Peter Rosegger
Peter Mayr der Wirt an der Mahr
Peter Rosegger

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Mir brauchen enk nit!

Von denen, die ausgezogen waren, um den Knaben zu suchen, kamen am nächsten Tage manche zurück: sie hätten nichts gefunden. Andre kehrten am zweiten Tage heim: sie hätten nichts gesehen. Etliche kamen am dritten Tage und wußten zu sagen von allerlei Spuren und Anzeichen und Mutmaßungen, wo der Sohn des Mahrwirtes sich befinden könne, aber endlich kam es heraus, daß auch diese nichts wußten und ganz umsonst herumgegangen waren.

Heimgekehrt war auch Frau Notburga. Ihr war unterwegs manchmal zu Mute gewesen: während du den einen suchest, gehen dir die übrigen verloren. Und als nun die Leute erschienen, in der Absicht, ihr Trost zuzusprechen, fanden sie, daß die Wirtin nicht weinte und nicht klagte. Wenn von ihrem Hans die Rede war, so sagte sie nichts als: »Wie es Gottes Willen ist!« – Des Abends dann, wenn alle Arbeit verrichtet war, wenn sie mit ihren beiden Kindern auch das heilige Schlaflied gesungen hatte: »Es sangen drei Engel einen süßen Gesang,« da kniete sie noch mit der kleinen Marianna hin vor den Hausaltar und betete ein Vaterunser »für unsern lieben Hans, von dem wir nit wissen, wo er ist, ob er beim grimmigen Feind hart muß leiden und still weinen nach Vater, Mutter und Geschwister, oder, ob sein armes Leiblein ganz zerschlagen in einem Abgrunde liegt, oder in der kühlen Erde schläft, und die unschuldige Seel' bei Jesum Christum im Himmelreich!«

Solches Gebet sprachen sie zu eigenem Herzleid und zu eigenem Troste, und die kleine Marianna hob ihre gefalteten Händchen empor und ihr sanftes glaubendes Auge zum Bilde Gottes. Und selbst, als das Gebet schon aus war, kniete sie noch lange so, schier wie in Verzückung, und einmal lallte das Mädchen in solchen Augenblicken die Worte: »Ich habe gegründet die Grundfesten der Erde und die Sonne angezündet in den unendlichen Himmeln. Der Sturm, der die Felsen bricht, ist mein Atemhauch, das Rauschen der Meere mein Lied. Ich habe aufgeweckt die Völker des Erdkreises wie Blumen im Mai; ein heißer Blick meines Auges, und sie vergehen wie Tau. Was ist dein Leiden, Menschenherz, vor dem Wehe der Welt? Es ist nichts. Einzig nur rührt mich das Weinen der Mutter ums Kind. Ich komm' zu dir. Vertrau' auf mich, ich will dir helfen . . .«

So sprach das Kind. Das Lallen ging in ein Flüstern über, das Flüstern in ein Hauchen, dann sank das Köpfchen nach vorn auf den Tisch und Marianna schlummerte.

Einer, ein einziger war noch aus auf der Suche nach dem Knaben – Peter der Wirt. Er ging thalauf, er ging thalab, er fragte in allen Häusern zu, er stieg in die Schluchten, er durchzog die Wälder, er wagte sich sogar in feindliche Kreise, die allmählich sich wieder bemerkbar machten. Der Knabe aber war nirgends und niemand wußte von ihm.

Eines Tages befand er sich in der Schlucht bei Weidbruck plötzlich unter Franzosen. Er wußte nicht, wieso das sein konnte. Doch that er arglos und besprach sich mit einem Offiziere wegen seines Knaben. Der Franzose gab ihm folgenden Bescheid: Wenn das Kind von französischen Soldaten aufgegriffen werden sollte, so würde es dem Vater zugeführt, ohne ihm ein Haar zu, krümmen, darauf parole d´honneur! Aber bei einer nächsten Affaire dem Mahrwirt die heiße Kugel!

Als von diesem Manne weg Peter wieder seine Straßen ging, wunderte er sich baß darüber, daß er noch frei die Straße gehe. Ja, war er denn nicht mitten unter Franzosen gewesen? Hatten sie ihn denn nicht erkannt? Sind sie denn nicht voller Wut gegen die tirolischen Häuptlinge? Und sie ließen ihn frei von hinnen gehen? Der ritterliche Hauptmann hatte in ihm nicht den Gegner, sondern den trostlosen Vater gesehen. – Fast mit Schmerz bedachte es der Mahrwirt, daß solch ehrenhafte Männer die Feinde seines Vaterlandes sein müssen.

Endlich kam auch Peter heim in sein Haus an der Mahr, aber nur um zu neuem Streite zu rüsten, der größer zu werden versprach, als der erste an dem Eisack und an der Rienz. Die bayrische Regierung sammelte sich wieder, war aber noch schwankend und mutlos, sie ließ zu dieser Zeit in Tirol einen schmeichelhaften Aufruf anschlagen: Was ihnen denn nicht recht wäre, den Tirolern? Sie sollten es doch offen sagen, man würde ja gern Abhilfe schaffen, man würde ihnen alle billigen Wünsche erfüllen, man achte dieses Volk, welches sich von jeher ausgezeichnet habe durch Redlichkeit und Treue!

»Eben, weil wir treu sind, darum auf gegen die Bayern!« so lautete dem Lockrufe entgegen ein Stichwort, das der Kulber ausgegeben hatte.

Hofer, der Sandwirt, hatte vom Brenner her Eilboten geschickt, zwei an einem Tage, mit der dringenden Aufforderung, ihm zu Hilfe zu kommen. In Innsbruck habe der Feind sich neuerdings festgesetzt, das ganze untere Innthal wimmele von Bayern und Franzosen. Aber von allen Bergen herab und aus allen Gräben heraus kämen die Bauern und zögen sich zusammen um die Vorhöhen von Innsbruck. Alles solle kommen, alles, was den Stutzen und das Messer tragen könne. Es sei die endliche Entscheidung da, ob die Tiroler in Zukunft ohne Gott und Vaterland Bayernknechte sein, oder als freie Männer leben wollten in der ehrwürdigen Heimat. Ihr Feldherr sei die heilige Jungfrau Maria.

Wie wurde es da neuerdings lebendig im Thale von Brixen! Gewaltiger als das erstemal wogte es auf. Der Kreuzwirt zog rasch mit einem Trupp freiwilliger Kämpfer den Eisack entlang gegen Sterzing. Der Mahrwirt eilte in die Gegend des unteren Eisack und ins Grödnerthal, um Streiter zu werben. Feindliche Soldaten sah man jetzt nirgends, alles schien sich zur Hauptarmee zu schlagen. Selbst die bayrischen Beamten, die insgeheim schon thätig gewesen waren, für den nahen Maria-Himmelfahrtstag ein großes Napoleonsfest zu veranstalten, waren auf einmal nicht mehr da. Es geschah noch nichts, aber es war alles so seltsam, so unerhört anders als sonst. Es war, als ob der Schall nicht mehr erstickte in der Luft, sondern ungeschwächt in die Ferne dringe; so hörte und wußte jeder an jedem Orte eins und alles. Es schien, als ob die Menschen Flügel bekommen hätten, so waren sie überall; und als ob die Vorfahren aus den Gräbern aufstünden, so viele waren ihrer. Ununterbrochene Ströme von Streitern kamen vom Pusterthale herüber, vom Etschthale herauf, vom Ritten herab, von allen Hochthälern gezogen. Jung und alt, mit allen denkbaren Werkzeugen und Geräten bewaffnet, mit Hauen, Hacken, Spießen, Morgensternen, Feuerstangen, Hämmern, mit rostigen Schwertern und blinkenden Sensen, mit wuchtigen Keulen und eisernen Stäben aus Hochöfen und Schmieden; auch Wurf- und Schleuderwerkzeuge mit Strängen und Bogen, nicht ungeschickt hergestellt. Und über diesem Gewoge von befederten Hüten und aneinanderklirrenden Waffen wehten rote Kirchenfahnen mit im Winde flatternden Fransen und Bändern. Bündel, Körbe. Kraxen, Säcke, Kübel, Fässer mit Lebensmitteln schleppten sie mit sich und ließen sie durch Ochsen auf Bauernwägen, Postkutschen und Holzkarren hinterdrein führen. Mancher hatte an seiner Lodenjoppe, die er über der Achsel hängend trug, die Aermel zugebunden und sich so Säcke für Lebensmittel geschaffen. Auch Zimmer- und Schmiedewerkzeuge, Leitern, Winden und Ambosse wurden mitgeschleift. Viele der Ausziehenden ritten auf schweren Lastpferden, andre jagten Kälber hinterher, und immer noch brachten Weiber aus den Häusern Dinge hervor zur Wehr und Nähr.

Auch der Rampesbauer hatte sein Fähnlein, doch er sollte zu Hause noch etwelches in Ordnung bringen. Im Mahrwirtshause fand er sich ein: Ob der Peter noch da sei? – Nein, der sei vom Grödnerthale noch nicht zurück. – Er, der Rampesbauer, wolle guten Rat, er wisse sich nicht zu helfen. Er habe im oberen Stadlkeller bisher die gefangenen fünf Bayern zu bewachen und zu atzen gehabt, was solle jetzt mit ihnen geschehen? Es werde immer schwerer. So oft er mit seinen Knechten die Kost hineintrage, sammelten sich vor dem Thore allerhand Leute an und verlangten mit Geschrei die Auslieferung der Gefangenen. Besonders der Schwarze, der Steuereinnehmer von Bruneck, der sei eben auf den Stein gesprungen und habe eine Brand- und Blutrede gehalten: Wenn jeder der fünf gefangenen Bayern zehn Kopfe hätte, so müßten sie alle abgeschlagen werden! Man spreche vom Morgenrote der Freiheit, das seien so leere Redensarten, das richtige tirolische Morgenrot der Freiheit sei Bayernblut, das den Eisack färbt! – Und die Leute hätten zu solch wilder Rede wie wahnsinnig geschrieen: das sei gut gesprochen, so müsse es geschehen. – Was denn nun da zu machen sei, um den Aufruhr zu dämpfen?

Zugegen war des Mahrwirts Schwager, der Priester Augustin. Der sagte, er wolle es versuchen. Nach Peters Sinn würde es zwar nicht sein.

Er ging hinauf, und bei der nächsten Fütterung, als sich wieder einmal viel Volk vor dem Stadtkeller versammelt hatte, hielt er eine Rede. Weil ein bißchen Predigerton dabei war, so horchten sie gleich auf. Feindesblut, sagte er, sei etwas sehr Kostbares. Man dürfe es nicht verschwenden zum nächstbesten Wohlgefallen, man müsse eine festliche Gelegenheit abwarten, um es zu opfern. Diese Gelegenheit würde bald kommen, wenn die Sieger heimkehrten. Zum Dankopfer für die Befreiung Tirols sollten dann die Gefangenen hingerichtet werden.

Da schrieen die Leute wieder, das sei gut gesprochen, so müsse es geschehen.

Wenn die Sieger heimkehren! Augustin flehte im Herzen seinen Gott um Gnade an für das frevlerische Wort, welches der Fürsehung vorgriff. Wenn die Sieger heimkehren, dann soll keine Rache sein, der Mahrwirt, der Kreuzwirt, der Sandwirt, wenn sie da sind, werden dafür sorgen. Also war wieder einmal eine Unwahrheit gesagt worden, die Peter verurtheilt haben würde. Allein, so dachte Bruder Augustin, um eine große Sünde zu verhüten, kann man eine kleine schon begehen.

Das Marienfest war gekommen, es wurde in den Kirchen und Klöstern nach alter Sitte begangen. Die verjagten Priester waren größtentheils wieder zurückgekehrt, aber die Gotteshäuser blieben halb leer; es waren der Leute allzuviele gegen den Brenner gezogen. Kein Büttel war da. der den Bischöfen und Dechanten den Festtag und die Feier gestört hätte. »Maria, Jungfrau reine im hohen Himmelsthron,« sangen die christlichen Beter, aber diesmal kamen sie zu keiner Sammlung. Ihre Gedanken waren in den Gegenden der Mitternacht, wohin die Männer und Jünglinge geeilt. Ganz eigentümliche Gerüchte gingen um, hielten sogar vor den Kirchenthüren nicht an, drangen hinein und von Mund zu Ohr. Zu Innsbruck auf dem Berge Isel sei das Weltgericht. Es sei keine Schlacht, es sei ein Schlachten. Auf der Plossenalpe könne man bei richtigem Luftzüge die Kanonen hören. Gott gnade den Sterbenden!

Mittlerweile war der Mahrwirt umhergestiegen in Thal und Gebirge. In Bauernhöfen und in Holzknechthäusern und in Halterhütten hatte er zugesprochen, selbst in geruhsamer Nacht die Leute geweckt und ihnen zugerufen: »Auf, Männer! Los geht's wieder! Alle müßts mit!« Viele erkannten ihn schon an der Stimme: »Ah, der Mahrwirt ist's!« Dem Manne wollten sie gern folgen, sie machten sich bereit. Bis ans Sellajoch war Peter hinaufgekommen. Dort zwischen den starren Felsen fand er ein Menschenpaar, das im Wurzelgraben aus war, mit dem Eisen zwischen dem Gestein herumstach und sich dabei gegenseitig mit harten Worten Schimpf und Schmach zuschrie. Der rotbärtige Wurzner Zanggl war's und sein schwarzhaariges Weib. Die feurigsten Namen fielen dem Weibe ein, es war ganz unerhört, wie dieses Wesen diesen Mann hassen mußte. Und als Peter nun zum Zanggl ging und ihn anwarb, hub das Weib jämmerlich an zu klagen, und ihren guten Mann ließe sie nicht fort und ihren lieben Mann ließe sie nicht erschießen. Der Zanggl mußte lachen und zum Mahrwirt sagte er: »Du kannst dir's denken, wie hart ich fortgeh'! Aber ich bin halt den Feind schon gewohnt.« Einen schnalzenden Schmatz gab er seinem Weibe, dann ließ er sie stehen zwischen den wilden Bergen und ging »Boarnderschießen«. Als sie weit unten waren, schon bei den ersten Häusern von Sankt Maria, schaute der Wurzner einmal um und that leise die Bemerkung: »Wenn sie nur mitgegangen wär'! Von der hätt' auch der Franzos Grugl und Graus kriegt!«

Ernst und wortlos war der Abschied andrer. Viele küßten Weib und Kind nicht, sagten nicht »Behüt Gott!« aus Furcht, weich zu werden. Als ob es in den Holzschlag ginge, so schritten sie davon und schauten nicht mehr um.

Im Kirchlein zu Sankt Peter an der Gröden wohnte am Maria-Himmelfahrtstage der Mahrwirt einer Messe bei. Es war sein Geburtstag, er hatte den gleichen mit dem Bonaparte. Sein Gebet war ein leidenschaftliches. Ueber dem Altare stand geschrieben: »Herr, nicht mein, sondern dein Wille geschehe!« Der Mahrwirt sah flüchtig den Vers, blickte aber nicht mehr hin. Gott könnte wollen, daß Tirol wieder bayrisch werde. Der Tiroler will das nicht, und eher sterben! »Herrgott!« betete Peter, während seine gehobenen und gefalteten Hände bebten, »um deines Namens willen, verlaß uns nicht, hilf uns siegen, vernichte den Feind, unser ist das Recht. O Herr der Heerscharen, ich bitte dich um deines heiligen Kreuzes willen!« – Aber es war keine glückliche Stunde, auf einmal fiel ihm ein: auch im Bayernlande gibt es noch Kirchen, auch dort knieen Soldaten, ihre Weiber und ihre Kinder vor dem Altare und richten an den Herrn der Heerscharen das gleiche Gebet: laß uns siegen, vernichte den Feind! – Und des Herren sind sie hüben und drüben. – Fast unmutig trat der Mahrwirth aus dem Kirchlein. Kurz und herb rief er seinen Männern zu, die um das Wirtshaus herum ein wenig gelagert hatten, sie müßten weiter.

Mit einem eisenfesten Trupp kräftiger und waghalsiger Männer kam der Mahrwirt im Brixnerthale an. Die vom Grödnerthale, das sind Kerle wie von Stahl und Stein. In Eilmärschen wollte er mit ihnen zu Hilfe eilen gegen die Hauptstadt. An der Brücke bei Mittewald begegnete ihnen ein rasch reitender Sendbote vom Sandwirt.

»Ist der Mahrwirt unter euch?« rief dieser in die Truppe hinein.

»Der steht da, was willst von ihm?« fragte Peter.

»Umkehren könnts,« stieß der Bote hervor. »Aus ist's. Der Anderl laßt sagen: Mir brauchen enk nit.«

Und weiter sprengte der Bote auf schnaubendem Roß.



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