Stanislaw Przybyszewski
Homo Sapiens
Stanislaw Przybyszewski

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III.

Erik Falk ging nicht in die Stadt.

Er bog von der Landstraße ab und ging an dem See entlang. Drüben dämmerte der Wald in ein tiefes Dunkel hinein, und der See lag so klar und weich, ganz erfüllt von den ruhigen Reflexen der Abendröte.

Falk blieb stehen.

Wie konnte er nur so schnell vergessen, was er gestern gesprochen; die ganze Geschichte wurde nun zu einer lächerlichen Komödie; ja, zu einer dummen, knabenhaften, ungeschickten Komödie.

Aber Marit, hm, vertraute ihm ja blind; nein, sie hatte nichts gemerkt, sie glaubte an alles, was er sagte: Nein, sie würde selbstverständlich eine willkürliche Absicht nicht im geringsten vermuten.

Falk beruhigte sich wieder. Er legte sich am Ufer hin und schaute gedankenlos auf den See.

In seinem Gehirn gärte eine dunkle Masse von Gedanken; nur hin und wieder zuckten einzelne Assoziationen, Bilder, abgerissene Schlagworte in ihm auf.

Und wieder fing er an zu gehen, langsam, angestrengt; er wollte sich auf etwas besinnen, er mußte sich aufraffen, an etwas zu denken, ja, sich etwas ganz klar zu machen.

Es dunkelte. Von den benachbarten Dörfern schimmerten schon winzige Lichterchen herüber. Ab und zu hörte er ein Wagengeklapper auf der Landstraße, dann horchte er auf das Gezirpe der Heupferdchen und auf das Gequak der Frösche in den Teichen.

Ja, was wollte er denn eigentlich?

Er war doch kein gewerbsmäßiger Verführer. Er hatte niemals nach dem lächerlichen Ruhm getrachtet, ein Weib zu verführen, nur um sie zu besitzen. Nein, das war es nicht.

Seine Gedanken wollten sich nicht weiter bewegen; er setzte sich hin auf den Rasen und schaute hinüber nach dem schwarzen Waldsaum.

Etwas dämmerte in seiner Seele, und allmählich stieg ein Bild in ihm auf, das Bild einer Frau, mit ihrer Grazie, dieser verfeinerten Grazie aussterbender Adelsgeschlechter; ihm war, als strecke sie ihm ihre schmale, lange Hand entgegen und sehe ihn so lieb, so gut mit ihren Augen an.

Ja, das war seine Frau. Fräulein Perier.

Falk lächelte, war aber gleich wieder ernst.

Er liebte sie. Sie hatte die große Mannesintelligenz, die alles verstand, die sogar ihn verstanden hatte. Sie hatte die große, feine Schönheit, nach der er so lange, so lange gesucht.

So stand sie. Falk vergegenwärtigte sich ihre Bewegung: damals, das erste Mal: das Zimmer im mattroten Halbdunkel – Gott, wie schön sie war! Er hatte damals gleich verstanden, daß er sie lieben mußte, und er liebte sie.

Ja, ganz gewiß. Jetzt sehnte er sich nach ihr. Jetzt möchte er in dem großen Lehnstuhl an seinem Schreibtisch sitzen und sie auf seinen Knien halten und ihre Arme seinen Hals umschlingen fühlen.

Wie kam es nur, daß er Marit niemals vergessen konnte?

In dem tollsten Liebesglück sah er plötzlich das Gesicht seiner Frau in ein fremdes übergehen, in ein kleines, schmales Kindergesicht; er sah es sich allmählich verwandeln, bis er es plötzlich erkannte. Das war Marit.

Und dann konnte er unaufhörlich dies Gesichtchen anstarren, und fühlte, wie seine Hände schlaff wurden, wie seine Gedanken sich in die Vergangenheit zurückfanden, in die Zeit, die er mit Marit verbracht, als er grade jetzt vor einem Jahr in die Heimat gekommen war und sie dort zum ersten Male getroffen hatte.

Und wieder fühlte er deutlich die Erschlaffung in seinen Gliedern, und wieder fühlte er die seltsame Sehnsucht nach dieser Liebe, die doch nur Schmerzen geben konnte, diese unerhörte Qual, ein Weib zu begehren und es nicht besitzen zu können.

Wie glücklich war er mit seiner Frau, bevor er Marit gesehen hatte. Und nun stand sie zwischen ihnen und machte ihn traurig und wütend, weil er sie immer überwinden mußte, immer von neuem in sich töten, wollte er zu seiner Frau gelangen.

Warum war er nur wieder hergekommen?

Was wollte er von Marit? Warum belog er sie, warum quälte er sie, wozu spielte er die ganze Komödie?

Ja, wenn er das begreifen könnte!

Er wollte doch etwas. Er mußte doch einen Zweck haben. Irgendwo hinter allem Bewußtsein, hinter aller Logik mußte der verborgene Zweck doch liegen, der für seinen Willen im Unbewußten ausgesteckt war.

War es das Geschlecht, das im Verborgenen auf ein neues Opfer lauerte?

Nein, das war unmöglich. Nein! es wäre eine unerhörte Schurkerei, ein Kind zu zerstören, diese reine Taubenseele zu beschmutzen. Nein, das würde er niemals.

Ja: doppelt, tausendfach unmöglich. In zwei Wochen kehrte er ja zu seiner Frau zurück; er würde sonst ja in die scheußlichsten Konflikte mit seinem Gewissen kommen.

Ja, das ekelhafte Gewissen. Da drüben in Paris zu sitzen und fortwährend zu denken: jetzt liegt sie ausgestreckt am Boden und windet sich und fleht Gott um Gnade an. Nein, nicht eine Minute würde er Ruhe haben. Nein, das wäre zu schrecklich: das ganze Leben mit diesem einen Bilde, mit diesem einen Gedanken, mit dieser ewigen Unruhe des quälenden Gewissens.

Er stand auf und ging langsam weiter.

Es war inzwischen dunkel geworden und über den Wiesen stiegen leuchtende Nebel, wie mächtige Rauchwolken, dampfend und wogend empor.

Falk blieb stehen, sah in dieses Meer, das alles überflutete, und sann nach über etwas, worauf er sich nicht besinnen konnte; er fühlte sich in seinem Kopfe wie gelähmt.

Über die eine Frage, was er denn eigentlich wolle, konnte er gar nicht hinüberkommen.

Marit sah er plötzlich vor sich. Ja, sie sah herrlich aus, wie sie da auf dem Steine saß mit dem wunderbaren roten Widerschein von der Krempe ihres großen Sommerhutes. So schlank, so fein ...

In seiner Seele begann ein heißes Beben: er hörte das leise Stammeln des Geschlechtes.

Nein: das Gewissen! mein Gott – Falk mußte lächeln: Der große Übermensch, der starke, mächtige, ohne Gewissen! Nein, der Herr Professor hatte die Kultur vergessen, die tausend Jahrhunderte, die sich abgemüht es zu erzeugen. Mit dem Verstande freilich ließ sich alles wegbeweisen; mit dem Verstande sollte man ja auch, logisch genommen, alles überwinden können, selbst ein Gewissen. Aber man konnte es dennoch nicht.

Was nützte ihm all sein Verstand; hinter jeder Logik lauerte doch immer wieder das furchtbar Unlogische, das doch endlich siegte.

Und wieder dachte Falk an Marit und seine Liebe zu ihr. Ja, ihn interessierte das am Ende nur: dieser sein Fall. Dieser Fall von Doppelliebe war wirklich äußerst interessant.

Das war ihm klar: er liebte beide. Ja, ganz zweifellos. Er schrieb doch die wütendsten Liebesbriefe an seine Frau und belog sie nicht, und zwei Stunden später sagte er Marit, daß er sie liebe, und belog, weiß Gott, auch sie nicht.

Jetzt fing Falk zu lachen an.

Aber hinter dem Lachen fühlte er einen beißenden Schmerz, eine merkwürdig giftige Wut.

Freilich hatte er das Recht, Marit zu lieben; warum nicht, wer hatte es ihm verboten? Wer hatte ihm, ihm etwas zu verbieten? Sollten Moralgesetze, die von rohen Menschen, von dummen, unpsychologischen Gesichtspunkten aus gemacht waren, bindender sein als die Macht seines Empfindens?

Warum sollte er sie nicht verführen, wenn er sie begehrte? Warum sollte er sie nicht besitzen, wenn er sie liebte und sie ihn?

Ja, sie liebte ihn doch. Was also verbot ihm seinen Willen? Moral? Heiliger Himmel, was ist Moral?

Er kannte keine Moral, außer der seines Empfindens; und in diesem seinem Empfinden war kein einziges Gesetz enthalten, das den Willen anderer Menschen hätte bestimmen wollen.

Er fuhr auf. Von einem nahen Hofe her bellte ein Hund, und bellte immer lauter, immer heftiger.

Dumme idiotische Bestie!

Falk bog in einen Wiesenpfad, der an dem Kirchhof vorüberführte.

Auf dem Kirchhof rauschten die Blätter der Silberpappeln mit ihrem unheimlichen Ernste. Aus dem Dunkel hoben sich die weißen marmornen Grabplatten wie Gespenster ab. Es war so furchtbar ernst, dies unheimliche Rascheln der Bäume. Es war da ein Ton, der ihn an das Klappern von Totengerippen erinnerte. Ihm wurde sehr unangenehm zu Mute.

Lächerlich, daß diese idiotischen Fabeln, die das Volk um das Leben der Toten spinnt, auf sein Gehirn noch wirken konnten. Ja – nun, er war so nervös.

Seine Gedanken verwirrten sich immer mehr. Nein, er war zu müde. Er konnte keinen einzigen Gedanken logisch zu Ende führen; wozu auch?

Ja, wozu denn diese blödsinnige Logik? Das, was in seiner Seele tätig war, das hinter allem Bewußtsein lag und das er nicht kannte, das hatte ja doch eine eigene Logik, die so grundverschieden war von dieser dummen Bewußtseinslogik und sie über den Haufen warf.

Vor ihm tauchten jetzt die weißen Mauern des Klosters auf; er blieb stehen und starrte sie an. Es war da drin doch eine sonderbare Poesie; er dachte an die grausigen Geschichten, die man ihm als Kind über die Zisterzienser, denen das Kloster vor Zeiten gehörte, so oft erzählt hatte.

Ja, vorm Jahr kam sie auch aus einem Kloster; da war sie erzogen worden. Erzogen! Ha, ha, ha ...

Falk wurde wütend.

Die Klosterweiber haben sie zerstört! ja: Zerstört! Jetzt geht sie herum in den eisernen Wickelbanden! Jetzt hat sich ihre Seele in die Nabelschnur des Katholizismus verwickelt und erwürgt sich drin, das arme, mißgeborene Kind.

Warum hat sie nicht den Willen: sieh hier, ich liebe Dich! nimm mich!

Ja, ja, ja; wieder die blödsinnige Logik des Verstandes.

Und doch: er werde stärker sein als alle ihre Religion. Er werde schon dies giftige Kraut der Christenmoral aus ihrer Phantasie ausjäten. Er werde sie zwingen; sie müsse ihm gehorchen. Er werde sie frei machen, ja frei; und sich auch.

War er nicht ein Sklave? Ja, ein dummer Sklave seines Weibes, seines Gewissens, dummer alter Vorurteile, die jetzt wie Regenwürmer im Frühling aus ihren Löchern krochen und ihn peinigten ...

O, sie werde schon sehen, wer mächtiger sei: Er oder der gekreuzigte Rabbi!

Falk fühlte eine ungeheure Energie in seinem Gehirn anschwellen. Er beschleunigte seine Schritte. Schließlich lief er fast.

In Schweiß gebadet kam er nach Hause.

Seine Mutter erwartete ihn noch.

– Aber gute, liebe, teure Mutter, warum bist du denn noch auf?

– Ja, sie habe immer solche Angst, wenn er die Lampe auslösche. Es passiere so viel Unglück damit. Sie wolle es lieber allein tun.

– Aber du kannst doch unmöglich eigens jeden Abend nach Paris kommen, um mir die Lampen auszublasen.

– Nein, das wolle sie auch nicht. Schließlich habe er auch recht; aber die Mutter ...

– Ja, ja ... die Mutter; das ist schön, eine Mutter zu haben.

Falk küßte ihr beide Hände.

– Übrigens, Mama, hast du etwas Cognac?

– Ja, den habe sie schon. Aber wozu wolle er so viel trinken. Es sei doch schrecklich, sich daran zu gewöhnen. Ob er sich denn nicht an die Schäferfrau erinnere, die Delirium bekam.

Falk lachte.

– Nein, er wolle sich nicht gewöhnen; er habe nur etwas Fieber und möchte die Temperatur ein wenig herabsetzen.

Die Mutter holte Cognac. Falk dachte inzwischen nach. Plötzlich erhob er sich; ein Entschluß zuckte durch sein Gehirn.

– Ja, Mama; ich will dir etwas erzählen. Ich hab es dir so lange verheimlicht, aber schließlich fing es an mich zu quälen. Du mußt mir nur versprechen, mich ruhig anzuhören und nicht zu weinen.

Falk trank ein Glas Cognac. Seine Mutter sah ihn ängstlich verwundert an.

– Ja, das verspreche sie ihm.

– Also, Mama; ich bin verheiratet.

Die alte Frau saß einen Moment ganz starr; in ihren großen, klugen Augen blitzte ein Schreck auf.

– Du, Erik, solchen Unsinn darfst du mit mir nicht treiben.

– Das sei aber so sicher, wie er hier sitze. Er habe sich verheiratet, weil er das Mädchen, nein, es sei eine Dame aus vornehmer Familie – geliebt habe, und so seien sie aufs Standesamt gegangen und hätten einen Ehekontrakt gemacht.

– Ohne Kirche?!

– Ja freilich; wozu brauchten sie Kirche? Seine Ansichten kenne ja Mama, er habe sie niemals verborgen; übrigens sei seine Frau Lutheranerin.

– Lutheranerin! Die alte Frau schlug die Hände zusammen und in ihre Augen traten große Tränen.

Aber Falk nahm die Hände der alten Frau und küßte sie und sprach von seinem Glück und von der Schönheit und der Güte seiner Frau. Er sprach schnell, abgerissen; schließlich wußte er selbst nicht, was er sprach, aber die alte Frau wurde allmählich beruhigt.

– Warum er ihr das nicht schon früher gesagt?

– Wozu denn? Die Ehe habe für ihn keine religiöse Bedeutung; sie habe nur die Bedeutung eines geschäftlichen Vertrages, um die ökonomische Stellung der Frau zu sichern, und dann, ja, um die Polizei zufriedenzustellen.

– Ob er denn mit seiner – das Wort wollte der Mutter nicht über die Lippen – seiner sogenannten Frau zusammenwohne?

– Sogenannten?!

Falk wurde sehr gereizt ...

Freilich. Die Mutter müsse sich gewöhnen, staatliche Institutionen ebenso wie die kirchlichen zu respektieren. Übrigens bitte er sie innig darum, niemandem, absolut niemandem etwas davon zu erzählen; das möge er durchaus nicht. Er wolle keine Einmischung in seine Privat-Angelegenheiten; das würde er der Mama sehr übel nehmen.

– Ja, das verspreche sie ihm bestimmt; schon in ihrem eigenen Interesse werde sie es nicht. Was würden die Menschen dazu sagen! Sie würde sich nicht auf der Straße blicken lassen dürfen ... eine Lutheranerin!

– Ja, ja die Menschen! Nun aber muß sich Mama ins Bett legen; ich werde mit der Lampe so vorsichtig sein wie ein Hypochonder. Gute Nacht, Mama.

– Gute Nacht, mein Kind.

Jetzt fing Falk von neuem an zu überlegen. Er setzte sich. Sein Gehirn arbeitete mit ungewöhnlicher Lebendigkeit.

Was trieb ihn eigentlich mit dieser furchtbaren Macht zu Marit?

War es nur geschlechtliches Verlangen?

Aber dann gab es tausend schönere Weiber. Er selbst hatte ja viel schönere Weiber gesehen; viele, die weit stärker seine sexuelle Sphäre hätten erregen müssen, als dies reine geschlechtstaube Kind.

Ja, geschlechtstaub; das war der richtige Ausdruck.

War es denn wirklich Liebe? eine Liebe, wie er sie zu seiner Frau empfand? wie er sie durch seine Frau erst kennen gelernt?

Das war doch unmöglich.

Falk erhob sich und ging im Zimmer auf und ab.

Das mußte er sich doch endlich mal klar machen.

Er bemühte sich, ganz, ganz reinlich zu denken.

Mein Gott; er hatte schon so oft denselben Gedankengang durchdacht. Immer von neuem, immer mit neuen Argumenten, mit neuen psychologischen Subtilitäten.

Ja, also! Erstens ...

Er lachte herzlich auf. Er mußte an einen Schulkameraden denken, der immer, wonach man ihn auch fragen mochte, mit Erstens anfing, aber niemals über das Erstens hinauskommen konnte.

Nein, Blödsinn!

Ja, ja, damals, das erste Mal, als er Marit sah. Wie merkwürdig war doch diese Halluzination von Rosenduft und etwas ungeheuer Mystischem.

Mit einer rasenden Schnelligkeit wickelte sich damals eine Erinnerung in seinem Gehirne ab, an die er früher niemals gedacht hatte. Er sah ein Zimmer, einen Sarg in der Mitte, Kerzen, große, gelbe Kerzen rings um den Sarg, und das ganze Zimmer ganz voll weißer Rosen, die einen betäubenden Geruch ausströmten.

Dann sah er, wie sich ein Totenzug nach der Kirche bewegte, an einem schönen Sommer-Abend. Alle Leute trugen Kerzen, die unruhig hin und herflackerten ... Ja, das sah er: die Kerze seines Nachbarn wurde vom Winde ausgelöscht. Nun wurde der Sarg auf einem großen, schwarzen Katafalke aufgebahrt, acht Priester in weißen Gewändern, schwarzen Ornaten und schwarzen Dalmatiken standen herum, und überall hin verfolgte ihn der starke, mystische Rosenduft.

Er hörte damals Marit sprechen, sie ging und kam, aber die Halluzination wurde er nicht los.

Schließlich entdeckte er es: Weiße Rosen hatte Marit in ihrem Haar.

Falk grübelte nach. Seine Gedanken kreisten um dieses eine Erlebnis herum.

Waren es die weißen Rosen? War es die Erinnerung, die durch die Rosen hervorgerufen wurde? Weshalb hatte Marit gleich von Anfang an diesen starken Eindruck auf ihn gemacht?

Wie war das geschlechtliche Empfinden mit dieser Erinnerung verflochten?

Was hatte eins mit dem andern zu tun?

Das Zweite begriff er schon viel besser. Da war von Anfang an ein geschlechtlicher Eindruck vorhanden, irgendwo in der Tiefe des schlummernden Unterbewußtseins, und wurde nun durch Marits Erscheinung aufgerüttelt.

Ja, ja, ganz zufällig; oder auch nicht ...

Nicht zufällig?

Also waren zwischen dem ersten bewußten Eindruck und dem zweiten schon tausend verbindende Zwischeneindrücke, die ihm nicht bewußt geworden?

Hm, hm; Aber das ist ja gleichgültig, es handelt sich doch nur um Bewußtes.

Ihre Hände waren sich begegnet: er hatte den Eindruck von etwas Nacktem, das Gefühl eines ganz nackten Mädchenkörpers, der sich an seine Brust anpreßte: ein Gefühl, das über seinen ganzen Körper mit leisem, prickelndem Behagen strömte.

Er konnte ganz genau konstatieren, woher es kam: Er war kaum zwölf Jahre alt und badete mit einem Mädchen zusammen.

Das taten nämlich alle Kinder hier in seiner Heimat.

Das verehrte Publikum, dem er das vielleicht einmal erzählen sollte, durfte durchaus nicht glauben, daß darin was unanständiges läge.

Nein, durchaus nicht; man braucht doch nicht gleich immer überall Unanständigkeiten wittern.

Falk wurde ganz wütend.

Wie sagt doch Hamlet? Den Aussätzigen juckt es ... Wer ist nun der Aussätzige? Ich oder das Publikum? Selbstverständlich ihr – quos ego:

Nun lachte er herzlich: Warum war er eigentlich so wütend geworden?

Na ja ... Das Mädchen fiel also in das Loch.

Unwillkürlich dachte er an die vielen Löcher und Wirbel in dem heimatlichen See.

Seine Gedanken wurden immer flattriger. Er merkte es plötzlich und bemühte sich, sie auf einen Punkt zu sammeln.

Er griff nach dem Mädchen und trug es eng angepreßt aus dem Wasser heraus.

Wieder fühlte er das heiße Beben in sich: damals war sein Geschlecht geboren.

Falk dachte mit seltsamer Zärtlichkeit an das Mädchen, das in ihm den Mann gezeugt hatte.

Merkwürdig! Ja, ja. Aber wie kam es nur, daß er bei Marit –ja, wirklich, bei Marit – zum ersten Mal nach vielen, vielen Jahren diese Empfindung bekam? Warum nicht bei anderen Frauen? Warum nicht bei seiner eigenen?

Das begriff er nicht; da war wohl auch nichts zu begreifen.

Ja, richtig, das war sehr interessant: Sie sprachen viel mit einander, sie kam grade aus dem Kloster und sprach viel über Religion und Askese. Ja, von Askese und von den Instrumenten zum flagellieren, die auf dem Markt gekauft werden können.

Mit welcher Andacht hatte er auf ihre Stimme gehorcht und mußte dabei immerfort an einen wunderbar weichen, unerklärlichen Orgelton in der heimatlichen Kirche denken. Der Ton wurde erzeugt, wenn der Organist zwei Register zog; er hatte sie oft gezogen, er liebte sie. Wie hießen sie doch nur?

Falk konnte sich nicht besinnen, so viel er auch nachdachte.

Es wurde ihm sehr weich ums Herz. Er hörte deutlich diesen einen kombinierten Ton, der ihm schließlich ganz zu etwas Fließendem wurde. Ja: zu einer seidig fließenden Masse.

Er hatte deutlich die Empfindung von seidenweichen Haaren, in denen er mit beiden Händen wühlte. Er sah Marit vor sich.

Nein, nein! Er mußte zu Ende denken. Das war der Fall, der wichtige interessante Fall.

Also aus drei dummen Eindrücken, die er auch von tausend anderen Weibern hätte empfangen können, war seine Liebe geboren?!

Das konnte er nicht verstehen. Unmöglich. Der Grund mußte doch wohl tiefer liegen.

Marit mußte doch etwas an sich haben, das in das Innerste in ihm gegriffen hatte, in ein Etwas, worin das ganze Rätsel und Geheimnis seiner Natur lag.

Plötzlich wußte er es. Ganz gewiß. Das war seine Heimat ...

Ja ganz sicher.

Marit hatte etwas von seiner Heimat; etwas Weites in der Stirnform. Ja, es war in diesen Formen etwas von dem herben Flachland, das er so unendlich liebte.

Diese lächerliche Heimat, die ein Idiot mit ein paar Strichen zeichnen könnte!

Warum goß sich grade in diese Formen sein feinstes, reinstes Empfinden? Warum liebte er sie so, diese Stirne mit den blonden, reichen Haaren, die so einfach, so uneuropäisch einfach gescheitelt lagen?

Was ging in ihm vor?

Wars denn wirklich Liebe?

Nein, Unsinn! Er liebte nur eine Frau: seine Frau, sein herrliches, sein wunderbares Weib, das ein Stück von ihm geworden: Seele von seiner Seele, Geist von seinem Geist.

War es also nur das Geschlecht?

Ja, mein Gott, dann hätte das idiotische Geschlecht sich doch auf tausend andre Weiber richten können; es gab von dieser Ware ja hunderttausendfach allein in Paris.

Hm ...

Aber er war ein differenzierter Mensch. Er war die feinste Crême der europäischen Gesellschaft. Ja, er, Herr Erik Falk, die blonde Bestie. Sein Geschlecht war zart und spröde; er war zu sehr mit seinem Gehirn verwachsen, es brauchte Seele, und aus der Seele mußte es geboren werden.

Ja, und?

Ja, das heißt, daß ich Marit begehre, daß ich sie haben will, daß ich sie haben muß: denn so ist Mein Wille.

Falk fieberte; er fühlte eine wahnsinnige Sehnsucht nach Marit.

Jetzt lag sie da in ihrem Bette: Die Hände über der Decke keusch gefaltet, vielleicht das Messingkreuz, das er so oft bei ihr gesehen hatte, in den Händen.

Eine Heilige zu besitzen! – Das wäre eine merkwürdige Sache.

Freilich werde er es tun; er müsse es tun.

Diese unerhörte Sehnsucht fresse an ihm wie ein Geschwür; sie zerstöre ihm seine Ruhe, mache ihn so nervös und so zerrissen, daß er nicht einmal arbeiten könne.

Das müsse er tun, und er habe ein volles Recht dazu.

Also bitte meine Herren: nicht wahr? Recht oder Unrecht existieren nicht. Es sind nur leere Begriffe, die das Verhalten von Müller und Schulze zu einander regulieren. Nun, das Weitere kann man sich bei Nietzsche oder Stirner nachlesen. Aber wenn wir von Recht sprechen wollen, und das müssen wir übrigens, um das dumme Gewissen zu beruhigen, das alte Erbstück, das so schlecht zu der modernen Einrichtung passen will, so spreche ich:

Ich bin jedenfalls ein Mensch, der weit höhere und größere Bedeutung im Leben hat, als ein Kind.

Das spreche ich für die, die an Bedeutung und den Ernst des Lebens glauben.

Ich bin ein Mensch, der weit raffinierter, weit mächtiger das Leben genießen kann als ein Mädchen, das später doch nur Kinder zeugen und Geflügel züchten wird.

Das spreche ich, meine Herrn, für die Philosophen.

Ich bin ein Mensch, der durch das Mädchen direkt zerrüttet wird – das für die Ärzte – und infolge dessen sich in einer Art Notwehr befindet – dies für die Juristen.

Folglich habe ich Recht!

Dann kommt Herr X. und wird sagen: Sie sind ein unmoralischer Mensch.

Ich werde ihm darauf antworten, ganz liebenswürdig, mit der einnehmendsten Miene: Wieso Herr X.?

– Weil Sie ein Mädchen verführt haben.

– Nur das? Nichts weiter? Nun dann hören Sie: Ich habe sie nicht verführt, sondern sie hat sich mir gegeben. Kennen Sie die Stelle im Napoleonischen Kodex, wo über die natürlichen Kinder gesprochen wird? Die kennen Sie nicht? Dann sind Sie ein ungebildeter Mensch, und Napoleon war mindestens so groß wie Moses. Dann aber hören Sie weiter: der heiligste Zweck der Natur ist Leben zu zeugen, und dazu ist geschlechtlicher Umgang nötig. Also: ich wollte diesen Zweck erfüllen, und demnach habe ich im Sinne der Natur durchaus, ja, höchst moralisch gehandelt.

Nun kommt Herr Y.

Aber – mais heißt das auf französisch, werde ich ihn anbrüllen – gehen Sie doch zum Teufel, verstehen Sie? Ich bin Ich und damit Basta!

Falk wurde gereizter und gereizter. Eine wilde Wut staute sich in seinem Gehirne und verwirrte seine Gedanken.

Draußen fing das Morgengrauen an; die Welt floß in dem blauen Morgenrotwunder und die Vögel begannen zu zwitschern.

Falk trank Cognac, rauchte eine Zigarette an und wurde ruhiger.

Marit, das gute, liebe Kind! Und die Augen, die ihn abwechselnd erschreckt, ängstlich und wieder mit dieser innigen Liebe und Bitte ansahen ...

Marit! Nein, ist das ein schöner Name. Ja, in Kristiania hatte er Mädchen gesehen, die Marit hießen. Ja, ja, er erinnerte sich, sie hatte ihm davon erzählt: der Vater war in Norwegen gewesen und hatte den Namen für das eben geborene Mädchen mitgebracht.

Süße, herrliche Marit!

Er fühlte ihre Hand auf seiner Stirne; er hörte ihre Stimme ihn so heiß, so leidenschaftlich lieben: Mein Erik, mein Erik ...

Er fühlte sie auf seinem Schoße sitzen, die Arme um seinen Hals geschlungen, ihre knabenhafte Brust an seine Schultern gepreßt.

Falk trank und wurde immer sentimentaler.

Plötzlich stand er auf, schon wieder gereizt.

Ich kenne diese verlogene Bestie von Gehirn; jetzt plötzlich wolle es sein Begehren mit dem Mäntelchen einer sentimentalen Schwärmerei behängen. Das wolle Er durchaus nicht, dafür bedanke er sich. Mille graces, monsieur Cerveau, für Deine Dienste; ich habe sie nicht nötig.

Was ich tue, tue ich mit absolutem Bewußtsein. Ich liebe nur einzig allein meine Frau, und wenn ich Marit besitzen will, so betrüge ich meine Frau nicht; im Gegenteil, ich gebe mich ihr wieder, ganz wieder.

Der Himmel warf Brände von Licht in das Zimmer herein; das Licht der Lampe schrumpfte allmählich zusammen.

Falk sah in den Spiegel.

Sein schmales Gesicht hatte in dieser Zwitterbeleuchtung etwas Unheimliches. Seine Augen brannten wie in Fieberglut.

Er setzte sich auf das Sofa; er war sehr müde.

Lächerlich, wie ihm das dumme Mädchen jetzt plötzlich gleichgültig wurde. Das war wirklich merkwürdig. Nicht die geringste Spur von Verlangen mehr.

Ja, ja: morgen wird es schon wieder kommen. Aber es ist doch Wahnsinn, sich länger in dieser Atmosphäre aufzuhalten, sich fortwährend an ihrer Nähe zu reiben.

Nein!

Falk riß sich auf.

Er werde gleich heute oder morgen zu seiner Frau fahren, nach Paris zurück.

Er sah sich schon im Bahncoupé.

Köln! Herrgott, noch einen Tag Reise! Er fühlte eine heiße Unruhe; es daure ja eine Ewigkeit. Am liebsten möchte er aussteigen und laufen, laufen, so schnell er nur könne, laufen ununterbrochen ... Drei Stunden vor Paris – zwei Stunden – er hielt die Uhr in seiner Hand und verfolgte den Zeiger von Minute zu Minute. Noch eine halbe Stunde; der Atem wurde schwer und heiß, das Herz schlug wie ein Hammer in seiner Brust. Jetzt fährt der Zug langsam in die Bahnhofshalle ein. Seine Augen überfliegen die Menge. Da – da: in dem gelben Mantel – er hat sie erkannt – da steht sie forschend, suchend, erregt. Und jetzt: sie reichen sich die Hände, flüchtig, als hätten sie Furcht vor einem stärkeren Druck. Nun nimmt er ihren Arm und zittert vor Freude, und sie preßt sich an ihn an in stummer Seligkeit.

Falk wachte auf.

Das müsse er tun; augenblicklich müsse er an sie telegraphieren, daß er sofort komme.

Plötzlich befiel ihn eine nervöse Angst; es kam ihm vor, als ob er überhaupt nicht mehr die Kraft zu einer solchen Reise hätte. Er setzte sich hin und ließ die Arme hängen.

Nein, er würde ganz gewiß die Kraft nicht haben. Paris kam ihm vor irgendwo in China, zwei Jahre von ihm entfernt; immer weiter rückte es von ihm weg.

Merkwürdig, daß er sich auf das Gesicht seiner Frau nicht besinnen konnte – auf das Gesicht ... ja, Herrgott: Fräulein ... Fräulein ... wie hab ich sie doch nur genannt?

Er fing an mit den Fingern hin und her zu tappen. Er lief herum; aber er konnte sich nicht besinnen.

Eine neue Angst befiel ihn, wie wenn er aufs Schafott gehen müsse. Er hatte doch den Namen schon irgendwo früher gehört, gelesen, oder so etwas; ja, irgendwo im Figaro, in den Verhandlungen der französischen Kammer.

Na, endlich!

Er atmete tief auf.

Fräulein Perier, Perier ... Perier.

Er fühlte beinahe Freude; ihm wurde sehr leicht.

Dann wurde er wieder unruhig, sehr unzufrieden mit sich.

Nein, diese idiotische Komödie! Wenn man lügt, so sollte man sich wenigstens nicht auf Lügen ertappen lassen. Nun hatte er sich verraten: Marit mußte ihn für einen Lügner halten.

Vielleicht nicht? Nein, unmöglich. Marit würde sich eher den Kopf abhauen lassen, eh sie ihn für einen Lügner hielt.

Unmöglich. Sie glaubt, daß ich betrunken war; daran ist sie von ihrem Papa gewöhnt.

Im Zimmer wurde es ganz hell.

Nun müsse er sich legen. Er war sehr müde. Und wie sein Kopf brannte! Die Finger ganz heiß.

Etwas Kühlendes! Ja, jetzt ihre Hände auf seiner Stirn!

Wessen Hände?

Er lachte höhnisch über sich selbst.

Marits Hände, selbstverständlich Marits Hände hätte er jetzt auf seiner Stirn fühlen mögen.

Marits ... Hände ...

Draußen hörte er das laute Gezwitscher der Vögel; er riß das Fenster auf.

Eine kühle Luftwelle schlug in das Zimmer; das tat ihm wohl.

Er sah den dünnen Nebel von den Wiesen schwinden; die Wiese lag ganz grün – nein, violettgrün. Falk freute sich über den Ausdruck. Und oben, ganz oben weiche, lichte, sonnengetränkte Wolken von Nebel.

Unten in den Gärten, die an die Wiese stießen, sah er Baum an Baum in weißer Blütenpracht, ein großes, wallendes Meer von Weiß, und auf der Wiese ganze Oasen von gelben Ranunkelblüten.


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