Stanislaw Przybyszewski
Homo Sapiens
Stanislaw Przybyszewski

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XIII.

Falk wachte gegen Mittag auf. Er konnte seinen Kopf nicht aus den Kissen heben; er war schwer wie eine Bleikugel, und sprühende Funken tanzten vor seinen Augen.

Mühsam schob er die Kissen zurecht, setzte sich schließlich hoch, und versuchte einen Gegenstand ins Auge zu fassen.

Es gelang ihm.

Aber eine furchtbare Zwangsidee legte sich auf seinen Organismus. Er war wie hypnotisiert: er mußte Marit etwas sagen.

Was?

Er wußte es nicht.

Aber es war etwas; er mußte um jeden Preis hin zu ihr, er mußte ihr etwas sagen.

Mit übermenschlicher Anstrengung kroch er aus dem Bett.

Ja, er mußte etwas sagen.

Er kontrollierte sich.

Das war gewiß eine Zwangsidee. Ja. Aber trotzdem: er mußte hin zu Marit.

Er stand auf, mußte sich aber wieder setzen.

Die Sohlen berührten die Diele. Eine wohltuende, beinahe schmerzhafte Kälte prickelte durch seinen Körper.

Oh, wie gut das war!

Ein wenig Luft mußte er noch haben, ein wenig Morgenluft. Ja, wie spät war es eigentlich?

– So spät, so spät; aber es wird wohl kühl sein draußen. War wirklich ein Gewitter gewesen? oder hat er es nur geträumt?

Seine Kleider lagen in einer Wasserlache auf dem Boden.

Eine große Angst ergriff ihn.

– Nein, nein: die Mutter kann es nicht gesehen haben, sonst lägen die Sachen nicht hier.

Er fühlte sich kräftiger, ging an den Kleiderschrank und tauschte den Anzug.

Gott, Gott, wie der Kopf ihm schmerzte.

Mühsam zog er sich an.

Wie ein Dieb schlich er sich an die Tür des Zimmers, das die Mutter bewohnte.

Sie war nicht da!

Falk atmete auf. Es tat ihm weh.

– Nur das eine sagen ... Marit sagen ... dann werd ich wieder ins Bett kriechen ... dann kann ich krank sein. Aber nur sagen.

Er ging hinaus.

Als Marit ihn sah, sprang sie bestürzt auf.

Falk lächelte gezwungen.

– Nein; es ist nichts; ich habe mich nur ein wenig in der Nacht erkältet. Ich habe ein wenig Fieber. Übrigens sollte ich zu Hause geblieben sein. Aber ich mußte durchaus her zu dir. Ich weiß nicht, warum. Gib nur schnell etwas Cognac ...

Er trank hastig ein großes Glas Cognac aus.

– Siehst du; ich bin aufgestanden; es ging so furchtbar schwer. Aber wenn ich auf dem Totenbette läge, hätte ich zu dir gemußt. Oh: Der Cognac hat sehr gut getan. Er setzt die Temperatur herunter. Das ist nämlich meine stehende Redensart. Ich begreife nur nicht: warum nicht liegende?

Falk fing an zu faseln, aber er beherrschte sich wieder.

Marit sah ihn entsetzt an.

– Nein, nein, laß mich; siehst du, es ist so schrecklich unheimlich, was für ein Tier so ein Übermensch ist. Ich bin nämlich ein Übermensch. Das verstehst du doch? Da bekomme ich plötzlich wahrscheinlich im Schlafe so Eingebungen. Ich erwache: ich weiß nichts von der ganzen Geschichte; ich erinnere mich nur an das Endergebnis. Nein; ich erinnere mich nicht; denn ich weiß nicht, ob ich etwas ähnliches geträumt habe; aber ich weiß, daß ich zu dir kommen mußte. Ich bin krank; sehr krank. Aber ich mußte zu dir.

Wieder verließen ihn die Kräfte.

Eine Feuergarbe sah er vor seinen Augen, eine rötlich grüne Feuergarbe; sie spaltete sich in sieben Blitze und zerfetzte eine Weide.

Marit starrte ihn an, in wachsender Verzweiflung.

– Erik mein Gott, was ist dir? Du bist krank – du mußt nach Hause zurück – o Gott, Gott, was starrst du mich so gräßlich an?

– Nein, laß nur. Am Wege steht eine Weide; sie ist in zwei Teile gespalten; als ich ging – zu dir –ja, zu dir – nicht wahr, ich bin doch bei dir? Ja richtig: als ich zu dir ging, da habe ich die Weide untersucht und in dem Stamm nach dem Donnerkeil gesucht. Das tat ich immer als Kind.

Ein Blitz, tausend Blitze töteten das Täubchen.

Aber, was ich dir sagen wollte. Ich muß dir nämlich etwas sagen. Gieß mir noch Cognac ein.

– Erik, ums Himmelswillen, du mußt nach Hause! Ich werde sofort anspannen lassen. Ich bringe dich nach Hause.

Marit lief hinaus ...

– Was er doch sagen mußte ... mußte?!

Täubchen und Blitze ... dann Haus, Traum ... Leben ... Zerstörung ... Ja! Zerstörung! Er – ein Sturmorkan – ein Übermensch – der über Leichen schreitet – und Leben zeugt.

Ja, ja: zerstören ... Zerstören!

Eine wilde, jauchzende Grausamkeit wuchs in ihm empor; eine freudige, wahnsinnige Lust zur Qual. Das mußte er sehen! ja: das, wie der Frosch sich unter seinem Skalpell wand, wie er an den vier Nägeln bis an die Nagelköpfe hinaufrutschte. Dann das Herz herausschneiden ... Wie es auf dem Tische zuckt, wie es springt!

Vor Falks Augen fingen die Gegenstände an zu tanzen.

Marit stand vor ihm, reisefertig, in ratloser Angst.

– Komm, Erik; komm! mein Einziger, komm!

Sie küßte ihn auf die Augen.

– Noch ... noch einmal ... Er bettelte wie ein kleines Kind.

– Komm jetzt! Komm, mein süßer, einziger Mann du.

– Nein – noch – laß! ich muß dir etwas sagen. Da setz dich hin – mir gegenüber – auf den Stuhl.

So, Marit, hör mal: Ich bin garnicht dein Mann, ich bin verheiratet. Ja, wirklich: verheiratet. Meine Frau ist in Paris. Ja richtig: Fräulein Perier ist meine Frau. Das ist sie wirklich. Glaubst du nicht? Nein, wart mal, mein Ehekontrakt ...

Er fing an nervös in den Taschen herumzusuchen.

Plötzlich kam er zur Besinnung.

Er lächelte blödsinnig.

Nein du, was hast du da im Kopf für schwarze Löcher? Du siehst ja wie ein Totenkopf aus. Nein, sieh mich nicht so an – sieh mich nicht an – nein, laß – laß – ich geh – ich gehe.

Falk duckte sich in wachsender Angst.

Ich geh, ich gehe schon ... Er winselte wie ein Tier,

– Ich gehe – ja – ja ...

Er lief hinaus.

– Nein, steigen Sie hier ein! rief der Kutscher. Ich fahr Sie!

– Einsteigen? Ja so, einsteigen ... Falk stieg in die Equipage, die da wartete.

– Wo ist nur mein Hut? Nein, der Hut ist nicht da ... Falk hielt ihn in den Händen ... Ist das aber seltsam! – –

Marit saß im Zimmer mit dem Hut auf dem Kopfe; sie war völlig gelähmt.

Da fuhr er, ja. Wirklich? Nein. Doch; doch. Ja.

Kein einziger Gedanke! Sie war also tot. Nein, sie träumte. Nein, sie träumte nicht.

Und wieder sah sie deutlich, wie schon Einmal, Falks Gesicht: es biß sie mit saugenden Vampiraugen, es fraß an ihrer Seele mit grinsendem Hohn ... Lügner ...

Sie wußte, sie sah es: jetzt endlich hatte er die Wahrheit gesagt.

So saß sie wohl eine Stunde lang.

Er war also verheiratet!

– Verheiratet – wiederholte sie kalt und rauh.

Sie fühlte wie ihr Inneres zu Eis gefror; alles kroch in ihr auf einen Punkt zusammen; die Wärme schwand und schwand. Alles schrumpfte auf den einen, kleinen, winzigen Punkt zusammen: Verheiratet ...

Sie sah seine unheimlich glühenden Augen.

Ihr Kopf verwirrte sich.

Sie sprang auf.

Nein, wie sie das nur hatte vergessen können! Sie entkleidete sich schnell; ihr Blick fiel in den Spiegel.

Nein, mit dem Hut auf dem Kopfe konnte sie doch unmöglich in die Küche gehen; das wäre drollig.

Sie lächelte stumpf vor sich hin.

Sie ging in die Küche; es sollte Brot gebacken werden. Sie ordnete es an.

Sie war mit fiebernder Unruhe tätig.

Dann kam sie in die Stube zurück.

Über dem Sofa hing ein Bild, das nur aus Buchstaben bestand; es war da in so merkwürdigen Schnörkeln und mit grellen byzantinischen Initialen das Vater-Unser gedruckt.

Sie betrachtete es aufmerksam.

– Wie abscheulich dieser Drache um das U ...

Sie las: Und verzeih uns unsere Sünden ...

– Nein, warte mal, Marit ...

Sie setzte sich auf den Stuhl.

– Ja, da saß Falk. Nun sagte er ...

Verheiratet! klangs ihr stahlhart in den Ohren.

– Ja wirklich: verheiratet mit Fräulein Perier.

Sie ging ans Fenster und schaute hinaus.

– Wie der Tag lang dauert. Ja! bis zum 21. Juni werden die Tage immer länger.

Sie sah auf die Uhr. Es war fünf Uhr nachmittags.

Nun wird der Bruder gleich vom Turnen kommen: sie mußte ihm Kaffee besorgen.

Ein Wagen rollte in den Hof...

– Du, Marit, Falk ist furchtbar krank ...

Der Bruder erzählte hastig, sich überstürzend ... Als Hans ihn nach Hause gebracht hat, mußte er aus dem Wagen gehoben werden; er konnte keinen Menschen erkennen. Seine Mutter weinte furchtbar, und dann kam der Kreisphysikus ...

– So, Falk ist krank ...

Marit wollte dem Bruder erzählen, daß Falk verheiratet sei, aber sie bezwang sich.

Nun wird seine Frau kommen, und wird den armen, Nikotin-vergifteten Mann pflegen, und seine Launen wie ein Engel ertragen ... ja ...

Sie ging in ihr Zimmer hinauf.

Man solle sie nicht stören; sie werde sich ein bißchen schlafen legen ...

Falk ist furchtbar krank ... er mußte getragen werden ... seine Mutter weinte ...

Marit lief unruhig hin und her ... Ich muß zu ihm gehen ... sofort ... er wird sterben.

Ihr Kopf war zum Bersten; sie griff mit beiden Händen hoch.

Verheiratet! Verheiratet! dröhnte es fortwährend.

– Ich werde dich so glücklich machen, so glücklich, und werde dich niemals verlassen!

Eine weinende Wut stieg ihr würgend in die Kehle: Gott! Gott! Wie er gelogen hatte!

Und eine Scham und schäumende Empörung.

Herrgott: wars denn wirklich geschehen? Ja ... o ja ... Glück.

Sie fühlte, wie er leise ihren Körper wiegte; hin und her. Sie fühlte seine heißen, gierigen Lippen; auf ihrem ganzen Körper. Sie sah sich entkleidet; er umfing sie ... Und aus allen Ecken tauchten gräßliche Gespenster, wilde, lachende, verzerrte Maskengesichter, die sie angrinsten und anspien.

Sie kroch in sich zusammen; sie warf sich auf das Bett, vergrub sich in die Kissen.

Mit eignen Nägeln sich ein Grab aufscharren! O Schande ... Schande ...

Auf den Jammer des Menschenkindes glotzte die Madonna mit blödem Lächeln ...

Es dämmerte ...

Jenseits des Sees verschwand die Sonne hinter den Gipfeln des Waldes und goß blutrote Lichter über die Spitzen der Bäume.

Marit horchte.

Sie hörte das Klappern des Storches und das Lachen der Mägde, die unten vor dem Hause Kartoffeln zum Abendbrot schälten.

Dann hörte sie singen.

Es war ihr Bruder.

Dann schlief sie ein ...

Als sie aufwachte, war es Nacht.

Sie setzte sich auf den Bettrand; dachte nach. Aber die Gedanken zerstreuten sich fortwährend. Sie stierte gedankenlos in das Zimmer hinein.

Sie war verdammt; von Gott verstoßen. Nun war alles gleichgültig. Alles.

Sie dachte nach, was wohl nicht gleichgültig wäre?

Nein, es war nichts da.

– Falk ist krank; aber Falk hat sie betrogen. Er versprach ihr Glück, endloses Glück, und er war verheiratet. Jetzt kommt seine Frau und wird ihn pflegen; seine Marit ist verdammt. Wenn sie zu ihm geht, wird sie weggejagt. Und dann wird sie draußen wie ein Hund im Regen stehen, vor der Tür zusammengekauert. Nein, sie hatte kein Recht auf ihn – nichts, gar nichts auf der Welt.

Nun ist alles weg. Vater weg, Mutter weg; Gott gibt es nicht. Ja, das hat Falk gesagt. Falk hat Recht. Sonst würde Gott sein Kind nicht so entsetzlich quälen können. Alles weg ...

Endlich stand sie auf. Sie machte Licht; sie wollte ihr Haar ordnen. Sie trat vor den Spiegel.

O Gott, wie sie aussah ... Nein, wie mager; wie mager ... o, es ist ja gleichgültig ...

Das ganze Haus schlief.

– Das Glück ... das endlose Glück ... Ja: er hat es mir gegeben ... Sie nahm Hut und Mantel und ging an den See.

Sie setzte sich auf den Stein: »Kap der guten Hoffnung« hatte sie ihn genannt, als sie hier Tag aus, Tag ein auf Erik wartete.

Im Walde gegenüber stand das kleine Fischerhäuschen. Ein Licht, ein winziges Pünktchen, kroch aus dem Fenster heraus und versank seltsam zerfetzt in den zitternden Wellen des Sees ... zerfetzt...

Sie starrte auf das Licht und auf das schwarze Wasser ...

Wie es zog ... wie das Wasser an ihr zog ...

Alles, alles ist gleichgültig.

Sie war allein; kein Mensch ihr eigen. Sie war im Wind und Wetter wie ein Hund vor die Tür gejagt ...

Ja, nun kommt die Frau; sie nimmt ihn weg; und ich bleibe allein! Allmächtiger, barmherziger Gott: allein ... Nein, nein, nein! – Genug! Zu Ende!

Er fährt weg. Kein Vater. Keine Mutter. Kein Gott ...

Ihre Angst wuchs und wuchs. Sie nestelte fiebernd am Kleide.

Plötzlich stieg ein furchtbarer Gedanke in ihr auf:

Die Welt geht zu Grunde! Alles, alles wird zu Grunde gehn! Die Sündflut!

Sie sprang jäh auf:

Da war ein Strudel ... da ist es tief ... ein Knecht ist da im vorigen Jahr ertrunken ... mit beiden Pferden.

Sie lief da hin. In ihrem Kopfe dröhnte es und brauste. Sie sah nichts; sie hörte nichts.

Etwas war in ihr, das sie trieb. Sie brauchte nur zu rennen. Sie rannte.

– Ja, hier!

– Nein, noch die kleine Biegung da ... da!

Sie schrie gell auf im Wasser ... wild ... sie rang.

Leben! – Der Strudel ... Seligkeit ...


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