Stanislaw Przybyszewski
Homo Sapiens
Stanislaw Przybyszewski

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V.

Es war Nacht. Draußen raste ein starker Wind; von Zeit zu Zeit peitschte er gegen die Fenster dicke Regenschauer, die an den Scheiben winselnd niederflossen.

Marit saß halbangekleidet auf ihrem Bette; sie hatte nicht Kraft genug, sich auszukleiden.

Wozu auch? Sie kannte es von vielen Nächten her. Sie würde sich hinlegen, das Bett würde mit ihr im Zimmer herumtanzen, dann würde sie sich aufrichten und die Kissen zurechtrücken und in die finstere Stube hineinstarren, dann ganz aufstehen und die Stirne gegen die Fensterscheibe pressen; und so wieder von neuem, stier brütend, gedankenlos.

Das ist alles gleichgültig, alles umsonst ...

Sie wiederholte dies in ihren Gedanken mit immer neuem Schmerz.

Vor dem Bilde der wundertätigen Maria brannte das rote Öllämpchen, das sie immer von neuem gefüllt hatte, und das gespenstische Licht erleuchtete zur Hälfte das Zimmer.

Der Docht kippte um, und die Flamme fraß an dem Öl. Ein schlechter Geruch qualmte durch das Zimmer.

Die schweißige Kirche mit dem üblen Geruch – unwillkürlich dachte sie an Falks Worte.

Sie löschte die Flamme aus; nun war es ganz dunkel.

Sie stierte gedankenlos in die öde Leere des Dunkels.

Mein Gott, was wollte er nur mit ihr, was wollte er nur?

Eine glühende Blutwelle schoß in ihr Gesicht.

Sie ahnte es; sie verstand es nicht. Da mit einem Male fühlte sie seine suchenden Lippen. Es war ihr, wie wenn sich eine zackige Blitzschlange durch ihre Brust gebohrt hätte.

Sie konnte nicht denken, sie fühlte nur den wilden, begehrlichen Schauer durch ihren Körper zucken. Sie stemmte beide Hände zwischen die Knie, beugte sich vornüber und zog die Beine an sich. So saß sie zusammengekauert auf dem Rand des Bettes und horchte mit ängstlichem Schmerz auf das Unbekannte, Furchtbare.

Was war das? Das kam so oft; immer von neuem. Sie fürchtete es. Sie zitterte davor. Oh wie gerne, oh wie gerne, möchte sie ihm um den Hals fallen, heiß, wild, in stummer Leidenschaft, und ihn küssen, ja – küssen ...

Aber dann kam es wieder und machte sie verrückt; die Sinne vergingen ihr, alles tanzte dann in Kreisen um sie herum.

Das war die Sünde.

Sünde! Sünde!

Sie riß sich auf; sie flog an allen Gliedern, tastete zitternd nach den Streichhölzern, fand sie nicht; sie warf sich vor dem Bett auf die Knie.

Sie suchte sich zu sammeln, zum Gebet.

Aber Sie konnte kein Wort finden.

– Lächerliche Formeln! hörte sie deutlich Einen hinter sich höhnen.

Entsetzt drehte sie sich um. Nein, es war in ihr! Falk hatte in ihr gesprochen.

– Alles tun Sie um der eingebildeten Himmelsfreuden willen. Seien Sie doch Sie selbst!

– Gott, Gott! stöhnte sie laut.

Plötzlich kam es ihr vor, als hätte jemand ihr verboten zu beten. Sie versuchte sich zu zwingen, sie rang nach Worten.

Nein, es ging nicht. Kein Wort! Maria hatte sie verlassen.

Wofür strafte sie nur Gott so grausam? Was hatte sie denn getan?

Lächerliche Formeln – die Brunst nach Glück – übelriechende Kirche: seine Sätze sausten ihr im Kopfe, jagten, überstürzten sich.

Eine trostlose Müdigkeit ließ sie ganz in sich zusammensinken.

Und er sagte, daß sie ihn nicht liebe! Wie sagte er doch nur? Ja, die Formel sei stärker, als ihre Liebe – nein, nein! Er solle es sehen! Sie wolle ihn lieben! Sie wolle ihn umarmen! Ja, sie wolle ihn lieben. Möge Gott sie verdammen, in die tiefste Hölle stürzen, aber sie werde ihn lieben.

Sie riß sich auf und ging ans Fenster.

Sie versuchte zu denken.

Draußen brauste der Frühlingswind und heulte in den Bäumen.

Sie fühlte wieder seine Arme um ihren Nacken; sie widerstrebte nicht; sie gab sich ihm. Sie sog mit allen Poren das giftige Glück in ihren Körper, sie ließ sich nehmen, sie gab sich ihm – o, Ihm – so heiß – so warm.

Nein! Nein!

Endlich fand sie die Streichhölzer.

Sie machte Licht; ein schwankender Streifen fiel auf das Gesicht der byzantinischen Madonna.

Marit blieb gebannt stehen, willenlos ohne sich rühren zu können.

Sie starrte mit wachsendem Entsetzen.

In dem fiebernden Hirn des Kindes verschob sich das Antlitz der Gottesmutter zu einem höhnischen Grinsen, dann zu schmerzvollem Mitleid und nun zum furchtbaren, strafenden Ernst.

Sie wollte sich niederwerfen, sie konnte nicht. Sie war wie eingewurzelt in den Boden. Angstschweiß trat ihr auf die Stirn; sie keuchte. Das Entsetzen schnürte ihr das Herz zusammen.

Endlich zeigte ihr die Unbefleckte das alte, holdselige Lächeln.

Unter dem Bett her kam ein rauschendes Knistern. Verstört sprang sie zur Seite; sie wagte nicht Atem zu holen.

Nein, es war nur in der Tapete.

Sie wollte fliehen; das ganze Haus saß voll von Gespenstern. Sie horchte zitternd, gespannt.

Es war ganz still.

Gott, wie unheimlich, wie gräßlich unheimlich. Sie müsse fliehen, weit, weit weg – zu Ihm – oh, zu Ihm –

Nein!

Beten!

Nein, das konnte sie nicht. Etwas stak in ihr, das ihr die Hände auseinander bog, und wenn sie es versuchte, stieg der Schweißgeruch der Kirche wieder auf und sie hörte seinen Hohn.

O, wie unglücklich sie war. Und Er hatte sie dazu gemacht – nein, nicht er; er war ja selbst so unglücklich.

Was sollte sie nur anfangen? Alle, alle hatten sie verlassen.

Sie warf sich auf das Bett und vergrub das Gesicht in die Kissen. Ein krampfhaftes Schluchzen warf sie hin und her.

Das beruhigte sie.

Er war so gut. Sie werde ihn so heiß bitten, daß er nichts von ihr verlangen möge, nur bei ihr bleibe und mit ihr spreche.

– Aber er bleibt ja nicht; er geht ja fort!

Sie sprang auf.

– Ja, er ist schon fort ... fort ... fort!

Sie lief in jagender Unruhe im Zimmer herum, sie preßte den Kopf mit beiden Händen.

Ja, sie wußte es ganz genau: weg – er ist weg!

Und von neuem riß sich ein langes, würgendes Schluchzen aus ihrer Kehle.

Nein, nein – es ist unmöglich – er ist so gut – so gut; er geht nicht von mir.

Erik – Erik, wimmerte sie; ich bin bei dir, ich will alles tun, nur geh nicht weg!

Ihre Gedanken verwirrten sich; sie horchte auf ihr eigenes Schluchzen.

Nicht beten – nicht beten! Ich will kein Himmelreich! ich will Ihn – Ihn!

Aber die Unruhe wuchs und schäumte und kochte; sie konnte diese Qual nicht länger aushalten ... Gott, diese grinsenden Schatten an der Wand, und dies strafende Gericht der Jungfrau.

Sie mußte fort.

Sie zog sich fiebernd an und lief in den Park hinunter.

Der kalte Wind beruhigte sie. Ihr wurde merkwürdig leicht. Sie dachte an nichts. Nein, sie konnte wirklich nicht denken.

Sie ging in der Parkallee auf und ab; es wurde kälter und kälter, heftige Regenschauer durchnäßten sie bis auf die Haut.

Sie ging wieder hinauf und legte sich ins Bett.

Plötzlich im Einschlafen sah sie deutlich Falks Gesicht.

Er starrte sie an, dann verzog sich sein Gesicht zur teuflischen Fratze; er biß sie mit seinen Vampiraugen, er fraß förmlich an ihrer Seele.

Sie sah entsetzt hin. Sie wollte sich vor ihm verkriechen. Aber es war, als hätte eine ganze schwere Welt sich auf ihr Herz gelegt, sie mußte ihn unverwandt anstarren.

Mit letzter Kraft raffte sie sich auf: das Gesicht schwand, nur ein höhnisches Grinsen sah sie noch in den verschwimmenden Zügen.

Sie holte tief Atem und setzte sich hoch.

Sie horchte. Etwas war in ihr, das sprechen wollte. Es bäumte sich; und höher und höher. Ein grausiges Geheimnis werde sie nun hören: Falks Seele.

So hatte sie ihn niemals gesehen. Ihr Gehirn rang nach Klarheit. Mit unheimlicher Angst horchte sie auf ihre Zweifel. Da – : hatte er gelogen?

Er? Ja! Sie hörte ihn, wie er jenen Namen zu ihr sprach am ersten Abend – Fräulein Perier.

Nein, er lügt nicht ... Aber? was? was? was war es ...

Sie konnte nicht mehr denken. Sie war zu müde. Sie lag und starrte in den Schatten.

Draußen war es still geworden, draußen hatte sich der Wind gelegt. Auf dem holdgeneigten Antlitz der wundertätigen Jungfrau spielte der Schimmer der Kerze.

Nein, sie dachte an nichts mehr. Vor ihren Augen war ein großes, helles Feld mit Blumen, und von weitem sah sie Falk ankommen, und jetzt ging sie zu ihm ... er war so gut, so gut ...


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