzt. Und dir hätte es gar nicht einfallen können, daß in deinem patriotischen Werke ein Verbrechen liege. Wenn du so sprichst, bist du gerettet,«

Nun fragte der Mahrwirt: »Wer mischt sich denn da drein? Wer schickt dich her? Wer thut mir den Schimpf an noch in meiner letzten Stund' und verlangt, daß ich ein Lügner werden soll?«

»Aber guter Freund, so sei doch klug,« sprach der Advokat. »Lügner, wieso denn? Du hast es ja doch wahrlich nicht wissen können, was die hohen Herren zu Wien beschlossen; wissen wir's denn heute, ob Frieden bedeutet, was die Diplomaten so nennen?«

Peter stellte sich stramm hin vor den Doktor und sagte: »Das sind Spitzfindigkeiten. Doktor Boltolini, ich sage dir: Ich habe es gewußt.«

Der Advokat stand auf, machte ein paar Schritt durch die Stube, setzte sich dann wieder hin, zuckte mit den Armen, mit den Fingern und sprach in sehr erzwungener Gelassenheit: »Peter, du verstehst mich nicht. Gewußt oder bei dir gedacht kannst es ja haben, oder geglaubt, daß du es wüßtest; mein Gott, was weiß der Mensch denn eigentlich! Er glaubt gar viel zu wissen, was er nicht weiß. Sie werden dich darauf auch keinen Eid ablegen lassen, sie werden dich einfach fragen: Peter Mayr, hast du es gewußt? Und du wirst einfach Antwort geben: Nein, ich habe es nicht gewußt.«

»Und das werde ich nicht Antwort geben.« sprach Peter, »ich sage die Wahrheit.«

»Ein Thor bist du!« rief jener aufspringend. »Ist der Feind wahr gewesen gegen uns? Im Kriege, mein Lieber, gilt nicht die Wahrheit, sondern die List. War nicht dein eigenes Führen und Thaten eine Kette von List, vom Kampf bei Mühlbach an bis zur Eisackmuhre?«

»Das ist kein Vergleich,« antwortete Peter. »Damals war Krieg, jetzt ist Frieden. Damals hat's fürs Land gegolten, heute gilt's nur für mich allein und heute muß ich's mit mir selber ausmachen. Und ob es du bist, Doktor, oder ein anderer, der mir die große Güte will zuwenden, ich danke dafür, ich danke tausendmal, aber annehmen kann ich sie nicht.«

»Das wäre undankbar. Das wäre empörend undankbar!« rief der Doktor.

Darauf Peter: »Fragt mich, ob ich es als Irrtum erkenne, was ich gethan, ich werde ja sagen. Fragt mich, ob ich es bereue, ich werde es zugeben. Fragt mich, ob ich jetzt unsrem neuen Herrn unterthan sein wolle und die Unthat sühnen nach meinen Kräften, ich werde vielleicht ja sagen. Aber nur das verlangt nicht von mir, daß ich lügen soll. Ich kann es nicht und ich will es nicht! Durch eine Lüge will ich mein Leben nicht erkaufen.«

Nun sagte der Doktor nichts mehr, sondern dachte: Er ist erregt, ich will ihn allein lassen und später wieder kommen. Sieht er nur erst sein Weib, seine Kinder wieder, da wird er seine Meinung schon ändern. Das Sterben ist bitterer, als er heute noch weiß.

»Mahrwirt,« sagte er nur noch, »also willst du wirklich dich selber zu Grunde richten?«

»Mir ist es am liebsten, du gehst,« antwortete Peter. Hierauf hat Dr. Boltolini an die Thür geklopft, bis sie aufging, und er trat hinaus in den freien Tag.

Er ging in den Gasthof, wo die Familie des Mahrwirtes eingekehrt war. Angemeldet, als der vom General bestellte Anwalt Peters, hatte er sich schon früher.

Die Leute aus dem Mahrwirtshause hatten eine dämmerige Dachkammer angewiesen bekommen, denn der Gasthof war voll von Fremden, darunter auch Leute, die angekommen waren, um eine Hinrichtung mitanzusehen.

Als Frau Notburga den Doktor kommen sah, rief sie ihm schon entgegen: »Wie habt Ihr ihn gefunden? Ist er gesund? Wie sieht er aus? War er recht erfreut?«

»Es geht schwerer, als man denken sollte,« sprach der Doktor. »Sagt mir einmal, Mahrwirtin, ist Euer Mann nicht manchmal ein bißchen eigensinnig?«

»Eigensinnig? Wie meint Ihr das?« fragte die Frau zurück. »Wenn er einmal was für richtig erkannt hat, ja, da hat er seinen Willen, von dem er nicht leicht abgeht. Wenn das Eigensinn ist! Wo es sich um Billigkeit handelt, da glaube ich nicht, daß es einen nachgiebigeren Menschen geben kann, als meinen Mann. Oft habe ich ihm gesagt: Peter, zu viel läßt du dir gefallen, deinen Kopf setz' besser auf.«

»Heute hat er ihn gut auf, Frau Wirtin,« sagte der Doktor.

»Wie ist das?« fragte sie.

»Er nimmt's nicht an.«

»Er nimmt's nicht an?«

»Er sagt, durch eine Lüge wolle er das Leben nicht erkaufen.«

Frau Notburga schrak ein wenig zusammen.

»Ich habe erwirkt, daß Ihr schon heute zu ihm dürfet,« sprach der Doktor. »Ich glaube, Ihr geht sogleich und redet ihm zu, daß er um Gottes willen klug sein soll.«

»Kinder!« rief Frau Notburga. »Wir gehen zum Vater!«

Eine Viertelstunde später waren sie bei ihm. Es war schon dunkel. Peter erkannte die Eintretenden nicht sogleich, da ging zuerst die kleine Marianne schüchtern auf ihn zu, hielt ihm das Händchen hin und sagte mit ihrem zarten Stimmlein: »Grüß dich Gott, Vater, jetzt sind wir schon da um dich.«

Als er nun sah, wer gekommen war, da huben seine Kniee an zu zittern, aber was in ihm vorging, das merkte man nicht in dem, wie er jetzt ganz gemessen sagte: »Ihr seid hergereist? Den weiten Weg?«

»Peter!« rief Frau Notburga und flog ihm an die Brust. »Du bist noch unser, wir verlassen dich nicht.«

»Es wäre doch besser gewesen –«

»Du gehst mit uns heim!« sagte sie, »morgen wirst frei, siehst du, ich weiß alles. Schau doch deine Kinder an, schau, wie Gott uns wieder zusammenführt. Es hätte anders kommen können, du armer Mann, wie hast du viel gelitten! – Peter, warum sprichst du nicht?«

Da sagte er: »Ich war schon mit allem fertig und ich habe euch schon geschrieben. Ich habe dich eingeladen, mein treues Weib, auch in der andern Welt mit mir zu sein. Was braucht's so viel Urlaubnehmen von einander.«

»Hast noch solche Gedanken, Mann, und weißt doch, daß alles gut wird,« sprach sie. »Die paar Worte sagst halt.«

»Welche paar Worte?«

»Daß du nichts gewußt hast.«

In ihm zuckte es auf. »Du auch!« murmelte er.

»Ich verantworte es!« rief sie.

Peter schaute sie an.

»Notburga,« sagte er. »Du weißt gar nicht, was die Lüge ist, und willst sie verantworten. Aber den Kindern sage es: Die Lüge ist ein falscher Freund; wen sie heute scheinbar rettet, den bringt sie morgen um. Nichts hasse ich so wild. Von der höllischen Lüge der Schlange im Paradies bis zur kindischen des Spielmann-Toni im Wirtshaus zu Albeins hat sie nichts als Unglück gebracht. Wer hat denn unser Tirol in solchen Jammer gestürzt? Der Bonaparte hat gelogen, die Bayern haben gelogen, unser eigenes Schutzreich hat sein Wort nicht gehalten, hat uns verlassen in der größten Not. An den Waffen sind wir nicht zu Grunde gegangen, an der Lüge sind wir zu Grunde gegangen. Und ich soll sie jetzt anerkennen, mit Blut und Leben heiligen, vor Gott und Welt sagen: seht, ich halte es mit der Lüge? – Nein, mein Weib, meine Kinder, ihr seid mein Alles, mein Alles auf Erden, aber um diesen Preis kann ich nicht bei euch bleiben. Ich sage es euch: ich will lieber mit der Wahrheit sterben, als mit der Lüge leben.«

Ein wundersames Leuchten war in seinem Auge, als er so sprach, eine Herrlichkeit war in seinem Wesen, vor welcher Frau Notburga schauerte und von der sie entzückt war.

Dennoch sagte sie nun zu den Kindern: »Kniet nieder vor eurem Vater und bittet ihn, daß er bei uns bleibe!«

Da antwortete Hans: »Mutter! Wenn der Vater nicht lügen will!«

Peter drückte mit beiden Armen die Kinder an seine Brust: »Ich danke euch doch, daß ihr gekommen seid. Ich segne euch. Ich schreibe es euch ins Herz zu dieser Stunde: Liebet die Wahrheit. – Vielleicht wird man euch einmal sagen: Seid nicht thöricht, die Wahrheit hat euren Vater getötet. Darauf antwortet nur: Besser der Tod als die Lüge. Denkt daran, wer's euch gesagt hat.«

Dann küßte er die Kinder, preßte sie heftig an die Brust, dann schob er sie von sich und sagte: »Nun lasset mich allein und geht eure Lebensstraßen.«

»So nicht, Peter!« rief Frau Notburga heftig, »morgen sehen wir uns wieder und gehen miteinander heim. Du thust es, ich weiß es gewiß.«

Dann sind sie von ihm gegangen.

Die ganze darauffolgende Nacht hatte Frau Notburga gebetet. Die Kinder schliefen auch in dieser Nacht den süßen Kinderschlaf, nur Marianne redete einmal im Traum. »Wo der Palmbaum steht . . .!« lallte sie zweimal, und als die Mutter hinhorchte, war sie still.

Am nächsten Morgen befand sich die Mahrwirtin durch die Vermittelung der Frau Generalin schon zeitlich in einem Nebengemach des Saales, der für das letzte Verhör ihres Mannes bestimmt war. Am Eingange hatte ihr Gräfin Elisabeth zugeflüstert: Sei guten Muts, Schwester, es wird ihm leicht gemacht.«

Der Saal belebte sich, Offiziere, darunter der Obergeneral, einige Herren vom Zivilgerichte und Doktor Boltolini waren erschienen und endlich wurde der Gefangene vorgeführt.

Sie fingen an zu sprechen. Zuerst wurde aufs feierlichste erklärt, daß das Urteil, welches über den Rebellen gefällt worden, aufrecht bleibe. Dann wurde dargethan, daß es aber nicht ausgemacht sei, ob man es hier mit einem Rebellen zu thun habe, und daß deshalb eine neue Untersuchung eingeleitet worden wäre. Der General sprach gar nicht, ein andrer französischer Offizier hingegen führte Beschwerde gegen das bayrische Regiment in Tirol, und that dar, daß die Aufständischen vielfach im Rechte gewesen wären und daß es für Südtirol eigentlich jetzt am klügsten sei, um den Bayern zu entkommen, sich im Vereine mit den Italienern der großen Nation anzuschließen, die alle Völker brüderlich in die Arme nehme, und zu Wohlstand, Macht und Ruhm führe.

Mit den Italienern? – Was war das für ein Geläute? – Peter that, als höre er es gar nicht. Und nun trat Doktor Boltolini vor. Er hielt eine Rede, die fast leidenschaftlich war und darauf berechnet zu sein schien, nicht so sehr die Richter umzustimmen, als vielmehr den Angeklagten. Er fragte, wieso Kavaliere, welche die Herren Offiziere doch wären, über einen Mann so leichthin aburteilen könnten, der für sein Vaterland ein Held im wahren Sinne des Wortes gewesen sei? Und ob sie denn nicht auch an seine Familie gedacht hätten, an das schutzlose Weib, an die unversorgten Kinder, die verkommen, schlecht werden, zu Grunde gehen können, wenn der Familienvater hingerichtet wird? Ob sie nicht gedacht hätten an die Schande und Schmach, wenn diese lieben, unschuldigen Kinder einst hören müßten: Euer Vater hat als Rebell auf dem Hochgerichte geendet? – »Als Rebell!« rief der Verteidiger aus. »Wer hat denn untersucht, ob Peter Mayr als Rebell gehandelt hat? Er ist unschuldiger, als er selber glaubt. Er hat von nichts gewußt. – Meine Herren! Wenn ihr mich heute fragt: Ist der Friede wirklich geschlossen, gehört Tirol rechtmäßig zu Bayern und ist es der Wille Oesterreichs, so muß ich antworten: Ich weiß es nicht. Und wenn ihr vor meinen Augen die Kundmachung entrollt und ich die Unterschriften sehe, so werde ich sagen müssen: Ich kann es nicht glauben und ich weiß es nicht. Nach all dem, was geschehen ist, was versprochen wurde, was das Land geleistet hat, ist die plötzliche Preisgebung desselben ganz undenkbar. Es kann, ich bitte sehr um Entschuldigung, alles nur eine List des Feindes sein – ich glaube nicht daran und weiß es nicht. Und selbst wenn ich sehen sollte, wie das Land geräumt und übergeben wird, so müßte ich mir die Faust vor die Stirn schlagen und ausrufen: Es ist Selbsttäuschung, in meinem ob des Unglücks so schrecklich erhitzten Gehirn haben sich krankhafte Vorstellungen gebildet, in der That aber glaube ich nichts und ich weiß nichts, und ich kann nichts wissen. Ich bin ein einfacher Mensch, der von Politik nichts versteht, und was ich gethan, ich habe es niemand zu Trotz und Haß gethan, nur allein für die Freiheit Tirols, und wenn ich mir selber einreden wollte, ich hätte es verstanden und ich hätte es gewußt, so wäre ich unwahr gegen meine Richter und mich selbst. – So, meine Herren, müßte ich an Stelle des Angeklagten sprechen und andres kann mit gutem Gewissen auch Peter Mayr nicht sagen.«

Nachdem der Verteidiger also geredet hatte, trat der Obergeneral vor und sprach laut: »Angeklagter! Geben Sie sich keiner Täuschung hin, ich erinnere, es handelt sich um Ihr Leben, um das Wohl Ihrer Familie. Ich stelle nun an Sie die entscheidende Frage: Haben Sie zur Zeit Ihrer That in den Eisackschluchten gehandelt nur im guten Glauben an Ihr Recht?«

»Ja.«

»Haben Sie geglaubt, daß noch Krieg ist.«

Peter schwieg.

»Und haben nicht gewußt, daß der Frieden schon geschlossen war?«

Peter erhob langsam sein Haupt und sprach: »Ich habe es gewußt, das ist die Wahrheit und anders kann ich nicht reden.«

Da war im Nebengemach ein gellender Schrei.

Der Verurteilte wurde abgeführt.


Am Abende desselben Tages, als Peter wieder in dem Gefängnisse saß, verlangte er nach seinem Schwager. Augustin erschien zögernd, denn es bangte ihm vor einem solchen Wiedersehen des geliebten Menschen, der am nächsten Tage hingerichtet werden sollte. Als er eintrat, kam ihm Peter ganz unbefangen entgegen und erkundigte sich nach Notburga. Augustin verschwieg, daß sie seit ihrem Zusammenbrechen bei Gericht in einem ohnmachtähnlichen Schlaf liege, er sagte nur, sie müßten sich nun rüsten zur Heimreise.

»Thut das, Augustin, thut das,« sagte Peter. »Reiset heute noch. Morgen habt ihr nichts zu thun in Bozen.«

Augustin saß vor ihm schier wie verloren da. »Peter,« sagte er endlich, mit Mühe den Ton aus der Kehle pressend, »am liebsten möchte ich mit dir gehen. Nicht etwa, als ob's auch mir gebührte als ebensolchem Rebellen, nein, nur von dieser Welt möchte ich fort, einen so schönen Tod möchte ich sterben – für die Wahrheit sterben . . .«

»Lebe für sie,« antwortete Peter. »Du hast die Kanzel, den Beichtstuhl, das Bett des Sterbenden. Dann brauchen wir uns jetzt nicht zu verabschieden. Nur das eine,« setzte er bei, »das möchte ich noch wissen, wie es den andern geht.«

»Von den meisten weiß man noch nichts,« antwortete Augustin. »Und von denen man etwas weiß, da ist es nichts Gutes. Den Sandwirt haben sie vor etlichen Tagen nach Welschland getrieben. Man hört, das Urtheil soll schon gesprochen sein.«

»Und welches?«

»Es geht ihm wie dir,« sagte der junge Priester.

»Gut, so habe ich gleich Gesellschaft auf dem Weg in die Ewigkeit.«

»Peter, es wird eine ganze Prozession sein,« sagte Augustin. »Und ich denke, du wirst vor Gott der erste und der größte sein.«

»Gott sei mir gnädig, ich büße für meine Sünden. Ich sterbe, weil ich getötet habe. – Mein lieber Bruder Augustin, sei bedankt für alles, was du mir und den Meinen gewesen bist. Auch meinen andern Freunden sage es, und wenn ich jemand Leids gethan habe, ich bitte um Verzeihung. – Und nun laß mich allein, ich will in dieser Nacht noch ein wenig nachdenken über das Elend auf dieser Erden, damit mir das Sterben noch leichter ankommt. – Nur eins versprich mir zum Trost, Augustin. Morgen – erspare es dir. Bleibe bei ihnen. – Gehet heim . . .«

Der Priester war vor Peter auf das Knie gesunken und wollte ihm die Hand küssen; Peter wendete sich heftig ab und sagte kein Wort mehr. –

In der darauffolgenden Nacht legte der Verurteilte sich nicht mehr auf sein Stroh. Er saß am Tische, las im trüben Scheine einer Ampel eine Weile aus dem Erbauungsbuche. Dann hub er an starr vor sich hin zu blicken. Mehrmals schreckte er auf und schaute gegen das Fenster, als wollte er sehen, ob es schon tage.

Plötzlich vernahm er draußen vor dem Fenster ein zartes Klingen. Ein Saitenspiel war's wie auf einer Laute, und eine jugendliche, tief wehmütige Männerstimme sang:

»O Mahrwirt an der Straßen,
Nun lebe ewig wohl,
Mein Herz kann's nimmer fassen,
Daß es dich lassen soll.
Den Heldentod, den herben,
Für Wahrheit willst du sterben
Im treuen Land Tirol.«


Da kam ein Morgen mit kaltem, winterlichem Lichte. Es stand keine Wolke am Himmel und es war auch nicht sonnenklar; ein trübblauer Nebelschleier lag im Thale, in welchem die Gebäude und die Büsche und die Ruinen und die Berge verschwommen dastanden. Draußen hinter der Stadt Bozen, aus dem Engthale der Talfer geht eine mächtig breite Schutt- und Sandhalde nieder. Mitten im feinen weißen Sande liegen stumpfkantige Steine und Felsblöcke.

Auf dem Schuttfelde gingen jetzt mehrere französische Offiziere hin und her, als ob sie den Boden prüfen oder eine bestimmte Stelle suchen wollten. Einer derselben hatte einen schwarzen Stab in der Hand, und dort oben, wo zwischen Felsblöcken eine ebene Sandfläche war, steckte er den Stab in den Boden. Dann entfernten sie sich.

Die Stadt war schon seit frühem Morgen ungewöhnlich belebt; die Leute hatten nicht ihren behäbigen Schritt, sie eilten, sie hasteten. Manche liefen sogar, ohne vielleicht recht zu wissen, wohin. Unter dem Stadtthore gegen die Talferbrücke hinaus standen zwei Bürger. Auch diese wären kaum stehen geblieben, wenn sich nicht jeder von ihnen an der Bude ein Gläschen Branntwein hätte einschenken lassen, »zum Magenwärmen« sagte der eine, »zum Herzstärken« sagte der andre.

Bei diesem Thore hatten an jenem Morgen die Leute Neigung, sich festzustellen, wenn die Soldatenwache nicht von Zeit zu Zeit die Ansammlung mit großem Geschrei auseinandergetrieben hätte. Von unseren zwei Bürgern aber hatte einer der Wache ein paar Gläschen Schnaps zugethan, »zum Stimmstärken«, und so blieben sie unbehelligt auf ihrem Standplatze.

Einer der Bürger schaute auf die Turmuhr hinüber und sagte: »Acht Uhr. Jetzt muß er ja schon bald kommen.«

»Wenn ihn der General noch in der letzten Stunde pardonniert?«

»Ich wünsch' ihm's. Aber leid thät's mir, wenn ich umsonst so früh aus dem warmen Bett gestiegen wäre.«

»Vielleicht ist es ihm doch endlich eingefallen, daß er's nicht gewußt hat. Ich hätte ihn überhaupt für klüger gehalten.«

»Nur Geduld, Freund! Wenn er erst draußen steht und die schwarzen Röhrle auf sich gerichtet sieht, da wird er schon anders reden. Ja, mein Lieber, das Sterben ist sauer!«

»Wie oft ist der Meister denn schon gestorben?« redete ein Nebenstehender drein und klopfte dem Sprecher auf die Achsel, »wie oft denn, daß Er's so gut weiß?«

»Du wirst mir's nit lernen!« begehrte jener auf. »Lern du das Hosenmachen ordentlich, wenn du ein Tailleur sein willst! Franzosenkraucher!« Händel hätte es vielleicht gegeben, da rief plötzlich jemand aus: »Die Oesterreicher sind da! Die Oesterreicher sind da!«

Alles wirbelte auf und reckte die Köpfe nach einem Seitengäßchen, wo eine Bande von herumziehenden Kroaten und Slowaken mit Geigen und Dudelsack Musik machte. Der, welcher den Ausruf gethan, mußte sich eilends flüchten, sonst wäre es ihm schlecht ergangen für seinen schnöden Witz. – Nun hub auf dem Turm ein Glöcklein an zu läuten.

»Hau, der Totenvogel singt schon!« zischelte einer, »jetzt werden sie bald da sein mit ihm.«

Alles kam in neue Bewegung. Die lange schmale Gasse her drängte eine aufgeregte Menschenmenge. Dumpfes Trommelgewirbel wurde hörbar und kam näher; ein Trupp welscher Soldaten marschierte heran und mitten in demselben der arme Sünder.

Er war in seinem Tirolergewand, das Haupt entblößt. Die ihn früher gesehen, erkannten ihn sogleich wieder; gar nicht war er verändert. Er schritt aufrecht und blickte geradeaus vor sich auf den Weg, nur ein-, zweimal war zu bemerken, wie sein Auge zuckte. Sein Gesicht war blaß und ruhig, die Lippen unter dem blonden Schnurrbart hatte er geschlossen. Die Hände waren mit einem schwarzen Riemen gebunden und an diesem Riemen hielt ihn ein Soldat, der zur Linken ging. Ihm zur Rechten schritt ein Kapuziner in brauner Kutte mit langem schwarzem Bart und dem Käppchen auf dem geschorenen Haupte. Dieser hielt in der Hand ein hölzernes Kruzifix und sprach leise Gebete. So wurde Peter Mayr auf den Richtplatz geführt. Er ragte über seine beiden Nebenmänner empor. Als die Leute diese Gestalt sahen, verstummte jeder Laut in ihrem Munde. Viele erblaßten und wichen ehrfurchtsvoll zurück.

Der Zug ging durch das Stadtthor hinaus. Als die freie weite Gegend von keiner Mauer verdeckt dalag mit ihren blauen Bergen, als durch den dünnen Nebel sogar ein sonniger Schimmer ging, da hob Peter einmal seinen Blick und schaute hin. Das Glöcklein läutete beständig, die Trommeln rollten ununterbrochen. Der Zug marschierte immer noch fürbaß, fast bis zur Brücke hin. Da erscholl das Kommando: »Rechts ab!« Der Zug verließ die Straße und bewegte sich über den rauhen Schutt quer hinan. Die Volksmenge wollte nachströmen, wurde aber von Soldaten, die da in einer langen Reihe aufgestellt waren, zurückgehalten.

Dort oben zwischen zwei Felsblöcken auf weißem Sande ragte ein schwarzer Stab. Peter erblickte ihn, seine Füße fingen an zu zittern – er wankte. Man blieb stehen und hieß ihn auf einen Stein niedersitzen. Auf seiner Stirn standen große Tropfen, man labte ihn mit Essig, er schlug seine Augen auf gegen den Priester – es war ein Blick voll unendlicher Todesangst.

Der Kapuziner gab ihm das Kruzifix in die Hand und sagte: »Denk an Jesum, deinen Erlöser.«

Peter nahm das Kreuz, drückte es an den Mund. Dann nickte er, es wäre schon besser und erhob sich.

Jetzt rüstig und vollkommen aufrecht ging er hinan. Soldaten stolperten in dem Geschütte, Peter schritt sicher und wankte nicht mehr. Sie führten ihn der Stelle zu, wo der Stab stak, dort angekommen machten sie Halt. Die Trommeln hatten ihr Wirbeln eingestellt, die Soldaten bildeten ein großes Halbrund und in demselben stellten sich zwölf Mann auf mit gesenkten Flinten.

Der Soldat, der an seiner Seite gegangen war, löste den Riemen und trat zurück, so daß der arme Sünder und der Kapuziner völlig allein standen im Halbrund auf dem Plan. Ein Offizier verlas noch einmal das Urteil, zerbrach den Stab und warf die Stücke vor die Füße des Verurteilten. Peter stand ruhig, der Priester betete leise. – Als nun alle Anstalten getroffen waren, daß zum Vollzuge kommandiert werden sollte, wendete Peter sich an den Geistlichen, um diesem das Kruzifix zurückzugeben.

Der Kapuziner nahm es nicht sondern sprach: »Du sollst es in der Hand behalten, das Bildnis unsres Herrn.«

»Sie könnten es treffen,« sagte Peter, gab das Kreuz hin und der Priester nahm es an sich.

Als man ihm die Augen verbinden wollte, machte er eine bittende Gebärde, es nicht zu thun, sie standen davon ab. Er hob seinen Blick zu den Spitzen der Berge, senkte ihn wieder und schaute nun fest und finster auf die Soldaten hin, die etwa fünfzehn Schritt vor ihm mit ihren Gewehren in Bereitschaft standen. Der Priester küßte ihn und trat zurück. Das alles geschah lautlos.

Der Offizier wandte sein schnaubendes Pferd und kommandirte zum Anschlag. Die Gewehre hoben sich rasselnd und standen wagerecht gegen den Verurteilten. Dieser stand da wie eine eherne Säule.

»Feuer!«

Die Rohre blitzten, knallten, der Rauch flog in die Luft. Peter Mayr brach zusammen auf ein Knie, in dieser Stellung verharrte er ein paar Augenblicke und es war, als wollte er eine Hand heben gegen die Brust – dann sank er hin auf den weißen Sand.

Als es so geschehen war, kam auf hohem Schimmel ein Reiter angesprengt. Es war der Obergeneral. Er stieg vom Pferde, schritt hin zum Todten und hüllte ihn zu mit seinem eigenen Mantel. Dann wendete er sich zu den Offizieren und gab folgenden Befehl: »Zwei Mann Wache hier, bis zu Sonnenuntergang. Dann tragt ihn hinauf an den Rand des Berges, wo der Palmbaum steht. Dort übergebt ihn der Erde seines Vaterlandes.«

 


 


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