Stanislaw Przybyszewski
Homo Sapiens
Stanislaw Przybyszewski

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III.

In der »grünen Nachtigall« machte Isas Erscheinen großes Aufsehen.

Falk erblickte den alten Iltis, wie er die Augen zukniff und wie sein Gesicht unangenehm grinste.

Selbstverständlich fing nun seine ausschweifende sexuelle Phantasie zu arbeiten an. Darin war er unübertrefflich.

Iltis lief auch gleich an Mikita heran. Gott, sie waren immer so gute Freunde gewesen.

Falk grüßte mit einem nachlässigen Kopfnicken und setzte sich mit Isa etwas abseits.

Er sah wieder um ihre Augen den heißen, verschleierten Glanz.

Ihm schien, als müsse er zusammensinken. War es schwer, sich in der Macht zu haben! Aber er beherrschte sich.

Interessant, daß er zuerst aufhusten mußte, er fühlte sich so sonderbar heiser.

– Ich werde Sie ein wenig mit der Gesellschaft bekannt machen.

Er hustete wieder kurz auf.

– Sehen Sie, der Herr da, der dicke mit den dünnen Beinen, die Sie leider nicht sehen können – und sie sind in der Tat sehenswert – ja der da, der Sie so mit dem unheimlichen, grübelnden Blick anstarrt, als wittre er in Ihnen unheimliche soziale Rätsel – er ist ein Anarchist. Er macht übrigens Verse, wunderbare Verse: Wir sind die Infanterie ... nein – richtig: die roten Husaren der Menschheit. Rote Husaren! Herrliche preußische Phantasie! Der hat den Drill im Leibe ...

Falk lachte heiser auf.

– Ja, er ist Anarchist und Individualist. Ja, sie sind Alle, Alle, so dick und breit sie da sitzen, Individualisten mit jenem eigentümlichen, dicken, deutschen Bieregoismus.

Es klirrte etwas auf dem Boden.

Alle sahen hin.

Falk lachte.

– Sehen Sie, das ist ein interessanter, junger Mann. Er ist Neokatholiker und glaubt an ein Willenszentrum in der Welt, von dem wir nur Willensemanationen sind. Bei ihm speichert sich die Energie in den Fingerspitzen, er muß sie auslösen, um weitere Energieakkumulationen zu verhindern. Er behilft sich damit, daß er Gläser hinwirft.

Der junge, blonde, lockige Mann sah sich triumphierend um. Sein Tun hatte kein sonderliches Aufsehen erregt, und so rief er nach einem neuen Glase.

Iltis besänftigte ihn.

– Aber Kind ...

– Und der, – ja, der links ... hat er nicht ein Gesicht, wie ein verfaulter Apfel?

Mikita kam heran.

– Wir müssen an ihren Tisch kommen, sonst glauben sie, daß wir uns absondern.

Nun wurden Alle Isa vorgestellt.

Falk saß neben Isa. Ihm zur Rechten saß ein Mann, den Falks Freunde den Säugling nannten.

Der Säugling war überströmend freundlich.

Falk wurde er plötzlich widerlich. Er wußte, daß der Mann ihn haßte.

– Haben Sie das Gedichtbuch gelesen? Der Säugling nannte einen Namen, der gerade aufkam und sehr en vogue war.

– Ja, darin geblättert.

Falk fühlte instinktiv, daß Isa ihm zuhörte. – Er verspürte ein heftiges, inneres Beben.

– Finden Sie es nicht entzückend?

– Durchaus nicht. Nein, er finde das Buch ganz dumm.

Falk versuchte das dumme Zittern zu neutralisieren.

– Ganz, ganz dumm. Wozu schreibe man diese inhaltleeren Gedichtchen? Um den Frühling zu besingen? Der habe wahrhaftig mehr als genug von der ewigen Singerei. Man schäme sich ja schon, das Wort Frühling bloß auszusprechen ...

Mikita sah Falk erstaunt an. Er war nicht gewöhnt, Falk in diesen Kreisen so sprechen zu hören.

– Diese ganze Stimmungsmalerei sei so flach, so nichtssagend ... Diese Stimmungen habe jeder Bauernjunge, jede Bauerndirne, wenn in ihr der träge Stoffwechsel des Winters einem schnelleren Verbrennungsprozesse weiche ... Wären es noch Stimmungen, die auch nur ein Quentchen von dem Furchtbaren, Rätselhaften, an dem der Mensch übervoll sei, offenbarten; wären es Stimmungen, die doch wenigstens, so belanglos sie auch sonst sein mögen, etwas von dem nackten Seelenleben, ja – etwas von der unbekannten Seele geben ... Aber alle diese Dinge, die eine höher stehende Gattung Mensch überhaupt nicht mehr erlebe, weil – weil sich das Gefühl dagegen sträube, sich in dieser Frühlingssängerei zu bewegen ...

Falk stotterte und wurde verwirrt. Es kam ihm vor, als stünde er auf einer Rednertribüne, tausend Zuhörer um ihn herum. Dann wurde er immer dumm und sprach nur banales Zeug. Der Säugling wollte ihn unterbrechen. Aber Falk mußte ausreden.

– Sehen Sie, alle diese Gefühle können Wert haben für Jünglinge und Backfische, weil sie sozusagen das Substrat der Zuchtwahlsempfindungen sind ...

– Aber lieber Falk – der Säugling benutzte eine momentane Pause, in der Falk seine Gedanken zu konzentrieren suchte – Sie verkennen völlig das Wesen der Kunst.

Kunst kommt von können ...

Er sprach den Satz bedeutungsvoll aus.

– Das Können allein entscheidet über den Wert eines Kunstwerkes. Die Gedichte sind rhythmisch vollendet, sie haben Fluß und Gesang ...

– Und sind ein leeres Strohdreschen, unterbrach ihn Falk.

– Dein Wohl! Iltis trank Falk freundlich zu. Mit Falk konnte es nicht richtig sein. So eifrig und so zittrig hatte er ihn noch nie gesehen.

Falk erholte sich ein wenig.

– Nein, lieber Herr. Nicht die Form, nicht der Rhythmus entscheidet über die Kunst. Das hatte einstmals Bedeutung, als der Mensch sich erst künstlerische Formen schaffen mußte, ja – mußte, aus einem inneren Trieb, der durch tausend Ursachen bedingt war. Damals hatte der Rhythmus als solcher Bedeutung, denn in ihm drückte sich das rhythmische Zusammenwirken der Muskeln aus ... in der Zeit, als der Rhythmus geboren wurde, war er eine Offenbarung, eine große Tat ... Heute hat er nur eine atavistische Bedeutung – heute ist er eine leere, abgestorbene Formel.

Wissen Sie, zu diesen Gedichten war überhaupt nichts mehr nötig als ein vererbtes Formgefühl ... Ich leugne nicht die Bedeutung des Rhythmus für den ganzen künstlerischen Effekt, aber es muß doch in einem Gedicht etwas drin sein ...

Wieder trank Iltis Falk zu. Es fing an, ihn zu langweilen.

– Nein, nein! Nicht der abgedroschene Inhalt von Frühling und Liebe und Weib ... Nein, ich will nicht diese lächerlichen Eiapopeiasänger ...

Falk sprach heftig und eindringlich.

Isa hörte nicht auf das, was er sprach. Sie sah nur den Mann mit dem feinen schmalen Gesicht und der glühenden Leidenschaft in den tiefen Augen.

– Was ich will? Was Ich will? Leben will ich haben, das Leben mit seinen furchtbaren Untiefen, mit seinen schauerlichen Abgründen ... Die Kunst ist für mich der tiefste Instinkt des Lebens, der heilige Weg zur Zukunft des Lebens, zur Ewigkeit des Lebens, und deswegen will ich große zeugende Gedanken haben, die eine neue Zuchtwahl vorbereiten, einer neuen Welt, einer neuen Weltanschauung zur Geburt verhelfen ...

Die Kunst soll mir nicht im Rhythmus, im Fluß, im Gesang bestehen, sie soll mir der Wille werden, der neue Welten, neue Menschen aus dem Nichts ruft ...

Nein, nein, lieber Herr, wir haben eine große, ideenzeugende Kunst nötig, sonst hat sie überhaupt keine Bedeutung ...

Falk kam plötzlich zur Besinnung. Herrgott, was sprach er denn nur? Wollte er ein Programm in die Welt ausschreien. Er ertappte sich, daß er zusah, welchen Eindruck er auf Isa mit seinen Reden machte.

Das war doch zu knabenhaft!

– Diese Art Kunst, die Sie loben, kann wohl Bedeutung haben für die Tiere ... Sie wissen, daß die Vögel zum Beispiel mit dem Rhythmus, dem Fluß des Trillers und dergleichen mehr die Weibchen anlocken, das können unsere Dichter nicht – nein, sicher nicht. Selbst auf die Backfische macht das keinen Eindruck mehr.

Iltis lächelte listig und zwinkerte mit den Augen.

Falk trank ihm zu. Er war mit sich unzufrieden, aber er fühlte ihre Augen, und er sah sie an, so tief, so ... bis in das Herz hinein ... Das war sicher lyrisch gedacht, aber wieder stieg ihm die Hitze in sein Hirn.

Der Säugling wurde nervös.

– Ich bin wirklich neugierig, was Sie als Kunst gelten lassen?

– Haben Sie Rops gesehen? Ja? Sehen Sie, das ist Kunst. Kann man überhaupt mehr vom Leben sagen?

– Selbstverständlich.

– Ja – nach oberflächlicher Schätzung selbstverständlich ... Selbstverständlich für den, dem Alles selbstverständlich ist. – Ja, selbstverständlich für Strauß und Vogt und Büchner, und ... und ... Aber das Furchtbare, das Grausige, der große Geschlechtskampf und der ewige Geschlechtshaß ... ist das selbstverständlich? Ist das nicht ein unheimliches Mysterium? Ist das nicht etwa das, was ewig zeugt, Leben schafft und Leben zerstört. Ist das nicht etwa das, was unsere Handlungsmotive bildet, mögen sie noch so harmlos dem bewußten Gehirn erscheinen ...

Falk stockte, dann sprach er immer heftiger.

– Sehen Sie, was uns nötig ist, das ist das Gehirn, für das nichts selbstverständlich ist, das Gehirn, das Scheu und Angst und Ehrfurcht vor dem Selbstverständlichsten hat; das ist das Gehirn, in dem der Verknotungspunkt frei wurde – ja, der heilige Verknotungspunkt aller Sinne, in dem Linie zum Ton wird, ein großes Erlebnis zu einer Geste, und tausend Menschen ineinanderwogen, in dem es eine ununterbrochene Skala gibt vom Tone bis zum Worte und zur Farbe ohne die jetzt bestehenden Grenzen ...

Wieder besann sich Falk auf sich und er lächelte still ...

– Nein, nein! Bleibt mir weg mit eurer lächerlichen Bewußtseinslogik und euren atavistischen Zuchtwahlsmittelchen ...

Isa mußte ihn beständig ansehen. Sein dichtes Haar war ihm in die Stirne gefallen und seine Augen waren weit und tief ... Das hätte sie nie vermutet, daß er so schön, – so dämonisch schön werden konnte ...

– Der Herr Falk scheint bei den Theosophen in die Lehre gegangen zu sein.

Der Anarchist sprach gedehnt und bedeutungsvoll mit einem plötzlichen Augenaufschlag.

Falk lächelte.

– Nein, verehrter Herr, durchaus nicht. Aber sehen Sie nur zu: Sie sind doch ein großer und jedenfalls, so weit die deutsche Zunge reicht, unerhört bedeutungsvoller Dichter ...

Ein Mensch lachte plötzlich laut auf, sicher mit einer boshaften Absicht.

Der Anarchist sah ihn wütend an, wurde rot im Gesichte und schrie Falk zu:

– Ich verbitte mir jegliches Anulken.

Falk wurde ungemein ernst.

– Sehen Sie, das war sehr würdig gesprochen. Aber leider verfehlt. Es war mein höflichster Ernst. Ich habe nicht damit gemeint, daß ich Sie dafür ansehe, aber sicher doch die Andren.

Der Anarchist kochte, er sah Isas Augen, die ihn mit unverkennbarem Spott ansahen.

– Mein Herr, Sie gehen zu weit!

– Nein, durchaus nicht. Sie vermuten bei mir beleidigende Absichten, die ich nicht habe. Im Übrigen haben Sie auch für mich etwas geschaffen, ein Bild von einer solchen ... ich möchte das Antithesengröße nennen ... Ja, ich meine die roten Husaren der Menschheit. –

Wieder lachte derselbe Herr, aber diesmal so deutlich, daß es Falk peinlich wurde.

– Aber kommen wir zum Resultat. Wenn Sie dichten, nicht wahr, ist das nicht ein seltsamer, mystischer und meinetwegen auch theosophischer Moment, weil für Sie alles Seltsame Theosophie zu sein scheint. Sie haben doch wohl von Fakiren gehört, die sich künstlich in eine somnambule Ekstase versetzen, in der sie Monate lang lebendig begraben liegen können. Ich habe selbst in Marseille einen Fakir gesehen, der sich im Zustande dieser Ekstase Wunden beibrachte, ohne eine Spur von Blutung. Sehen Sie nun, wenn Sie dichten, ist es derselbe Zustand somnambuler Ekstase, der allerdings nicht künstlich hervorgerufen werden kann. In einem Momente fließt Ihr ganzes Leben auf einen Punkt zusammen. Sie sehen nichts, Sie hören nichts, Sie arbeiten unbewußt, Sie brauchen nicht zu überlegen, es kommt im Schlafe ... Und nun sagen Sie, ist das nicht mystisch? Können Sie das mit Logik erklären? Können Sie Einem klar machen, warum Sie der bedeutungsvolle Dichter sind und er nicht?...

Alle schwiegen betroffen. Falk hatte es doch zu weit getrieben.

Der Anarchist erhob sich und ging.

Iltis hatte nichts davon begriffen. Nein, nein, sein Gehirn war zu groß für diese metaphysischen Spielereien. Aber er verstand, daß Falk den Anderen abgekanzelt hatte, und trank ihm wohlwollend zu ...

– Reichen Sie mir die Hand.

Der junge Mann, der vorhin die Gläser auf die Erde zu werfen geruhte, stand auf, pathetisch gespreizt und streckte die Hand weit vor.

Falk reichte ihm lächelnd die Hand.

Isa schwieg. Sie fühlte sich so glücklich. Dies Glücksgefühl hatte sie schon lange, lange nicht gehabt.

Falk war ein herrlicher Mensch. Ja, er war ihr schönstes Erlebnis.

Sie wurde plötzlich unruhig.

– Du bist so schweigsam? Mikita kam an sie heran.

– Ich bin glücklich. Sie drückte ihm leise die Hand.

– Bist Du nicht müde?

– Nein, gar nicht!

– Aber wir wollen gehen, nicht wahr?

Etwas hielt sie mit aller Macht zurück. Sie möchte um jeden Preis noch bleiben. Aber sie las in seinen Augen eine stumme Bitte.

– Ja, wir wollen gehen. Es klang fremd, beinahe abweisend.

Sie erhob sich.

– Wollt Ihr wirklich gehen? So bleibt doch noch ein Weilchen hier. Falk hätte sie mit Gewalt zurückhalten mögen.

Aber Mikita konnte unmöglich länger bleiben; er müsse Isa nach Hause begleiten.

Als sie weggehen wollten, sprang Iltis auf.

– Also Du, Mikita, vergiß nicht ...

– Ja richtig! Mikita hatte es ganz vergessen, daß er mit Isa zu einer Abendgesellschaft bei Iltis eingeladen war.

– Ja, er werde sicher kommen. Ob Isa auch mit wolle, das wisse er nicht ...

Isa wollte herzlich gerne mitkommen.

– Und Du, Falk? Du kommst doch selbstverständlich? Iltis klopfte Falk wohlwollend auf die Schultern.

– Gewiß.

Isa drehte sich plötzlich nach Falk um und reichte ihm noch einmal die Hand.

– Sie kommen doch recht bald zu mir?

Falk kam es vor, als risse der Schleier um ihre Augen auseinander; eine Glut quoll hervor und ringelte sich heiß um die Lider.

– Ihr Zimmer ist ja meine Heimat.

Mikita wurde unruhig; er schüttelte besonders kräftig Falks Hand, und sie gingen.

– Die haben Eile! Iltis zwinkerte lüstern mit den Augen.

Falk wurde plötzlich sehr gereizt. Er hatte Mühe, ein Wort zurückzuhalten, das Iltis sicher nicht geschmeichelt hätte.

Er setzte sich aber wieder hin und sah sich um.

Es wurde Alles so öde um ihn, und er fühlte sich so einsam ...

Er war auch sehr unzufrieden mit sich selbst. Er kam sich ein wenig lächerlich und knabenhaft vor. Er wollte doch wirklich krampfhaft einen Eindruck auf Isa machen. Zweifellos ... Und alles, was er gesagt hatte, kam ihm so dumm vor ... So viele große und gespreizte Worte ... Er hätte das Alles doch sicher viel feiner sagen können ... Aber er zitterte ja ordentlich, als er sprach.

Er wurde im Ernste wütend.

Dieser dumme Säugling, wie scheußlich er an dem Glase lutschte ... Widerlich! Eigentlich wurde ihm plötzlich alles widerlich in der berühmten »Nachtigall« – Alles.

Nein! Wozu sollte er noch länger sitzen? Er mußte frische Luft haben. Er fühlte einen Drang zu gehen und zu gehen, endlos, alle Straßen entlang ... Sich etwas klar machen. Es war da drin Etwas, das aufgelöst werden mußte, Etwas ... ja etwas Neues, Fremdes ...

Er zahlte und ging.


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