Peter Rosegger
Peter Mayr der Wirt an der Mahr
Peter Rosegger

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Wo ist der Hans?

Ein unheimlicher Tag war das gewesen. So lärmend die vorhergehende Nacht verlaufen, so schweigend verging der Tag. Zu Brixen waren alle Aemter geschlossen und nirgends zeigte sich ein Kanzleimensch. Nur ein dicker gemütlicher Gerichtsdiener saß auf der Bank vor seiner Wohnung und sagte zu jedem, der vorüberging: »Nun also, jetzt wären wir halt wieder alttirolisch! Mir ist's auch recht.« Das Thal war fast menschenleer. Merkwürdigerweise hatte sich alles in die Wälder verzogen; mancher Fremde horchte von seinem Verstecke aus, ob in den Wäldern nicht schon das Schießen angehe. Am Abende, als die Dämmerstunde kam, war in der ganzen Gegend kein Hausthor offen. In vielen Höfen waren die Eingänge schwer verrammelt, sogar die Fenster mit Latten und Balken vernagelt, und doch schien kein Mensch in den Häusern zu sein. Die nicht fortgegangen waren, hatten sich wohl gar in die hintersten Gelasse, in die Dachwinkel oder in die Keller versteckt. Die Hunde waren von ihren Ketten losgelassen, die Herden sowie Kinder und zaghafte Weiber auf die Almen gejagt worden.

Auch das Wirtshaus an der Mahr war zeitlich geschlossen worden; es meldeten sich doch keine Gäste mehr und die wenigen, die auf der Straße waren, eilten hastig vorüber. Das Unheimlichste war fast noch, daß nirgends Soldaten oder bayrische Patrouillen zu sehen waren. Leute, die von der Gegend des Inn kamen, wußten aber zu erzählen, daß große Truppen sich gegen die Klemme und gegen den Brenner vorschoben.

Als es schon finster war, sprang rückwärts von der Felswand her der Mahrwirt und huschte vom Stalle aus durch ein Thürchen ins Haus. Er kam, um, wie er sagte, sein Schußgewehr zu holen.

»Wie steht's?« fragte ihn sein Weib.

»Es steht gar nicht mehr, es geht schon,« antwortete Peter. »Da oben an der Wand kannst du das Schießen hören von der Eisackschlucht her. Hinter Mittewald arbeiten sie schon. Auf dem Sterzinger Moos geht's auch um, dort steht der Sandwirt mit den Passeiern und Etschthalern. Und Franzosen überall, als ob sie aus der Erde wachsen thäten. In der Nacht soll ein ganzes Regiment durchgezogen sein, vom Etschthal her. Mit Kanonen. Es kann lustig werden. Die Brixenthaler stehen fest, die Grödner sind auch schon da, und die Fleimser, und die vom untern Pusterthal. Man möcht's nicht glauben, wie viel es Männerleut' gibt im Gebirg. Wir stehen an der Mühlbacher Klause, daß wir den Einmarsch der Kaiserlichen decken. Sie müssen bald da sein. Den ganzen Tag haben wir müssen zurückhalten, die Leute können's schon nimmer erwarten. Ah, diese frische Luft, wie sie wohl thut! Gottlob, Gottlob!«

»Die heilige Jungfrau Maria möcht euch beistehen!« sagte Frau Notburga und faltete die Hände. »Peter, ich bitte dich, sei nicht tapfer allein, sei auch klug, denke an deine Kinder, an uns alle . . .«

»Weib,« sagte er, »wenn ich jetzt mit der Axt in den Wald ginge, um den Wildbach zu verhauen, ruhiger könnte ich nicht sein. Ich habe mir's selber anders gedacht. Und dabei so etwas Feierliches, als wie zu einer Fronleichnams-Prozession. – Für mich ist keine gegossen. Dein Tagewerk ist nicht geringer, als das meine. Vielleicht größer. Weib, hüte das Haus, hüte die Kinder. Lasse keins zur Thür hinaus, bis wir zurück sind. Und sonst, das Kistlein ist in die Felswand vermauert, das Geld unter dem Dachfirst, du weißt es ja. Es ist alles geordnet. Alles mit der Hilfe Gottes. Die Kinder erziehen in Rechtschaffenheit und Treue, in Wahrhaftigkeit, und niemanden fürchten, als Gott den Herrn. – Schlafen sie schon?«

Er thut doch, als wollt er Abschied nehmen, dachte Frau Notburga und verhüllte mit der Schürze das weinende Gesicht. »Sie schlafen schon.«

»Daß sie schlafen, ist mir lieb,« sagte er und trat in die Stube ein. »Sehen will ich sie doch. Abschied nehmen, das nicht. Aber wie ein Segen ist es, wenn man so in ein unschuldiges Gesichtel schaut.«

Die drei Kinder lagen jedes in seinem weißen Bettlein und schlummerten süß. Zuerst ging er zum Hans und machte ihm mit dem Daumen ein Kreuzzeichen über das schöne Gesicht. Die Züge des Knaben waren fast trotzig, als träume er von Kämpfen. Hernach ging Peter zum Kleinsten, der lieblich wie ein Engel in der Wiege lag und im Schlafe ein wenig lächelte. Er neigte sich nieder über das Kind und drückte einen sanften Kuß auf das weiße Stirnchen. Endlich kam Peter zum Marianlein, das mit rosigem, von weichen Haarlocken umwalltem Gesichtchen gar ernsthaft dalag und die Hände wie betend über der Brust faltete. Lange stand der nun zum rauhen Krieger gewordene Vater davor und blickte nieder auf dieses Bild des Friedens. Und da kamen ihm innige Gedanken. – Ihre kleine Seele kniet jetzt vor dem allmächtigen Gott und bittet für den Vater um Schutz und Beistand. – Kinder, auch euch befehle ich seinem Schutz und Schirm! – Als er sich niederbeugte, um das Mädchen zu küssen, hob dieses die Arme im Schlafe, umfing seinen Nacken und rief mit heller Stimme: »Vater! Vater! bleib bei uns!« Und leise lallend setzte sie bei: »Unter dem Palmbaum schlafen?« – Dann sanken die kleinen Arme zurück, das Kind schlummerte weiter.

Schon früher war Augustin geweckt worden. Als er nun vor dem Schwager stand, war dieser nicht überrascht, er fand es selbstverständlich, daß jedes streitbare Landeskind heimkehre in solchen Tagen. Als die beiden Männer gerüstet dastanden, steckte Frau Notburga dem Gatten noch ein Weihebildchen in den Busen. Sie reichten sich die Hand und dann gingen die Männer ohne weiteren Abschied davon.

Es war schon spät geworden, die wenigen dienstbaren Hausgenossen hatten sich längst verlaufen; alles schien sich der alltäglichen Ordnung zu entwinden und in die große, außerordentliche einzufügen. Nur die Magd Hanai mußte noch im Hause sein, die schlief auf ihrem Stroh wahrscheinlich schon wie eine Ratte. Frau Notburga löschte das Licht aus und wollte sich endlich auch zur Ruhe begeben. Doch sie fand keine auf ihrem Bette, es war ihr so unheimlich zu Mute und sie stand wieder auf. Sie öffnete das Fenster und horchte hinaus. Es war eine schwüle, finstere Nacht, am Himmel kein Stern, auf den Bergen einzelne Feuer. Die Straße öde, nur das ewige Rauschen des Eisack durchzitterte die Luft. – So bange ward ihr, daß sie mit der Laterne hinausschlich in die Stallkammer, um die Hanai zu wecken. Aber die Magd Hanai war nicht da. Ihr Bett stand unberührt, die Kühe im dunstigen Stalle hatten in ihren Krippen frisches Futter; die Tiere saßen mit hingelegten Köpfen da, glotzten stier auf die Laterne und scharrten im Wiederkäuen mit den Zähnen. – Alles ist davon, nur Frau Notburga allein mit ihren Kindern im Straßenhause, von unendlichen Fährlichkeiten umgeben.

Zur Labe in der Angst wollte sie die Kinder sehen. Daher verschloß sie die Fensterbalken, zündete das Licht an und setzte sich hin zwischen die Bettchen. Hans schlief unruhig und hatte über der Decke die beiden Fäuste geballt. Marianna lallte mehrmals im Traume ein halbverständliches Wort. So ruhig und still das Kind sonst am Tage war, im Schlafe pflegte es manchmal laut und deutlich zu sprechen, sogar auf Fragen zu antworten, die man ihm gab. Am Tage, wenn es so sanft dasaß, ihm alles recht war, wenn es weder etwas Kluges noch etwas Kindisches sagte, da hätte man denken können, es sei in der geistigen Entwickelung etwas zurückgeblieben; im Schlafe jedoch sprach das Mädchen Dinge, die hoch über dem Seelenkreise eines fünfjährigen Kindes stehen. Träumend sang sie Kirchenlieder, sprach lange Gebete und Sprüche, die sie nie gehört haben konnte, und sagte manchmal Worte, die wie Weissagung klangen und doch eigentlich nicht zu verstehen waren. Also kam der Frau Notburga jetzt der Gedanke, sie könnte das schlafende Kind leise fragen, was die großen Begebenheiten, die in Tirol anfingen zu geschehen, für ein Ende nehmen würden. Aber sie hatte doch nicht den Mut, die Ereignisse zu beschwören und frevelhaft der göttlichen Fürsehung vorzugreifen. Wollte Gott die Wahrheit kund thun, so habe er wohl auch andre Mittel, sie zu enthüllen; der Mensch soll seinen heiligen Ratschluß nicht versuchen.

Draußen war das dumpfe Tosen des unbändigen Flusses. Manchmal, wenn wilde Wetter niedergegangen im Gebirge, oder wenn im Lenze der Föhn in den Schnee gefahren, da hat der Eisack grausig krachend an die Grundfesten des Hauses geschlagen. Wie ehern und unerbittlich ist die Natur, und doch wie gleichmütig, wie zornlos im Vergleiche zu wütenden Menschenmassen! Schon eine einzige feindliche Hand kann in diesen Zeiten der Willkür das Haus an der Mahr verderben mitsammt den Bewohnern. Die beschützenden Männer sind alle fortgezogen.

Horch! Bewegt sich jetzt nicht der Mund des schlummernden Mädchens! Der Frau Notburga dürstet nach einem Laut aus Menschenmunde. Worte flüstert es, anfangs lallend, undeutlich, dann klar und verständlich. In getragenem Tone spricht das schlafende Kind: »Menschenherz, du kummervolles, komm zu mir. Birg dich an meine Brust. Meine Brust ist voller Gnaden und Liebe. Ich bin der Mächtige, der die Himmel trägt. Ich verlasse dich nicht. Erbarmen habe ich den Betrübten, Hilfe den Sinkenden. Deine Feinde, vor denen du heute zitterst, liegen morgen zerschmettert zu meinen Füßen. Der Herr bin ich. Nichts besteht vor mir, als das reine demütige Herz. Lasse fließen das Wasser von deinen Augen und vertraue dich mir. Lasse fließen den Tau auf deine heiße Angst und sinke in meinen Arm. Ich bin deine feste Burg. Ich bin dein gewaltiger Herr und dein treuer Freund. Alles, was du Leides hast, lege in meine Hand. Alles, was du Liebes hast, lege an mein Herz. Ich bin dein erbarmender, liebender Gott . . .«

Also hatte das Mädchen gesprochen, dann schwieg es und schlummerte ruhig weiter.

Von der Fülle des Trostes überwältigt, sank Frau Notburga auf die Kniee und Frieden senkte sich nieder auf ihren müden Leib.

Als sie am Bette des Kindes kauernd wieder erwachte, war die Kerze herabgebrannt und zu den Spalten der Fensterbalken leuchtete heller Tag herein. Im Lichte der geöffneten Fenster schlug zuerst Hans die Augen auf. Er richtete sich rasch empor, blickte in der Stube umher und fragte: »Wo ist der Vater? Ist der Vater schon fortgegangen?«

Als das die Mutter bejahte, schwieg er und kleidete sich rasch an. Es kam die Morgensuppe, er aß sie schweigend und rasch. Frau Notburga schaute zum Fenster hinaus. Die bereits hoch am Himmel stehende Sonne sog den leichten Wolkenschleier auf, ein blauer Dunst lag über dem Thale. Auf der Straße rasselte mancher Wagen heran, von schnaubenden Pferden gezogen; an einem dieser Wägen fehlte das vierte Rad, es schien nicht Zeit zu sein, selbes zu schaffen; auf seinem Stroh lag ein Menschenkörper. Auf andren Wägen waren die Dinge verhüllt mit Reisig und Moos. Ueber die Auen sprengten Reiter daher. Von der Ebene bei Brixen herüber schimmerte eine wogende Masse von Soldaten in allen Farben; Trompetenstöße zerrissen die Luft. Ueber den Ortschaften Neustift, Valun und anderen Dörfern lag eine Rauchschicht und hoch oben bei Sankt Leonhard standen mehrere Höfe in Flammen. In der Luft war manchmal ein Schlag, ähnlich dem, wenn man ein Tuch ausschlingt, wegen des Wasserrauschens konnte man es aber nicht unterscheiden, ob es Kanonenschüsse waren oder anderer Lärm.

Unten am Hausthore pochte es wiederholt und fremde Stimmen verlangten polternd nach Einlaß. Frau Notburga schloß wieder den Fensterladen, zündete eine geweihte Kerze an und sagte: »Kinder, kniet nieder, wir wollen beten.«

Sie knieten um den Tisch herum, selbst der kleine Peter faltete seine Händchen und lallte mit drein, als sie anhuben, laut den Rosenkranz zu beten von den »schmerzhaften Geheimnissen« des Leidens und Sterbens Jesu. Als der Rosenkranz vorüber war, betete Frau Notburga aus dem Buche laut die Litanei für Sterbende. – Sie fallen hin und haben keinen Zuspruch und keine Anrufung, also dachte sie und opferte ihr Bitten und ihre Stoßseufzer für alle auf, »die zu dieser Stund' müssen abscheiden und vor das Gericht Gottes treten«. – Wer weiß, für wen sie betet!

Nach vollbrachter Andacht war ihr wieder etwas tröstlicher zu Mute und sie begann ihre häuslichen Arbeiten zu verrichten. Als sie sich hierauf nach dem Hans umschaute, daß er gewaschen und gestrählt werde, sah sie ihn nicht. Schon während des Gebetes, so wußte die kleine Marianna, war der Knabe zur Thür hinausgegangen. Allsogleich stellte ihm die Mutter nach; er war aber nicht im Vorhause, nicht in der Küche, nicht auf dem Dachboden, nicht unten in der heute so öden Gaststube – er war nicht da. Die rückwärtige Thür war aufgeriegelt.

Frau Notburga erschrak schon, allein die Marianna, die auch wachend ihr zum Troste gegeben zu sein schien, sprach die Vermutung aus, der Hans werde hinausgegangen sein zur Hanai in den Stall, um sein weißes Lämmlein zu füttern, wie er es sonst zu thun pflegte. In der That, des Stalles und seiner Bewohner hätte die Hausfrau an solchem Tage schier vergessen. Wer weiß, ob die Magd schon da ist. Das Kind muß daran denken, daß die Thiere ihren guten Appetit sich durch kein Menschenschlachten verkümmern lassen.

Das Stallthor stand halb offen. Die Rinder rasselten schon ungeduldig an ihren Ketten, die Schafe blökten. Allein die Hanai war nicht da und der Hans war auch nicht da.

»Und das weiße Lämmel ist auch nicht da!« sagte die Marianna, die mit herausgekommen war.

Frau Notburga eilte durch das Hinterthürchen hinaus und um das Haus herum. Sie rief nach dem Knaben, sie rief in den Baumgarten hin, auf die Straße hinaus. Er antwortete nicht und er war nirgends zu sehen. – Sollte er das Lamm in den Wald hinaufgeführt haben, daß es grase? Sollten fremde Leute in den Hof gedrungen sein, Diebe, Räuber . . .?

»Wo ist mein Hans?« schrie sie grell auf, es war wie ein Hilferuf.

»Er ist dem Vater nach,« sagte das Mädchen plötzlich.

»Er is dem Atta nach!« rief auch der kleine Peter, und sein Stimmlein jauchzte.

Dem Vater nach! Die Mutter rang ihre Hände: »Gott im Himmel, welch eine Zeit!«



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