Stanislaw Przybyszewski
Homo Sapiens
Stanislaw Przybyszewski

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VIII.

Im Flur erinnerte er sich plötzlich, daß er vorher einen Spitzel getroffen hatte. Er zündete ein Streichholz an, sah sich überall herum, aber er konnte Niemanden entdecken.

Vielleicht hatte er sich geirrt, oder, ja – vielleicht fing sich ein Verfolgungswahnsinn zu entwickeln an ... Er fühlte kalte Schauer über den Rücken laufen. Das war wohl wieder das Fieber.

Er ging und ging, ohne zu wissen, wo er eigentlich hin wollte.

Er dachte nach.

Nach Hause? Wozu? Um Menschen zu sehen, die ihn durch ihre Liebe quälten? Nein! Er wollte keine Liebe mehr haben. Das war ihm zuwider. Das konnte er nicht sehen. Alles kam ja nur davon, daß er geliebt wurde. Er hatte das verfluchte kleine Mitleid mit den paar Menschen, die ihn liebten. Sein Herz war eng, seine Interessen waren kleinlich und er war doch zu etwas Großem geboren. Deswegen rächte sich jetzt seine andere, seine große Seele, die einem Czerski in Entzücken die Hand küßt, natürlich nur um den kleinen Falk zu beschämen.

Aber er ließ sich nicht beschämen. Worüber sollte er sich denn eigentlich schämen? Ha, ha, ha ...

Da befiel ihn eine dumpfe, kranke Schwermut, er blieb stehen und sah nachdenklich zu Boden.

Ein neues Leben? Nein, dazu hatte er keine Kraft mehr; es würde wohl auch nicht besser werden, wie es jetzt ist. Nein, nein; besser, daß es zu Ende ging.

Isa? Isa? Zwischen ihn und sie stellte sich ihr Vorleben: der Andere, der sie trennte, war ja immer da ...

Er stöhnte auf.

Und wie viel Glück hätte sie ihm geben können!

Nein, Unsinn! Lächerlich, daß er darin einen Grund suchte. Er ging einfach auseinander. Seine seelische Konstitution war für alle diese Erlebnisse nicht berechnet, sie war zu fein und zerbröckelte unter all dieser Brutalität.

Was wollte er eigentlich noch im Leben?

Seine Kunst? He, he ... Ich war ja ein Künstler ... Ich mußte schaffen, weil ich eben mußte. Und ich schuf. Aber plötzlich mitten im Schreiben überkommt mich die Idee, wozu denn? Ich sehe die Menschen vor mir, ich sehe die ganze Welt, die ich entstehen lasse und ich finde plötzlich das Alles so furchtbar lächerlich. Und ich bitte Sie, lieber Czerski, wie kann man dann schaffen?! Dazu braucht man ja auch Glauben, und vielleicht noch einen andern Glauben, den Glauben an die Nachwelt ...

Er lachte laut auf.

Oh, er wolle die ganze Nachwelt samt der ganzen Mitwelt dem ersten besten Knecht für sein Bißchen tierisches Glück mit Vergnügen schenken, ja die ganze Welt, das Kommende und das Vergangene und noch ein Stück dazu ...

Die Menschheit? Sie glücklich zu machen? Aber dann muß man sie ja auch gleichzeitig wissend machen ... Warum dann nicht lieber den Menschen zum Tier zurückkehren lassen: der wissende Mensch kann nicht glücklich werden.

Eine prachtvolle Replik! Das sollt ich Czerski geantwortet haben.

Wieder blieb er stehen.

Was sagte er doch? Er habe an Stefan geschrieben?

Ein lähmender Schreck fuhr ihm durch die Glieder. An Stefan geschrieben ... Er hatte es Anfangs nicht verstanden, er hörte nur die Worte ... Er fühlte jetzt eine unerhörte Lust, zu Czerski zu gehen und ihn mit seinen Fäusten zu zertrümmern, ihm den Hals umzudrehen.

Aber im nächsten Moment hatte er seine Wut vergessen. Nur ein Gefühl von zitternder Angst peitschte ihm das Blut in das Herz zurück. Er atmete schwer und wurde sehr schwach.

Er ging weiter, aber es lastete etwas schwer auf seiner Brust, als wäre eine Welt auf ihn heruntergefallen.

So konnte es weiß Gott nicht weiter gehen. Das würde ihn ganz und gar zerstören. Und er mußte leben, er mußte um Isas willen glücklich werden.

Eine sonderbare Energie ergoß sich in sein Hirn. Er fing an mit großen Schritten zu gehen und dachte an ihre Herrlichkeit –ja, sonnenhafte Herrlichkeit ... Oh, hätte er Millionen Jahre gelebt, wären sie doch in die Sekunde zusammengeschrumpft, in der er ihr zum ersten Mal in die Augen sah, so wäre er über die ganze Welt gebreitet, so hätte er sich doch in diesen einen Blick verkrochen, den einen langen Blick ihrer Liebe ...

He, he – das war sehr schön gedacht, sehr schön ...

Er schrak auf.

Das ekelhafte Bild stieg wieder in ihm auf: sie in einer fremden Umarmung ...

Er kroch ängstlich zusammen.

Nur das nicht, nein, nein!

Er ertappte sich dabei, daß er eine Gassenmelodie zu pfeifen begann.

Er mußte ruhig werden.

Ja, ganz ruhig.

Richtig! Eine Zigarette. Natürlich, natürlich.

Er blieb stehen.

Wie spät konnte es wohl jetzt sein? Nun, noch nicht halb elf. Ja, dann ... er zündete sich bedächtig die Zigarette an – dann könnt ich vielleicht zu Olga gehen ... Bißchen schwatzen über Menschheit, über Ideale ... Sie ist so gut, und ich brauche so viel Güte ...

Plötzlich setzte sich in seinem Gehirn eine seltsame Idee fest. Er fühlte sich von Detektiven umgeben, vielleicht schon im nächsten Momente würde er arretiert werden ...

Seine Angst wuchs schäumend, er war so benommen von ihr, daß er nicht denken konnte. Er wurde plötzlich so sicher. Die Gewißheit, daß er im nächsten Augenblick verhaftet werde, brachte ihn zur Verzweiflung.

Er sah sich vorsichtig nach allen Seiten um. Es war dunkel auf der Straße, er konnte nicht gut sehen. Da plötzlich: nicht weit von ihm stand ein Mann. Falk zitterte, faßte sich aber sofort und fing zu überlegen an. Selbstverständlich war es ein Detektiv, wie sollte er ihn nur los werden? Er drehte sich um, ging an ihm vorbei und sah ihn scharf an. Der Andere schien Falk nicht zu bemerken und ging weiter.

Falk lacht höhnisch.

Dieser lächerliche Kniff! natürlich nur um mich in Sicherheit einzuwiegen und plötzlich im entscheidenden Momente aufzutauchen.

Was sollte er nun machen?

Sich in eine Droschke setzen? Aber was würde das helfen?

Er trat in ein Restaurant, bestellte Bier und nahm eine Zeitung vor.

Unmittelbar nach ihm trat ein Mann ein, setzte sich ihm gegenüber und beobachtete ihn, wie es Falk vorkam, mit einer sonderbaren Frechheit.

Falk sah ein paar Mal von seiner Zeitung weg, aber jedesmal begegneten sich ihre Augen.

Es war unausstehlich. Eine wilde Verzweiflung bemächtigte sich seiner, er warf die Zeitung weg, setzte sich breit hin und fing an, den Fremden höhnisch zu mustern.

Plötzlich blieb sein Herz stehen.

Der Fremde erhob sich und ging auf ihn zu. Falk sprang auf.

Aber der Mensch sieht ja gar nicht aus wie ein Spitzel. Er ist ja ganz ängstlich und demütig, fuhr es ihm durch den Kopf.

– Ich habe die Ehre, mit Herrn Falk zu sprechen?

– Wollen Sie mich verhaften? Dann nicht hier, kommen Sie auf die Straße.

Falk zitterte und stützte sich auf den Tisch.

Der Fremde sah ihn erstaunt an. Ihre Augen begegneten sich in einem langen, fragenden Blick.

– Ich habe Sie nicht verstanden, sagte der Fremde endlich.

Falk kam zur Besinnung und rieb sich die Stirn.

– Verfolgen Sie mich?

– Nein! ich traf Sie zufällig, ganz zufällig, ich wohne hier in der Nähe. Ich habe Sie allerdings gesucht, ich wollte mit Ihnen sprechen.

Log der Mann, wollte er ihn in eine Falle locken?

– Sie haben also keinen direkten Verhaftungsbefehl? Nun, wenn Sie mit mir sprechen wollen, so kommen Sie zu mir. Falk lachte höhnisch. Für derartige Unterredungen bin ich jetzt nicht aufgelegt. Nicht wahr? Sie möchten etwas über meine Beteiligung an dem Streik erfahren? He, he, kommen Sie zu mir, dann werden wir darüber sprechen ...

Falk mußte sich setzen, sein Herz schlug so heftig, sein Kopf war zum Zersprengen voll von Blut.

Der Fremde sah ihn mit wachsendem Erstaunen an, Falk aber stand auf, bezahlte und ging.

Auf der Straße atmete er auf. Die ganze Szene kam ihm plötzlich in seinen Gedanken ein paar Jahre entfernt vor. Es war ihm, als hätte er eine Gefahr überstanden ...

He, he – das war seltsam, aber Alles im Leben ist seltsam. Was ist nicht seltsam? fragte er mit einem kranken Lächeln. Er fühlte seine Gesichtsmuskeln sich verzerren. Was ist nicht seltsam? Ha, ha, ha ... Die Angst, die der Mann vor mir hatte. Natürlich war es kein Spitzel. Durchaus kein Spitzel. Vielleicht ein Mensch, den ich irgendwo einmal in der Gesellschaft gesehen, mit dem ich sogar Duzbruderschaft getrunken habe; vielleicht hab ich ihm gesagt, daß er der prachtvollste Mensch auf Erden sei, vielleicht hab ich ihm gesagt, daß er mein einziger Freund sei, der erste Mensch, den ich in meinem Leben getroffen habe.

Falk lachte lange, fast verkrampft.

Wem hab ich das nicht gesagt? Ist ein einziger Mensch da, dem ich das nicht gesagt habe?

Ha, ha, ha; jetzt wird der Kerl in der ganzen Stadt herumlaufen und erzählen, daß er Falk in einem ganz verwahrlosten Zustand getroffen habe, Falk sei ganz wirr gewesen und habe irre Redensarten geführt... Ha, ha, ha ...

Er erinnerte sich plötzlich, daß er zu Olga gehen wollte.

Er war ganz in der Nähe.


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