Stanislaw Przybyszewski
Homo Sapiens
Stanislaw Przybyszewski

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XI.

Er wachte auf. Ja, wirklich? Er hörte deutlich eine Melodie: tiefe, mystische Baßmelodie und wie ein fernes Echo ein Ton und wieder ein Ton, vereinzelt, winselnd im Diskant. Seine ganze Seele warf sich in diese heilige Melodie und saugte sich an ihr fest und wand sich an ihr empor, kroch zusammen und weitete sich mit neuer Kraft: es tat so unendlich wohl. Es war ihm, als hätte sich alles Schwere, alles Dumpfe und Furchtbare in seiner Seele aufgelöst, langsam aufgelöst und würde nun zu dem Wesen, zu der irren, weichen Sehnsucht dieser Töne ... Nie hatte er eine so weiche, selige Sehnsucht empfunden.

Es war wohl Nacht. Er wagte nicht die Augen aufzumachen, es war so unendlich gut, diese Sehnsucht zu fühlen. Es war Nacht, und er hatte eine selige, freudige Sehnsucht nach dem morgigen Tag, dem heißen, kurzen, farbenbrünstigen Herbsttage. Es regnete wohl auch draußen, aber morgen, morgen kommt die Sonne und wird den Regen aufatmen und an den Blättern weiter fressen: oh, dies herrliche kranke Purpurgelb ...

War er wach, war er es wirklich?

Noch immer hörte er die Melodie, immer weicher, immer trauriger, und er lag da, aufgelöst in dieser Sehnsucht, aufgelöst in diesem Schmerze, der eigentlich kein Schmerz war – nein: ein Zurückfluten, eine weichende Erinnerung, ein irres Sehnen nach fremden, weiten Ländern, nach einer großen, orgiastischen Natur, in der jede Blume zu einem Riesenbaum auswächst, jeder Berg sich in den Wolken verbirgt und jeder Fluß uferlos schäumt und rast ...

Da fing sein Herz heftig zu schlagen an. Er faßte es mit beiden Händen fest ... Ja, hier, hier zwischen der fünften und sechsten Rippe fühlte er den Herzschock – er fühlte die Herzspitze zuerst gegen die flache Hand schlagen, dann gegen zwei Finger, er drückte zuletzt seinen Zeigefinger gegen die Stelle fest ... Wie das arbeitet! Ob Grodzki wohl zuerst sein Herz auf diese Weise betastet hatte?

Er setzte sich im Bett zurecht und stützte seinen Kopf in beide Hände.

Grodzki hat sich erschossen ... Das war, was er ganz sicher wußte. Er hat sich erschossen, weil er sterben wollte. Er starb mit Willen, er starb am Ekel, er wollte nicht mehr den jungen Tag sehen und das kranke Purpurgelb.

Aber wozu denn sollte er darüber nachdenken? Sollte er diese selige Harmonie in seiner Seele wieder zerstören? Aber was sagte der fremde Mann? Falk, Falk, Sie kennen nicht diese Harmonie: das geht über alle Ruhe, über alles Heilige, über alle Seligkeit hinaus ... Aber der Mann war ja verrückt.

Falk erschauerte, deutlich sah er die irren Augen des Fremden. Er wühlte krampfhaft mit den Fingern in der Decke. Die Angst packte ihn von Neuem, aber im nächsten Momente wurde er ruhig.

Es war kein Zweifel, daß er nun endlich zum Bewußtsein gekommen war:

Er war also im Lehnstuhl ohnmächtig geworden, als der Fremde sich von seinem Zimmer wegstahl, nun war er im Bett, also mußte er ins Bett getragen worden sein. Ja, und der Knopf? Der goldene, blinkende Knopf lag wirklich auf dem Schreibtisch ... Er war also wach und bei vollem Bewußtsein.

Er fühlte eine ganz unmittelbare, tierische Freude.

Dann fiel er wieder in die Kissen zurück und lag lange Zeit wie in Ohnmacht.

Als er wieder zu denken begann, war er aus dem Bett gestiegen und fing sich an anzukleiden. Aber er war doch sehr schwach. Halbangekleidet legte er sich wieder aufs Bett und starrte gedankenlos auf die Decke.

Lächerlich, wie schludrig die Decke bemalt war! Der Haken für die Hängelampe sollte eigentlich in der Mitte sein. Nun gut. Die Decke ist ein Parallelogramm. Nun zieh ich die Diagonalen.

Er wurde ganz wütend.

Lächerlich! Das war durchaus nicht der Schnittpunkt. Das ganze Zimmer war ihm widerwärtig. Er war eingesperrt in diesem engen Raum mit seiner dumpfen Qual, und draußen war die Welt so weit ...

Wieder empfand er die heiße Sehnsucht, nur weit, weit weg – auf den Stillen Ozean.

Ja, den Stillen Ozean! Das war die Erlösung. Das war die Erlösung zur ewigen Ruhe, zur ewigen Harmonie ohne Qual, ohne Freude, ohne Leidenschaften ...

Wie zitterte damals sein junges Herz! Seine Glieder wurden so schwach von der beständigen Angst. Rings um die Kirche auf dem Rasen sah er Menschen, viele Menschen, die auf den Knien lagen und Gott um Gnade anflehten, er sah sie an, sein Herz schlug immer heftiger, seine Unruhe wuchs, die Sünde brannte auf seinem Herzen wie ein Feuermal. Nun sollte er beichten, einem fremden Menschen die schändliche Scheußlichkeit erzählen ... Und in seiner verzweifelten Seelenangst nahm er das Gebetbuch und las fünf-, sechsmal mit zitternder Inbrunst die Litanei an den heiligen Geist. Und ein Friede kehrte in sein Herz ein, ein heiliges, verklärtes Verzücken, seine Seele wurde rein und weit wie der heiße Mittag um ihn her. Nun mußte er hinein in die Kirche. Da packte ihn Angst. Hat man nicht um die Mittagszeit einen schwarzen Reiter auf einem schwarzen Hengst sich in der Kirche tummeln gesehen? ... Er schlich vorsichtig an die Sakristeitür ... Er horchte, dann öffnete er langsam die schwere Tür und taumelte im tierischen Schreck zurück: vor ihm stand der Fremde. Sie haben seine Seele zerstört! sagte er feierlich ...

– Ich träume! Ich träume! schrie Falk, wachte auf und sprang aus dem Bett.

Isa fuhr auf.

– Ich bin es, Erik, ich bin es, kennst Du mich nicht?

Falk starrte sie eine Weile an, dann atmete er tief auf.

– Gott sei Dank, daß Du es bist!

– Sag, sag, Erik, was fehlt Dir? Fühlst Du Dich sehr krank? Ist Dir besser? Ich hatte so entsetzliche Angst um Dich.

Falk nahm sich mit aller Kraft zusammen.

Zum Donnerwetter! Sollte er nicht das Bißchen Krankheit überwinden, sollte er nicht endlich einmal seine kleinen, lächerlichen Schmerzen vergessen können? fuhr es ihm durch den Kopf.

– Ich bin gar nicht mehr krank, sagte er fast munter. Ich hatte nur ein wenig Fieber, das blieb von damals, – he, he, in der Heimat hab ich mir das Fieber geholt, nichts weiter.

Sein Kopf wurde plötzlich ungewöhnlich klar.

Du bist krank, Erik, Du bist es. Dein Körper glüht. Leg Dich, ich bitte, leg Dich. Heute Morgen lagst Du auf dem Boden. Der Arzt sagte, Du sollst ein paar Tage liegen ...

Er wurde ein wenig ungeduldig.

– Aber so laß mich doch ... Ich war schon seit langem nicht so klar und so leicht, wie gerade jetzt. Die Ärzte sind Idioten, was wissen sie von mir? He, he, – von mir ...

Er zog sie an sich. Sein Herz wurde plötzlich überfüllt von einer überströmenden Herzlichkeit und Liebe zu ihr.

– Wir werden einen wunderbaren Abend heute haben, Du bringst Wein, dann setzen wir uns hin und werden uns die ganze Nacht erzählen ... Erinnerst Du Dich, ganz wie damals in San Remo auf unserer Hochzeitsfahrt.

Sie sah ihn an.

– Ich habe niemals einen Menschen gesehen, der so stark wäre, wie Du. Das ist sonderbar, wie stark Du bist ...

– Ich lag also auf dem Boden?

– Du kannst Dir nicht denken, was das für ein Aufruhr im Hause war ...

– Nun, geh nur jetzt, nachher wirst Du mir Alles erzählen ...

– Aber war nicht ein fremder Mensch hier? fragte Isa.

– Ein Fremder? Nein!

– Dann hab ich wohl geträumt.

– Sicher.

Sie ging.

Falk kleidete sich an.

Natürlich hast Du geträumt, teure Isa, Du hast überhaupt sonderbare Träume.

Er lächelte zufrieden.

Er überlegte, ob er Frack und weiße Krawatte nehmen sollte. Es war doch das große Fest des Friedens, das Fest der Ruhe, der ewigen Harmonie.

Er war im Zustande eines triumphierenden Entzückens.

Jetzt endlich hab ich mich gefunden, Mich selbst, Mich – Gott.

War er noch krank? Seine Gedanken waren erhitzt. Die innere Aufregung schäumte zitternd empor ...

War es vielleicht nur ein Augenblick einer physischen Reaktion nach all dieser Qual und Angst?

Was ging ihn das an? Er hatte jetzt Alles vergessen. Sein Körper reckte sich in dem Gefühl einer lange nicht gekannten Seligkeit und Energie.

– Ach, Isa, bist Du schon hier?

– Du machst da seltsame Turnübungen.

– Ich vertreibe die Krankheit. Aber etwas zu essen ...

– Ja, komm nur ins Speisezimmer.

Er aß etwas, aber ohne besonderen Appetit.

– Ich bin wie neugeboren, Isa, ganz wie neugeboren. So verjüngt. Ich habe viel gelitten. Nein, nein, versteh mich doch recht, ich habe kein persönliches Leides gehabt, nur der ganze Jammer da draußen lastete auf mir und machte mich so elend ...

Sie sah ihn jubelnd an.

– Sonderbar, sonderbar ... der Arzt sagte doch, Du werdest mindestens drei Tage liegen, und ich habe lange schon nicht diesen Ausdruck von Kraft und Energie in Deinem Gesichte gesehen. Du bist anders wie alle Menschen.

– Ja, ja, das ist die neue Kraft. Trink, trink mit mir ... Ich war so wenig mit Dir zusammen ... Trink das ganze Glas aus.

Sie tranken aus und Falk füllte die Gläser von Neuem.

Er setzte sich neben sie hin, nahm ihre beiden Hände und küßte sie.

– Wir sprachen schon lange nicht zusammen, sagte er.

– Jetzt ist Alles gut, nicht wahr? fragte sie zärtlich.

– Es wird gut werden. Wir reisen von hier weg ... Was denkst Du über Island?

– Ist das Dein Ernst? Du machst so viele neue Pläne ...

– Diesmal ist es mein Ernst, weil es eben kein Plan ist. Es fiel mir ein heute, gestern, ich weiß eigentlich nicht wann, aber ich muß von hier weg.

Isa strahlte. Sie wollte es ihm nicht sagen, aber sie fand es unausstehlich in dieser langweiligen Stadt.

– Denk, so ein kleines Fischerhaus am Meer. Nicht wahr? Wundervoll! Und die Herbstnächte, wenn die Wellen diese furchtbare Ewigkeitsmusik am Strande spielen. Aber Du wirst Dich nicht langweilen?

– Hab ich mich jemals mit Dir gelangweilt? Ich brauche keinen Menschen, nichts, gar nichts brauch ich, wenn ich Dich nur habe.

– Aber ich werde oft weg sein von Dir, sehr oft. Ich werde mit den Fischern auf ganze Nächte hinausfahren, ich werde in die Berge gehen. Und wenn wir zusammen sind, werden wir im Gras liegen und den Himmel anstarren ... Aber trink, trink doch ... Oh, Du kannst nicht mehr so trinken wie früher.

– Sieh doch! Sie trank das Glas leer.

– Und in dieser Zweisamkeit: Du und ich, und Du ein Stück von mir, und wir beide eine Offenbarung der immanenten Substanz in uns ... Er stand auf. Isa! wir werden den Gott suchen, den wir verloren haben.

Sie war wie hypnotisiert.

– Den Gott, den wir verloren, wiederholte sie halb unbewußt.

– Du glaubst nicht an Gott? fragte er plötzlich.

– Nein, sagte sie nachdenklich.

– Du glaubst nicht, daß man ihn finden kann?

– Nein, wenn man ihn nicht in sich hat.

– Aber das meine ich eben: Gott finden, das heißt Gott fühlen, ihn in jeder Pore seiner Seele fühlen, die unmittelbare Gewißheit haben, daß er da ist, die wilde übernatürliche Macht besitzen, die das Gottesgefühl gibt.

– Willst Du einen anderen Gott suchen, einen Gott außerhalb? Wozu willst Du diesen Gott? Ich will ihn nicht. Ich brauche ihn nicht. Ich habe die unmittelbare Gewißheit des Gottgefühles, ich fühle ihn, so lange Du da bist. Ich brauche nichts Höheres ... Und ich will ein solches Gefühl auch nicht bei Dir dulden. Ich gehe dann nicht mit.

Er sah sie lange an.

– Wie Du jetzt schön wurdest. Als wäre ein Licht plötzlich in Dir aufgeblüht ...

Mit einem Mal verlor er das Gleichgewicht und kam in eine seltsame Begeisterung.

– Ja, ja, ich meine den Gott, der Du und Ich ist. Ich meine das heilige, große Mein-Du! Weißt Du, was mein Du, mein dunkles Du ist? Das ist Jahveh, das ist Oum, das ist Tabu. Mein Du, das ist die Seele, die sich niemals im Gehirn prostituiert hat. Mein Du, das ist die Festtagsseele, die selten über mich kommt, einmal vielleicht, wie der heilige Geist nur einmal über die Apostel kam. Mein Du, das ist meine Liebe und mein Verhängnis und mein Verbrecherwille! Und meinen Gott finden, das heißt: dies Du erforschen, seine Wege kennen lernen, seine Absichten verstehen, um nicht mehr das Kleine, das Niedrige, das Ekelhafte zu tun.

Isa wurde hingerissen. Sie faßten sich heftig an den Händen.

– Und Du willst mich lehren, es in mir zu finden und zu erforschen?

– Ja, ja ... Er sah sie an, als hätte er sie nie vorher gesehen.

– Und Du wirst in mir sein?

– Ja, ja ...

– Ich bin Dein, Deine Sache und Dein Du ... Bin ich es?

– Ja, ja ... Er fing an, zerstreut zu werden.

– Wir sind arm, Isa, sagte er nach einer Weile, ich habe das ganze Vermögen verloren.

– Wirf auch den Rest weg, schrie sie ihm lachend zu und warf sich ihm an die Brust.

Angst stieg plötzlich in ihm auf.

– Du, Du – wenn es morgen vorüber ist? Ich habe ein solches Mißtrauen zu mir.

– Dann werd ich Dich mitziehen.

– Aber ist es vielleicht nicht nur eine Übermüdung, eine überreizte Stimmung, die uns in diese Ekstase peitscht?

Er fuhr auf.

– Ich lüge, ich lüge, sagte er plötzlich heiser, ich habe zu viel gelogen ... Jetzt ...

Er brach ab. Der Gedanke, ihr jetzt Alles zu sagen, Alles haarklein zu erzählen, fuhr ihm durch den Kopf und wuchs zu einer großen, maniakalischen Idee aus.

– Isa! Er sah sie an, als wollte er sich in den Grund ihrer Seele hineinbohren ... Isa! wiederholte er, ich habe Dir etwas zu sagen.

Sie fuhr erschreckt auf.

– Kannst Du mir Alles, Alles verzeihen, was ich Böses getan habe?

Das Geständnis drängte sich mit unwiderstehlicher Macht über seine Lippen. Jetzt könnte er es nicht mehr zurückhalten. Er faßte ihre Hände.

– Alles? Alles?!

– Ja, Alles, Alles!

– Und wenn ich das Eine wirklich getan hätte?

– Was? Sie wich entsetzt zurück.

– Dies ... mit einem fremden Weib.

Sie starrte ihn an, dann schrie sie mit einer unnatürlichen Stimme auf:

– Quäl mich nicht!

Falk kam augenblicklich zur Besinnung. Er fühlte Schweiß über seinen ganzen Körper rinnen.

Sie sprang auf ihn zu und stammelte zitternd:

– Was? – Was?

Er lächelte eigentümlich mit einer überlegenen Ruhe.

Im selben Nu bemerkte Isa, daß er leichenblaß wurde, und daß sein Gesicht zuckte.

– Du bist krank!

– Ja, ich bin krank, ich habe meine Kräfte überschätzt.

Er sank im Sofa zusammen und in einem wilden Wirbelstrom fuhren die Erlebnisse der letzten Tage durch den Kopf. Er sah Grodzki:

– Man muß es mit Willen tun können!


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