Stanislaw Przybyszewski
Homo Sapiens
Stanislaw Przybyszewski

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VI.

Am nächsten Tage war ein wunderbarer Morgen. Über der ganzen Gegend lag der tauglänzende Sonnenschein, und von den Feldern löste sich in silbrigen Schwaden der Nebel.

Marit ging zur Frühmesse. Sie war sehr bleich, aber aus dem abgequälten, vergrämten Kindergesicht sprach eine überirdische Ruhe.

Sie ging, in den Händen den Rosenkranz, und flehte den heiligen Geist um die Gnade der Erleuchtung an.

Als sie in die Klosterkirche eintrat, hatte der Priester soeben das heilige Amt der Messe in einer Nebenkapelle begonnen. Marit kniete nieder vor dem Hochaltar und betete ein inbrünstiges Gebet. Seitwärts in einem Beichtstuhl saß ein junger Priester und betrachtete sie neugierig. Er hatte gleichfalls einen Rosenkranz in den Händen und seine Finger glitten mechanisch von einer Perle zur andern.

Marit stand auf und trat an den Beichtstuhl.

Die Beichte dauerte lange.

Plötzlich erhob sich Marit, ging mit scheuen Schritten an eine Bank unter dem Orgelchor, setzte sich hin, verbarg ihr Gesicht in den Händen und fing zu weinen an.

Der schamlose Mensch! Sie nach solchen Dingen zu fragen! Nein, sie mochte nicht daran denken. Ihr Kopf war ganz wirr. Sie hatte den Priester nicht verstanden. Es war unmöglich: ein Diener Gottes konnte nicht solche Fragen stellen.

Dunkle Schamröte stieg in ihr Gesicht.

Der rohe Sohn eines Knechtes! Ja, sie wußte, er war ein Bauer. Erik hatte Recht, daß er so wütend gegen die Priester war; sie stammen alle von Knechten.

Aber alle Menschen sündigen. Ein Priester kann irren. Er meinte es wohl gut; er wollte gewissenhaft sein.

Aber die innerste Seele Marits brannte vor Scham und Empörung. Sie weinte. Sie fühlte sich getreten wie ein Wurm. Nicht Gott, nicht Maria, nicht Priester; niemand, niemand wollte ihr helfen. Alle hatten sie verlassen! O Gott, Gott, allwissender, barmherziger Gott! Wie unglücklich, wie elend, wie krank sie war.

Der Meßdiener läutete dreimal.

Nein, jetzt konnte sie den Leib Christi nicht nehmen, jetzt nicht; sie wollte es nicht.

Sie sah sich verstört um.

Kirche? Nein, diese Kirche, dieser Geruch von Schweiß und schlechten Speisen. Falk hatte Recht: kein Mensch konnte es darin aushalten.

Marit verließ die Kirche.

Sie blieb unschlüssig stehen.

Könnte sie wohl zu Frau Falk gehn? – Nein, unmöglich, wie würde das aussehn. Oh, sie hatte die scharfen Augen bemerkt, die Frau Falk auf sie und Erik richtete.

Und Erik kommt ja heut heraus; ja ganz gewiß; er ist so gut. Jetzt würde sie ihm ruhig zuhören; ja, er hatte Recht. Die Priester sind Söhne von Knechten; sie werden es nur, um gut und leichter Brot zu haben. Hatte Falk nicht gesagt, es sei statistisch bewiesen: nur Knechte und Bauern lassen ihre Söhne Priester werden.

Und plötzlich erinnerte sie sich Wort für Wort, was Erik ihr vor einem Jahre erzählt hatte.

Er hatte eine Verwandte, die sieben Kinder und ihre alte Mutter ernähren mußte. Der Mann war Maurer, war von der Leiter herabgestürzt und gestorben. Es war, als Erik noch aufs Gymnasium ging.

Und nun hörte Marit ganz deutlich Falks Stimme:

Ich trat in eine kleine, ärmliche Stube. Ob ich die Tote sehen wolle? Nein, ich mag keine Toten sehen; das ist unangenehm. Sie solle zum Priester gehen, ihm ihre Lage erzählen, dann werde Der dem Begräbnis umsonst beiwohnen. Ja. Sie ging also zum Priester. Aber der Priester – was sagte der?

Damals wollte sies nicht glauben; jetzt wußte sie, daß es Wahrheit gewesen. Nein, Erik log nicht.

Hinter der Klosterkirche floß ein schmaler Streifen Wasser, ein kleiner Nebenfluß, über den eine Brücke führte.

Marit blieb auf der Brücke stehen und schaute in das Wasser.

Was sagte doch der Priester?

Wieder hörte sie deutlich die höhnende, zynische Stimme Falks: Gibst du mir drei Taler, so werd ich die Leiche begraben; sonst kann er ja ohne Priester begraben werden, das kostet viel weniger.

Marit mußte unwillkürlich an den Beichtstuhl denken.

Ein Schauer von Ekel schüttelte sie.

Sie ging gedankenlos weiter.

Oh, wenn er jetzt käme! Er macht doch sonst Spaziergänge am frühen Morgen. Wenn sie ihn jetzt träfe ...

Ihr Herz fing an heftig zu schlagen.

Ja, jetzt würde sie ihn anhören, ihn alles sagen lassen, ihm noch Fragen stellen.

Aber sie wartete vergebens; den ganzen Tag vergebens. Falk kam nicht.

Sie war schon hundertmal durch den Garten gegangen und spähte auf die Landstraße, aber kein Mensch war zu sehen; nur hin und wieder war eine Staubwolke aufgestiegen, flog ihr näher, und dann erkannte sie ein Fuhrwerk aus dem Nachbardorfe.

Morgen wird er kommen, dachte sie und kleidete sich aus. Sie hatte kein Licht angesteckt, denn sie fürchtete sich vor dem Bilde der heiligen Jungfrau; sie wollte es nicht sehen.

Unschlüssig blieb sie vor dem Bette stehen.

Beten?

Sie fragte sich noch einmal: Beten?

Die lächerliche Brunst nach Glück, die schamlose Brunst nach Glück, höhnte es in ihren Ohren.

Sie stieg ins Bett mit horchender Angst.

Ob sie der allwissende Gott wohl auf der Stelle strafen werde?

Sie lag horchend, lauernd.

Nein, nichts ...

Die Uhr tickte und zerriß die tiefe Stille.

Sie war sehr müde und schon im Halbschlaf. Ihr Gehirn war wie gelähmt. Nur noch einmal dämmerte die Frage in ihr auf: ob er morgen wohl kommen wird.

Und wenn er weggefahren ist?! – Nein – nein. Sie war ganz sicher, sie wußte es: jetzt, wo sie sein, ganz sein war, wo sie nun mit seinem Geiste lebte, jetzt war er nicht weggefahren.

Merkwürdig, wie sicher sie das wußte ...

Aber auch den ganzen folgenden Tag erwartete sie Falk vergebens, den ganzen, endlosen, furchtbaren Tag.

Ob sie diese unerhörte Sehnsucht wohl noch lange aushalten könnte?

Unwillkürlich sah sie in den Spiegel.

Ihr Gesicht sah ganz zerstört aus. Die Augen glühten von den schlaflosen Nächten und waren blau umrändert. Auf den Backen brannten hektische Flecke.

Ein tiefes Mitleid mit sich selbst erfaßte sie.

Wie er sie nur so unmenschlich quälen konnte; warum strafe er sie so schrecklich?

Sie fühlte sich wie ein Kind, das ungerecht geschlagen wird.

Sie versuchte nachzudenken, aber sie konnte die Gedanken nicht sammeln, alles ging ihr wirr im Kopfe herum.

Was ging nur mit ihr vor? Deutlich hörte sie fortwährend einzelne Worte, einzelne abgerissene Sätze aus seinen Reden. Sie wurden allmählich wie zu einem großen Schlinggewächs, das sich über ihren ganzen Seelenboden ausbreitete, alles überwucherte und mit tausend Ranken immer höher, bis empor in ihren Kopf kletterte.

Sie war so eingesponnen in dies wuchernde Netz der starken Schlingfäden, daß sie sich vorkam wie in ein Gitter eingeschlossen, dessen Wände immer enger wurden. Überall die gittrigen Käfigmaschen, eine neben der andern, immer pressender, von vier Seiten her.

Gott, Gott, was ging in ihr vor?!

Falks großer Geist: Stück für Stück ging er in sie über. Sie dachte mit seinen Worten, mit demselben Tonfall, demselben heisern halben Lachen, das in seiner Sprache war.

Sie sträubte sich, sie wehrte sich mit allen Kräften; aber plötzlich übermannte sie ein grinsender Gedanke.

Ihr war, als hätte er ihr alles Heilige, alles Schöne um sie her brutal entkleidet; huh, diese scheußliche Nacktheit!

Gestern in der Kirche: wie kam es nur, daß sie plötzlich hinter der Glorie des Gottesdieners das brutale Gesicht entdeckte, das sie so widerlich an das Gesicht eines Knechtes erinnerte?

Und jetzt, jetzt: was war es denn, um Himmelswillen?

Sie wollte es nicht sehen, aber immer wieder mußte sie drauf hinstarren.

Ja, wie kam es nur? Der ganze Ausdruck des Heiligen, Überirdischen verschwand auf einmal von dem Bilde der byzantinischen Madonna, und Marit starrte in das blöde Lachen einer kindisch bemalten Puppe.

Nein, war das Bild lächerlich!

– Christus war der feinste, edelste Mensch der Weltgeschichte – ja, Mensch, mein Fräulein; seien Sie nicht so empört, aber es ist so.

Und nun hastete durch ihren Kopf eine Schar von Argumenten, Syllogismen, Gotteslästerungen.

Nein, sie konnte nicht mehr daran denken.

Und nun saß sie und saß in einer stumpfen Ohnmacht. Alle Welt hatte sie verlassen. Auch Er ...

Als sie in das Speisezimmer hinunterkam, war es schon Abend.

– Marit, ich muß zu Mama ins Bad; ihr Zustand hat sich verschlimmert. Es wird wohl nicht gefährlich sein, aber ich bin doch unruhig.

Herr Kauer langte sich eine Schnitte Brot und bestrich sie bedächtig mit Butter.

Mama? Mama? ja. Sie hatte alles vergessen; es war ihr alles gleichgültig. Sie fühlte über sich ein dumpfes, lauerndes Verhängnis, eine riesige Sturzwolke, die eine ganze Welt begraben wollte.

– Ja, und dann hat der Herr Landrat uns für morgen Abend eingeladen.

Marit zuckte freudig auf. Dort würde sie Falk sehen. Er war ja mit dem Landrat gut Freund.

– Ja, Papa, ja; ich möchte sehr gerne zu Landrats. Ja, Papa, wir wollen fahren.

Aber Kauer wollte schon am frühen Morgen reisen.

Marit ließ nicht nach mit Bitten.

Sie komme nirgends hin; sie möchte so gerne wieder einmal recht viele Menschen sehen.

Kauer liebte seine Tochter; er konnte ihr nichts abschlagen.

– Nun, dann kann ich mit dem Nachtzug fahren. Aber dann mußt du allein nach Hause.

– Das sei doch nicht das erste Mal. Sie sei doch ein erwachsenes Mädchen.

Kauer aß und dachte nach.

– Warum kommt denn Falk nicht mehr? Ich habe ordentlich Sehnsucht nach dem Burschen. Ja, ein merkwürdiger Mensch. Die ganze Stadt ist in Aufregung über ihn. Er macht aber auch wirklich tolle Sachen. Gestern begegnet er seiner Mutter, wie sie ein Schwein nach Hause treibt, das sie auf dem Markt gekauft hatte; sie konnte nämlich keinen Dienstmann bekommen. Was macht mein Falk? Er nimmt das Schwein am Seil, treibt es durch die ganze Stadt, von einer Straße zur andern, die Mutter hinter ihm her – ja, und als die Leute ihn nun ganz verdutzt anglotzen, klemmt er sich ein Monokel ins Auge und treibt das Schwein mit einer Majestät und Ehrfurcht ...

Marit lachte.

– Ha, ha, ha – Herr Kauer konnte sich nicht beruhigen – ein Schweinetreiber mit Monokel! Wunderbar ... Und Abends, na ja: weißt du das geht doch über das Maß: er hat dem Gymnasialdirektor Ohrfeigen angeboten.

– Warum denn?

– Ja, ich weiß nicht; aber es ist wirklich Tatsache. Aber denk dir doch, Marit: dem Direktor! Ja, ja, er ist ein merkwürdiger Mensch. Aber das Merkwürdigste, daß man ihn trotzdem lieben muß. Schade um den Menschen, hm: er soll in diesen Tagen furchtbar trinken. Es war doch wirklich schade, wenn er sich durch trinken ruinierte.

Marit horchte auf.

– Trinkt er denn wirklich so viel jetzt?

– Ja, man sagt.

Marit dachte an seine Worte: er trinke nur, wenn er sich unglücklich fühle. Und der Vater trinkt doch manchmal auch ... –

Sie fühlte eine merkwürdige Freude.

Es war ihm also nicht gleichgültig ... Morgen, morgen werde sie ihn sehen ...


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