Stanislaw Przybyszewski
Homo Sapiens
Stanislaw Przybyszewski

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IV.

Falk sprang auf. Er war angekleidet auf dem Sofa eingeschlafen. Das durch die Baumschatten des Gartens gedämpfte Tageslicht fraß an dem übernächtigten Gesicht und verlieh ihm den Ausdruck einer großen ruhigen Traurigkeit.

Seine Mutter stand vor ihm und wollte ihm ein Kissen unter den Kopf schieben.

– Gott, was für einen furchtbaren Traum ich gehabt habe!

– Aber, liebes Kind, du ruinierst dich ja vollständig, wenn du ganze Nächte über aufbleibst.

– Nein, im Gegenteil, Mama, ich habe sehr gut geschlafen. Ich war nur so müde, daß ich gleich da, wo ich saß, einschlief. Das können nämlich gewisse Naturen ganz vorzüglich. Ich habe von einem Briefträger gehört, der im Gehen schlief und dabei 90 Jahre alt geworden ist. Übrigens, Mama; ich werde in diesen Tagen reisen; es ist für mich von großer Wichtigkeit, daß ich so schnell wie möglich nach Paris komme.

Das konnte die Mutter nicht begreifen. Warum er denn überhaupt gekommen sei? Diese lange Reise, um ein paar Tage zu bleiben?! Seine Frau werde doch ein paar Wochen ohne ihn leben können. Könne er denn seiner alten Mutter nicht die Freude gönnen und noch wenigstens zwei Wochen bleiben?

Ja, das möchte er sehr gern; Mama wisse doch genau, wie sehr er sie liebe, aber er könne unmöglich länger bleiben, er ...

In diesem Augenblick klopfte es an die Tür.

Marit trat verwirrt herein.

Sie begrüßte die Mutter, indem sie ihr den Arm küßte. Falk reichte ihr mit zeremonieller Verbeugung die Hand.

Marit wurde noch verwirrter.

– Frau Falk dürfe es ihr nicht übel nehmen, daß sie so früh störe, aber sie sei zur Frühmesse mit Papa gekommen, und Papa habe noch etwas in der Stadt zu besorgen.

Frau Falk entschuldigte sich zehnmal, daß noch nicht aufgeräumt sei, aber Erik, der Faulpelz, habe bis jetzt geschlafen.

– Denken Sie sich, fuhr Frau Falk fort, er ist hier im Speisezimmer eingeschlafen, anstatt sich ordentlich ins Bett zu legen. Übrigens ist das sehr gut, daß Sie gekommen sind, Marit; Sie müssen mir helfen, Erik zurückzuhalten. Er will durchaus wegfahren.

Marit sah erschrocken auf.

– Wie? Sie wollen schon fahren?

– Ja, das müsse er ganz entschieden. Er müsse anfangen, ein wenig zu arbeiten; er könne hier nichts tun.

Marit saß wie erstarrt, und sah mit weiten, ängstlichen Augen auf Falk.

– Übrigens habe es gar keinen Zweck, daß er so müßig dasitze; das Leben sei hier so eng, so unausstehlich eng ... Ja, Mama, teure Mama, du darfst mir das nicht übel nehmen, aber ich bin an das Weite, Große, Freie der Großstadt gewöhnt. Ich kann nicht ertragen, daß die Menschen hier sich nach mir umsehen und mich anglotzen. Und dann diese Enge, diese Enge.

Marit saß nachdenklich da; es schien, als ob sie nichts hörte.

– Ja, ja, sie müsse nun gehen; Herr Falk werde doch jedenfalls zur Abschiedsvisite kommen.

Aber sie durfte nicht gehen: Frau Falk deckte den Tisch und brachte den Kaffee.

Falk und Marit saßen sich gegenüber. Frau Falk ließ ihre klugen grauen Augen von dem Sohn zu dem Mädchen schweifen.

Falk grübelte. Plötzlich richtete er seine Augen auf Marit und betrachtete sie aufmerksam.

– Es ist doch sonderbar, was Sie für eine merkwürdige Ähnlichkeit mit einem Mädchen haben, das ich in Kristiania getroffen habe.

Falk sprach ganz trocken, im berichtenden Reporterton.

– Sie war furchtbar lieb, und um die Stirn hatte sie eine Flut von rotblonden Haaren, das sah wie die nordische Frühlingssonne aus.

Übrigens sehen Sie ziemlich angegriffen aus, Fräulein Marit. Es ist sonderbar, daß ihr gar nicht froh werden könnt; das macht wohl eure Religion, die Fröhlichkeit für eine Sünde hält?

Falk betonte höhnisch das »eure«.

– Nein, nein: Mama brauche gar nicht so empört zu sein, er meine es nur so en passant.

Wieder entstand ein Stillschweigen.

Frau Falk sprach von ihrem verstorbenen Manne, wobei ihr die Tränen in die Augen traten.

Marit erhob sich.

– Sie müsse jetzt gehen. Sie könne auf Papa nicht warten; bei ihm dauerten fünf Minuten immer eine Ewigkeit, und sie habe jetzt, wo Mama im Bade sei, sehr viel zu tun.

Falk erhob sich gleichfalls.

– Ob er sie begleiten dürfe. Ein Spaziergang würde ihm sehr gut tun, und es sei gleichgültig, ob er die Richtung nach Johannisthal oder mit Marit nach Elbsfelde einschlage.

– Ja, wenn es ihm Vergnügen mache ...

Lange gingen sie stillschweigend nebeneinander.

Falk hatte den Hut in die Augen gedrückt, hielt nachlässig die Hände in den Taschen und schien tief über etwas nachzudenken.

Und wieder sah Marit ein Mal über das andre zu ihm auf, aber er schien es durchaus nicht sehen zu wollen.

– Ist es wirklich wahr, daß Sie fahren wollen?

– Falk sah sie an, als hätte er sie nicht verstanden, mit kaltem, müdem Blick.

– Ach so! Fahren? Freilich, ja, ganz gewiß. Was soll ich denn hier machen? Sie dürfen nicht glauben, daß es ein Vergnügen sei, sich in Ihrer Nähe zu quälen; davon hab ich jetzt genug. Ja, ich will fahren; vielleicht heute schon. Übrigens ist nur alles egal; und wahrscheinlich werde ich tun, was mir grade einfallen wird.

Über Marits Wangen liefen zwei große Tränen.

– Das dürfe er nicht tun. Alles sei Lüge, was er ihr von Liebe spreche. Das könne ein Mensch, der liebt, nicht tun.

– Aber um Himmelswillen, sagen Sie mir, was Sie von mir wollen? Ja sagen Sie nur: Sie wissen doch sehr gut, daß Sie mir das größte Glück geben könnten, wenn ich Sie nur küssen dürfte; das erlauben Sie nicht. Ich will mit Ihnen von etwas sprechen, das in mir wühlt; das darf ich auch nicht. Also was – was?

Marit weinte.

– Sie haben ja gesagt, daß ich Sie nicht lieben darf, daß Sie mir nichts geben können! Sagten Sie nicht, daß Sie unmöglich von mir Liebe nehmen könnten?

– Gott, ich habe Ihnen ja erklärt, warum ich das sagte. Übrigens, wenn auch Hindernisse vorhanden wären, verstehen Sie nicht das unendliche Glück des Augenblickes?

Marit sah ihn erstaunt an.

– Was wollen Sie – was wollen Sie von mir? Sprechen Sie ganz offen.

– Was ich will? Was ich will? Tja! Weiß ich?

– Ja, Sie wollen mich verderben! Sie wollen mich ins Unglück stürzen, um dann wegzufahren – nicht wahr?

– Verderben? – Unglück? – Engländer wollen das Glück ... Lächerlich, ekelhaft, dieses satte Glück von Müller und Schulze! Können Sie nicht begreifen, daß das höchste Glück in einer Sekunde liegt? daß es ekelhaft ist, in ewigem Glück herumzuplantschen? – Was ich von Ihnen will? Zwei, drei Stunden Glück, und dann weg, weit weg! Das Glück ist schamhaft; man entehrt es, macht es unanständig, wenn man es lange genießt.

– Gott, quälen Sie mich nicht so furchtbar. Ich kann es nicht aushalten. Wollen Sie denn, daß ich zu Grunde gehe!

– Nein, das will ich nicht. Sprechen wir nicht mehr davon. Es ist ja Wahnsinn, daß ich immer um den einen Gedanken herumgehen muß; das will ich nicht mehr. Ich will nichts mehr sagen. Ich will gut zu Ihnen sein, ganz gut. Sie müssen nur nicht weinen. Nein, das dürfen Sie nicht.

Falk war ganz verzweifelt; ein tiefes Mitleid würgte ihn.

– Ja, ja, weinen Sie nicht; ich werde gut sein und vernünftig und sehr lustig. Soll ich Ihnen etwas sehr schönes erzählen?

– Ja, das solle er; sie höre ihn so gerne.

Eine Weile verging.

– Nun; ich hatte heute einen merkwürdigen Traum. Wissen Sie, als mein Papa noch lebte, hatten wir ein kleines Gut, dicht an der russischen Grenze; gleich hinter unsrer Scheune stand der russische Grenzbeamte. So geschah es, daß ein Knecht Getreide gestohlen hatte. Mein Vater war ein wilder, strenger Mann. Er hat mich maßlos geprügelt. Besser wurde ich wahrhaftig nicht davon; im Gegenteil, ich haßte ihn so redlich, wie nur eine Kinderseele hassen kann.

Nun hatte aber mein Vater den Diebstahl und den Dieb entdeckt. Alle Knechte wurden aus dem Dorfe zusammengerufen und der Schuldige vor den Vater gestellt.

– Hast du gestohlen?

– Ja, antwortete trotzig der Knecht.

– Willst du ins Gefängnis kommen, oder dreißig Peitschenhiebe empfangen?

Ohne einen Laut legte sich der Knecht auf die Erde und die Exekution begann.

– Schlag gut zu, sonst wirst du selbst geprügelt, schrie mein Vater dem Kutscher zu.

Und der Kutscher schlug mit der starken, ochsenledernen Peitsche, so viel er Kraft hatte.

– Nun schlag du! rief er einem idiotischen Viehknecht zu, dessen breites Gesicht sich zu einem behaglichen Grinsen verzerrte.

Ein Hieb so wuchtig, so furchtbar wuchtig ... aber mein Gott, seien Sie doch nicht so furchtbar empört, mein Fräulein; bis jetzt ist alles in Ordnung ...

Also ein furchtbarer Hieb sauste auf den Körper des Unglücklichen. Er sprang auf, fletschte mit den Zähnen und legte sich wieder.

Die umstehenden Knechte lachten laut auf, in heller Freude: Das hat der Viehknecht gut gemacht! Ja, er hat Kräfte wie ein Goliath!

Noch ein Hieb, noch zwei, drei, vier, fünf ...

Ich schrie, ich raste in meinem Versteck. Ich kratzte den Boden mit den Fingern. Ich stopfte mir die Ohren mit Erde voll, um nichts zu hören. Ja, ja, als Kind ist man so blödsinnig mitleidig.

Die Exekution war zu Ende. Der Knecht erhob sich und fiel wieder um; er konnte nicht gehen. Um ihn herum brach das Menschenvieh in helles Gelächter aus.

Aber der Knecht hatte unerhörte Willenskraft; er erhob sich doch und schleppte sich zum Hofe hinaus.

Mein Vater war zufrieden und setzte sich zum Frühstück. Ich erinnere mich, er aß viel und gut. Ich hätte wie eine Wildkatze auf ihn springen, ihn zerreißen mögen. Aber begreiflicherweise ließ ich das.

In der Nacht brannte unser Hof an allen vier Ecken. Ich sprang aus dem Bett und freute mich darüber, wie ich mich in meinem Leben nicht gefreut habe. Nun war mein Vater bestraft!

Die Türen der Ställe wurden aufgerissen, das Vieh wurde herausgebracht ...

In diesem Augenblicke trat meine Mutter ins Zimmer und der Traum war zu Ende.

Marit war ganz erschüttert.

– Hat sich denn das in Wirklichkeit so zugetragen, oder war alles nur Traum?

– Nun, das ist ja gleichgültig. Das Interessante ist nur die Arbeit des schlafenden Individualbewußtseins. In dem Augenblick, als die Mutter die Tür aufmachte, hat das nicht schlafende Bewußtsein die ganze Erinnerung mit einer unerhörten Schnelligkeit abgewickelt. Daran ist übrigens nichts merkwürdiges. Hippolit Taine erzählt von einem Manne, der während einer Ohnmacht, die nur zwei Sekunden dauerte, ein Leben von fünfzig Jahren durchlebte.

Das konnte Marit nicht verstehen.

– Das ist auch gar nicht nötig, daß Sie es verstehen. Rassurez-vous: ich verstehe es auch nicht ... Nun traten zu der ursprünglichen Erinnerung andere Eindrücke, und das alles hat sich so mit einander zu einem Traum verflochten.

Marit gab sich nicht zufrieden; Falk solle ihr das näher erklären.

– Nein, Fräulein Marit, Sie werden nicht klüger dadurch. Sie müssen nur zugeben, daß die Seele ein anderes Ding ist, ganz anders, als sie sich in den rohen ungebildeten Gehirnen der Kirchenväter widerspiegelte. Hören Sie nur weiter.

Ja, also das z. B., daß der Körper des Knechtes in meinem Traume sich wand und aufschnellte, das kam wahrscheinlich von einem andren Eindruck her. Sie wissen doch, daß ich Naturwissenschaften studierte? Ja, damals arbeitete ich im physiologischen Laboratorium und habe eine Unmenge Frösche und Kaninchen viviseziert. Ich mußte es nämlich tun, und ich habe die Tiere immer narkotisiert. Aber einmal hab ich einen lebendigen Frosch vorgenommen, ihn mit Nägeln auf ein Brett befestigt und nun die Brust und Bauchhöhle geöffnet. Der Frosch zuckte so stark, daß er an den Nägeln bis an die Nagelköpfe heraufrutschte. Nun schnitt ich ihm das Herz heraus –

Das wollen Sie nicht hören? Nun gut, sprechen wir von etwas anderm.

Ob ich grausam bin? Nein, durchaus nicht. Aber es wäre blödsinnig, menschliches Schmerzbewußtsein in eine tierische Psyche zu verlegen, oder mein Empfinden mit dem Empfindungsmaßstab der rohen Knechte zu messen, die mit herzlicher Freude der unmenschlichen Exekution an einem ihrer Brüder zusahen.

Jetzt schwiegen sie beide.

Sie kamen an einen kleinen Hain, der einen kleinen Abhang hinab bis an den See reichte.

Es war heiß und drüben im Walde zitterte und flirrte der Mittag. Alles verschwamm in der saugenden Hitze. Der See lag schlaff und still; eine drückende Ruhe war über die ganze Gegend gebreitet.

– Ob sie sich nicht etwas hinsetzen möchte? Er wolle sie ganz gewiß nicht belästigen. Er werde sich in respektabler Entfernung hinsetzen.

Er legte sich im Moos lang hin; sie saß drei Schritte weiter auf einem Stein und spielte nervös mit ihrem Sonnenschirm.

Plötzlich setzte er sich auf.

– Warum sie denn eigentlich in die Kirche gehe? Habe sie denn nicht so viel Stolz, dort nicht hinzugehen, wo all der Pöbel hinlaufe, wo es übel rieche und die Brunst nach Glück sich so offen und so schamlos in Gebeten an den allmächtigen Herrn offenbare?

Marit dachte nach, wie sie einmal von dem schlechten Geruch und dem Schweiß all der Menschen ohnmächtig geworden war, wie man sie dann in die Sakristei getragen und ein ekelhafter Kerl ihr dort die Taille aufgerissen hatte, damit sie zu sich komme – ach, war das abscheulich! Aber sie schwieg.

– Verstehe Sie denn nicht, daß darin etwas stark Verrohendes liege?

– Nein, das verstehe sie nicht, und wolle es auch nicht verstehen. Die Religion sei ihr einziges Glück, ihre einzige Zuflucht.

– Ach so ... sagte Falk gedehnt ... Sehr gut, sehr gut.

Falk schien furchtbar müde zu sein. Er legte sich wieder lang ins Moos und machte die Augen zu.

Auf seinem Gesichte spielten die Schatten der Sträucher in einander; es war da ein Zug seltsamen Leidens.

Marit dachte nach.

Er war ein furchtbarer Mensch. Die Vorstellung der schweißriechenden Kirche wurde in ihr stärker und stärker. Ein Ekel überkam sie, der wuchs und wuchs. Sie verstand es nicht. Hatte er Recht? – Ja, und dann das ewige Herleiern von Gebeten! Sie wagte es nicht weiter zu denken. Gott, Gott, was er noch aus ihr machen werde!

Auf Falks Gesicht wurde der Zug des Leidens deutlicher und deutlicher.

Jetzt hätte sie sich ihm ans Herz werfen mögen und mit der Hand die gräßliche Falte des Leidens glätten.

Wie sie ihn glücklich sehen möchte, so glücklich, so glücklich ...

In Marits Augen zitterten Tränen.

– Mein Gott, Falk! ... aber weiter kam sie nicht.

Falk richtete sich erstaunt auf.

Sie sah beschämt zu Boden und kämpfte mit den Tränen; eine rollte nach der andern herab.

Falk rückte näher an sie heran.

Sie schien plötzlich aufstehen zu wollen.

– Nein, Herrgott, sie brauche keine Angst vor ihm zu haben; durchaus nicht. Wenn er etwas haben wolle, müsse man es ihm freiwillig und mit Freude geben. Nein, von selbst nehme er nichts. Nein, nein, er habe nicht die geringste Absicht, sie anzurühren. Sie könne ganz ruhig sein.

Er starrte auf den See und die flirrende Mittagshitze drüben im Walde.

Marit suchte wieder das Gespräch anzuknüpfen.

– Warum er eigentlich gestern so schlecht zu ihr gewesen sei?

Schlecht? – Nein, was sie sage ...

Falk gähnte.

– Schlecht? Durchaus nicht; nur betrübt sei er gewesen. Er liebe sie. Er wolle, daß sie sich in seinen Geist einlebe, ein Stück von ihm werde. Aber im Gegenteil: Alles, was er verachte, was er für niedrig und dumm halte, das verehre sie. Alles, was er ihr sagen wolle, das könne sie nicht anhören. Er, der Freie, der Herr, könne selbstverständlich nicht ruhig ansehen, wenn das Weib, das er so unaussprechlich liebe, in so elend niedriger Sklaverei hinlebe. Er, der für sich selbst Gott und das oberste Gesetz sei, werde ganz krank, wenn er sehe, wie jede ihrer Handlungen durch irgend eine Formel von vornherein bedingt sei ...

Ja, das verdirbt, zerstört Sie mir, sprach er erregt. Sie lösen sich dadurch völlig von meinem Gehirne los. Geben Sie Almosen, so weiß ich ohne weiteres, Sie tun es, weil es in Ihrem Gesetzbuch steht: »Seid mitleidig, auf daß Ihr ins himmlische Königreich kommt.« Gehen Sie zu einem Kranken, weiß ich wieder, daß irgend eine Formel Ihnen was Schönes dafür verspricht. Für alles werden Sie entschädigt, für alles bezahlt. Fühlen Sie nicht das Niedrige, das Gemeine dieser Handlungsweise? Alles nur um des Lohnes willen; alles um der lächerlichen, eingebildeten Freuden willen, die Sie einst im Himmelreich erwarten. Ekelhaft!

Marit wurde ganz blaß.

Falk geriet in Wut.

– Tun Sie doch etwas, weil Sie es müssen, nicht weil Sie es sollen! Schmeißen Sie weg, was Ihnen nicht genehm ist! Seien Sie doch Sie, nur Sie, Sie, die herrliche, wunderbare Marit ... Ja, ja, ja! in alle Ewigkeit ja! Sie sagen, daß Sie mich lieben, und eine dumme Formel genügt, um Ihre herrlichsten, gewaltigsten Instinkte zu brechen. Und nachher beten Sie dann noch zehn Rosenkränze zur Jungfrau Maria, daß sie Ihre Seele aus den Krallen des Bösen gerettet hat. Das soll Liebe sein? Das? Das Liebe, die durch eine dumme Formel gebrochen werden kann.

Falk lachte mit wildem Hohn.

Marit saß stumm, zitternd an allen Gliedern.

– Ja, so antworten Sie mir doch! Das soll Liebe sein? Antworten Sie doch, was Sie unter Liebe verstehen!

Marit schwieg.

– Marit, antworte mir! Ich will dich nicht quälen, nein. Ich liebe dich bis zur Verrücktheit. Ich bin krank nach dir! Ja, ich weiß, daß du mich liebst, ja. Ich weiß es; nichts weiß ich sicherer ...

Falk rückte ihr ganz nahe; er umschlang sie.

– Nein, um Gotteswillen! Falk, Erik, nein. Quälen Sie mich doch nicht so furchtbar!

– Ah pardon! Tausendmal pardon. – Ja, ja, ich habe mich wieder vergessen. Gott ja, es ist auch gleichgültig. Es soll niemals mehr vorkommen ... Wollen wir nicht gehen?

Falk gähnte affektiert.

An seiner Seite ging Marit, zerrissen von Schmerz. Sie bemühte sich vergeblich, ihn zu bemeistern.

– Ja, ja; es ist alles ganz gleichgültig, wiederholte sie in ihren Gedanken.

– Nun auf Wiedersehen! Falk reichte ihr die Hand. Sie waren an der Gartentür angelangt.

Marit zuckte auf.

Er darf nicht fahren, schrie es in ihr; um Himmelswillen nicht fahren!

Sie griff nach seiner Hand.

– Sie fahren nicht, Falk? Nein? Sie dürfen nicht fahren! Machen sie, was Sie wollen, aber fahren Sie nicht.

Ihre Lippen bebten; sie konnte sich nicht mehr beherrschen.

– Fahren Sie nicht! Sie machen mich sonst unglücklich!

Ihre Stimme brach.

Falk sah sie kalt und hart an.

– Ja, das weiß ich nicht. Das hängt von den Umständen ab. Jedenfalls werden Sie noch von mir hören, bevor ich fahre.

Er sagte kurz Adieu und ging.


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