Stanislaw Przybyszewski
Homo Sapiens
Stanislaw Przybyszewski

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X.

In dem kleinen Zimmer der »Grünen Nachtigall« saß nur ein Mann. Er hielt den Kopf in beide Hände gepreßt und brütete.

Falk schrak heftig auf.

Herrgott, war es nicht Grodzki? Wie war er denn hergekommen? Er mußte ja doch jetzt in der Schweiz sein ... Und allein!

Er wurde unruhig und sein Herz schlug heftig. Er setzte sich an den Tisch und betrachtete ihn stumm.

Aber Grodzki schien nicht zu wissen, daß sich Jemand in seiner Nähe befand.

– Nun, schläfst Du? Falk stieß ihn ungeduldig an. Er fühlte sich mit einem Male gereizt, ohne zu wissen, warum.

Grodzki sah ihn, ohne seine Stellung zu verändern, ruhig an mit glanzlosen, starren Augen, dann fing er an, aufmerksam sein Glas zu betrachten.

– Kannst Du denn nicht ein Wort sagen? schrie Falk ihm zornig zu.

Grodzki sah ihn wieder an und lächelte boshaft.

Falk wollte etwas sagen, aber in demselben Augenblick bemerkte er, daß Grodzki ganz unheimlich verändert war. Sein Gesicht war totenblaß, die Augen eingefallen und eigentümlich starr.

– Bist Du krank?

Grodzki schüttelte den Kopf.

– Was fehlt Dir denn?

– Hm; Du möchtest wohl wieder Deine Experimente über Decadence und Degeneration mit mir anstellen? Nun, die Zeit ist vorüber, wo ich wie ein Medium Deinem Einfluß unterlag.

Falk schien Alles zu überhören.

– Sonderbar, daß ich heute gerade über Dich gesprochen habe, über Deinen Wahnsinnsanfall in dem Afrikanischen Keller ... Ganz lächerlich hast Du Dich damals benommen ...

Falk wurde wütend.

– Sag doch jetzt endlich, warum hast Du damals so geschrien? Was? Übrigens ist es mir sehr unangenehm, Dich hier zu treffen ...

Grodzki sah ihn wieder an und lächelte.

– Mir auch, sagte er. Ich hätte eigentlich wissen sollen, daß man in den Nächten Dich überall antreffen kann. Er lachte boshaft auf. Hast Du Deine Ausschweifungen noch nicht eingestellt?

Falk zuckte verächtlich die Achseln und bestellte Wein. Er fühlte wieder die Fieberschauer, es brannte ihm im Schlund und manchmal wurde es ihm schwarz vor den Augen. Aber es ging gleich wieder vorüber. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn.

– Du hast wohl Fieber? fragte Grodzki lächelnd.

Falk wurde ganz hilflos.

– Ja, ja; ich bin wohl ein wenig krank, ich weiß nicht eigentlich ... Das geht vorüber; aber ich bin so unruhig ...

Er fühlte plötzlich das Verlangen, viel zu sprechen, er wollte auch Grodzki über Vieles fragen, aber er vergaß, worüber eigentlich.

– Nein, nein, es hat nichts zu bedeuten ... Ja, richtig! Ich habe Dich so lange nicht gesehen, seit Deiner Skandalgeschichte nicht mehr ... Ich habe jetzt auch oft Fieberanfälle.

Er besann sich.

– Ja, Deine Skandalgeschichte ... Du bist doch mit der Frau, wie heißt sie doch nur – weggefahren ... Wie bist Du denn wieder hier? Warum bist Du hier? Wo ist sie denn?

– Sie ist wohl tot, sagte Grodzki nachdenklich.

– Tot? Tot? Nein, erlaub mal, ich habe Dich nicht verstanden ... Sie ist wohl tot! sagtest Du.

– Ja, ich weiß nicht genau. Grodzki sprach ungewöhnlich langsam. Ich weiß wirklich nicht genau. Ich habe ihr gesagt, sie sei mir eine Last, und so ist sie gegangen. Ich habe dann kurz nachher mein Bewußtsein verloren, weil ich ein starkes Gehirnfieber bekam, und da konnt ich nicht mehr meine Visionen von der Wirklichkeit unterscheiden. Man sagte mir nichts, weil ich Niemanden gefragt habe, man hat mich auch wohl schonen wollen; übrigens bin ich gleich weggefahren ... Mehr kann ich Dir nicht sagen, fügte er nach einer Pause hinzu ... Nun, es ist mir auch gleichgültig, ich bin damit fertig geworden.

Falk starrte ihn ängstlich an.

– Ist das wahr?

– Ich weiß ja selbst nicht, ob es wahr ist, es interessiert mich auch nicht, die Wahrheit zu erfahren.

Sie schwiegen. Beide saßen wohl zehn Minuten, ohne zu sprechen.

– Du Falk, glaubst Du an die Unsterblichkeit der Seele?

– Ja.

– Wie stellst Du Dir das vor?

– Der Glaube stellt sich nichts vor. Übrigens glaub ich gar nicht daran. Ich glaube weder, daß sie sterblich, noch daß sie unsterblich ist. Ich glaube an nichts ... Aber weißt Du wirklich nichts mehr von ihr?

– Von wem?

– Von ihr!

– Nein! ... Hm, der Glaube – der Glaube ... Ich glaube eigentlich auch an nichts, aber ich habe doch eine sonderbare Angst.

– Angst?

– Ja, große Angst. Man denkt niemals ernsthaft daran, das Leben ist ja so lang. Aber, wenn man sterben will, so denkt man beständig an das, was dann kommen könnte. Ich will nämlich jetzt mit dem Leben ein Ende machen, sagte er nach einer Pause mit einem sonderbaren Lächeln.

– So, so; Du willst sterben. Das ist sehr vernünftig, das ist das Beste, was Du tun kannst.

Falk beobachtete ihn neugierig.

– Es ist eigentlich keine Angst; nein – etwas ganz Anderes. Im Momente, wo ich es tun will, verliere ich plötzlich das Bewußtsein. Ich kann nicht denken, ich kann nicht genau kontrollieren, was ich tue. Ich bekomme Fieber, und ich möchte bei vollem, kaltem Bewußtsein sterben ... Das scheint sehr schwer zu sein ... Es gibt zwar eine Methode, nämlich urplötzlich, in dem Momente, wo man sagt, daß man es nicht tun will, abzudrücken, also sich selbst zu überrumpeln ... So tun wohl die Meisten. Aber ich will mich nicht überrumpeln. Ich will mit Willen sterben.

Falk sah ihn unverwandt an. Er wunderte sich eigentlich darüber, daß Grodzkis Rede auch nicht den geringsten Eindruck auf ihn machte. Ihn interessierte nur sein Gesicht. Es war das Gesicht einer Maske. Namentlich das Lächeln war sonderbar. Die Lippen verzogen sich langsam und ganz mechanisch, ohne daß auch nur ein Muskel daran Teil zu nehmen schien. Er dachte nach. Was ging mit Grodzki vor? Was wollte er nur?

– Warum willst Du Dich eigentlich töten?

Er fühlte sein Herz heftig und unruhig schlagen.

– Warum? Warum? Mit demselben Rechte könnt ich Dich fragen, warum Du noch weiter leben willst. Das ist doch noch viel sonderbarer. Ich habe Dich jetzt erst verstanden. Ich habe sehr viel über Dich nachgedacht. Du hast ja eine große Rolle in meinem Leben gespielt ... Warum willst Du noch leben mit Deiner Verzweiflung und Deinem bösen Gewissen?

Er lachte lautlos.

– Alles, was Du tust, tust Du aus Deinem bösen Gewissen, und wenn Du Jemanden verdirbst, so tust Du es nur, um Mitschuldige zu haben, um auch Andere leiden zu sehen. Du hast nicht Stolz genug, um allein leiden zu können. Du leidest übrigens zu viel. Ist es nicht so?

Sie sahen sich lange an. Falk fühlte plötzlich eine rätselhafte Raserei gegen diesen Menschen, die sich auch Grodzki mitzuteilen schien, denn er sah, wie seine Augen sich zu beleben anfingen und ihn mit einem wütenden Ausdruck des Hasses anstarrten. Sie bohrten sich in einander mit ihren wütenden Augen. Falk fühlte, daß sein Gesicht zu zucken anfinge; er stand unwillkürlich auf und setzte sich wieder hin. Es war ein Moment, in dem er auf den Anderen losspringen wollte, dann hatte er Lust aufzuschreien, er fühlte, daß er jetzt seine Augen nicht losreißen konnte.

Da plötzlich brach der Bann ...

Grodzki lachte heiser auf.

– Ha, ha: Du bist jetzt unschädlich, lieber Falk. Es fehlt Dir an Kraft, Böses zu tun. Es sind nur noch Trümmer von Dir übrig geblieben ... Ich habe Dich einmal sehr geliebt, mehr als Du es Dir denken kannst.

Im selben Nu wurde sein Gesicht ernst. Falk starrte unaufhörlich dies Maskengesicht an. Er hörte kaum, was Grodzki sprach. Er fraß mit den Augen an diesem Gesicht, um etwas aus ihm herauszulesen, ein Geheimnis, das da drin stecken mußte ...

– Ja, ich habe Dich sehr geliebt. In meinen Augen warst Du ein Gott, aber jetzt seh ich, daß Du auch nur ein Mensch bist. Es ist mir, als wär ich jetzt plötzlich aus einem hypnotischen Schlaf erwacht ... Nur ein Mensch, sagte er nachdenklich, eine höhere Gattung vom Affen ... ein Schurke, ein kleiner Schurke bist Du. Nein, ich liebe Dich nicht mehr. Ich habe eigentlich keinen Grund dazu ... Ja, doch: ich liebe Niemanden. Ich habe auch sie nicht geliebt. Du wirst das vielleicht selbst einmal erleben. Wir können nicht lieben: das ist Alles nur Selbstlüge ... Nein, Dich hab ich ja auch immer viel mehr gehaßt, als geliebt. Ich habe mich eigentlich immer gehütet vor dem dummen Kniff der Natur, den Menschen durch Liebe ans Leben zu fesseln ... Er schwieg eine Weile.

Ja, Falk, Du bist ein kleiner Mensch. Was gehst Du mich übrigens an?

Er sah Falk starr in die Augen und spielte mechanisch mit dem Weinglas.

– Ich habe Dir auch nichts mehr zu sagen. Es ist ein dummer Zufall, daß ich Dich getroffen habe ...

Er lächelte boshaft.

Vielleicht, –ja, vielleicht würd ich Achtung vor Dir bekommen, wenn Du mit Deinem erbärmlichen Leben auch ein Ende machen wolltest ... Ich will ja gar nicht den scharfsinnigen Psychologen spielen, aber es gibt Momente, wo man so deutlich, so klar in der Seele des Anderen lesen kann ... Ich sehe so deutlich Deine Verzweiflung, Deinen Lebensekel ... Aber es geht mich ja im Grunde nichts an ...

– Wiederhole das nicht so oft, sonst werd ich das Gegenteil glauben, versetzte Falk boshaft.

Grodzki wurde plötzlich sehr unruhig und schien selbst nicht zu wissen, was er sprach. Er vergaß, was er vor einer Weile sagte.

– Nein, ich meinte nur, oder Du wirst meinen, daß man so etwas nicht wollen kann; nun: Du kannst es tun, weil Du es mußt ... Es kommt ja auf dasselbe hinaus, ob man es will oder muß ... Warum soll man nicht dem Gehirne die stolze Satisfaktion lassen, daß es einmal, ein einziges Mal etwas gewollt hat? Warum nicht? Man braucht sich auch gar nicht zu wundern, daß es nur ein einziges Mal Etwas gewollt hat. Es ist ungeheuer schwer, etwas zu wollen. Ich wollte es gestern tun, und ich habe mich vor Angst und Verzweiflung in den Finger gebissen, ohne daß ich es wußte. Es sträubt sich etwas furchtbar gegen den Tod. Es quält sich so wahnsinnig, es leidet so unerhört, daß die Haare zu Berge stehen. Es hilft nichts. Mein Gehirn hat einmal etwas gewollt, und es will den Tod.

Er schwieg wieder. Falk sah ihn mit steigender Angst und Entsetzen an.

– Nur darf man es nicht in Verzweiflung tun ...

Grodzki sprach halblaut mit sich selbst.

– So macht es jeder Knecht, der beim Militär schlecht behandelt wird, – nein, in Ruhe, in vollkommener Ruhe muß man es tun.

Er sah wieder mit weiten, ausdruckslosen Augen Falk an.

– Ich habe ein Bild gesehen. Der Mann geht in Lackschuhen und aufgekrempelten Hosen in das Reich des Todes. Der Mann geht sans peur, mit Chick. Zwei Lilien wachsen zu jeder Seite. Unten gähnt der Tod. Die ganze Sache ist für den Tod langweilig. Und die dummen Menschen machen so viel Wesens daraus ... Das Bild hat damals einen großen Eindruck auf mich gemacht... Verstehst Du den blasierten Tod? Verstehst Du, was das bedeutet: ein Tod, für den der Tod gleichgültig und langweilig ist?

Er schwieg lange.

– Ich habe auch keine Angst. Ich hätte absolut keine Angst, wenn ich mich ins Gehirn schießen wollte. Aber ich will mit Anstand und in Schönheit sterben, ich will nicht, daß mein Gehirn nach allen Seiten herumspritzt ... Nun siehst Du: ich habe Angst vor den paar Sekunden, da mein Gehirn noch leben wird, nachdem das Herz schon tot ist. Mein ganzes Leben werd ich in diesen paar Sekunden durchleben, noch einmal durchleben. Eine entsetzliche Lebensbrunst wird mich befallen: es wird mir Alles so schön vorkommen, was ich erlebt habe. Eine unerhörte Verzweiflung, ins Leben zurück zu kommen, wird mich packen, eine rasende Angst, daß diese paar Sekunden bald zu Ende gehen, daß ich in einer Sekunde vielleicht nicht mehr denken kann. Jeden Grashalm werd ich sehen, jedes Blatt über mir werd ich zählen, an tausend kleine Sachen werd ich denken, um das Gehirn wach zu erhalten ... Die Gedanken werden sich immer mehr verwirren. In dem letzten Sekundentausendstel werd ich noch an sie denken, – noch ein furchtbarer Ruck durch den ganzen Körper, dann fängt ein feuriger Kreis vor meinen Augen zu tanzen an, ein Kreis in einer wüsten, wirbelnden Bewegung. Ich werd ihn anstarren, wie er schwindet und zusammen schrumpft: jetzt so groß wie ein Teller, jetzt wie ein kleiner Ring ... noch ein gräßlicher Ruck der Angst, daß er nun sofort verschwinden soll – aber jetzt ist er nur ein winziger Punkt, ein lachender Punkt im Glutauge des Nichts – Grodzki lächelte irrsinnig – dann ist es vorüber.

Ein entsetzliches Angstgefühl wirbelte in schmerzhaftem Schauer über Falks ganzen Körper. Aber nur einen Augenblick. Er wurde mit einem Schlag ruhig. Gleichzeitig fühlte er eine quälende Neugierde sich regen und wachsen. Er möchte sich jetzt in ihn hineinsaugen. Es war da ein Geheimnis, das er nicht kannte, das ihm vielleicht die letzten Gründe des Daseins klar machen könnte. Aber sein Gehirn war wie benebelt, jeden Augenblick wurde es ihm schwarz vor den Augen und jedesmal griff er nach dem Weinglas.

Plötzlich sah er wieder mit unheimlicher Deutlichkeit Grodzkis Gesicht. Er prägte sich unwillkürlich die Züge ein. So also sieht einer aus, der in der nächsten Stunde sterben will ... Sonderbar! Nein, nicht sonderbar: das Gesicht glich vollkommen einer Totenmaske, nicht ein Muskel rührte sich in ihm; es war erstarrt. Er beugte sich weit über den Tisch und fragte geheimnisvoll.

– Wirst Du es wirklich tun?

– Ja ... Heute.

– Heute?

– Ja.

Sie starrten sich eine Zeit an. Aber Grodzki schien nichts mehr zu sehen. Er war ganz geistesabwesend, nein, nicht abwesend, er dachte überhaupt nicht mehr.

Plötzlich rückte Grodzki Falk ganz nahe und fragte mit geheimnisvollem Eifer.

– Glaubst Du nicht, daß der heilige Johannes sich geirrt hat, als er sagte: am Anfange war das Wort?

Falk sah ihn erschreckt an. Grodzki schien plötzlich verwirrt zu sein. Seine Augen waren unnatürlich geweitet, sie glichen zwei schwarzen, glühenden Kugeln.

– Das ist Lüge. Das Wort ist erst eine Emanation, das Wort wurde vom Geschlecht geschaffen ... Das Geschlecht ist die immanente Substanz des Daseins ... Sieh, in mir haben sich die Wogen seiner Evolution gebrochen. Ich bin der Letzte! Du bist nur Übergang, ein kleines Glied in der Kette. Aber ich bin der Letzte. Ich stehe tausendmal höher als Du. Du bist Entwicklungsdung und ich bin Gott.

– Gott? fragte Falk in wachsendem Entsetzen.

– Ich werde gleich Gott. – Gott ist das Letzte des Nichts, der Schaum, den das Nichts aufgeworfen hat. Ich bin mehr, denn ich bin die letzte Woge des Seienden.

Er reckte sich hoch, ein stolzer Triumph goß sich über sein Gesicht.

– Gott ist das Mitleid und die Verzweiflung und die Langeweile des Nichts, aber ich bin der Wille der stolzesten Schöpfung des Seienden. Der Wille meines Gehirnes bin ich! schrie er triumphierend auf, sank aber sofort wieder in sich zusammen.

Eine krankhafte Ungeduld fing plötzlich an in Falk zu rasen. Sollte es länger dauern, so würde er es nicht aushalten können. Das Fieber würde ihm das Gehirn zersprengen. Wenn der Mensch nur gehen möchte. Wenn es nur schnell zu Ende wäre. Die Sekunden wurden ihm zu Ewigkeiten. Er hatte Mühe, ruhig zu sitzen. Er konnte es nicht abwarten, eine Raserei von Ungeduld zitterte in ihm und sein Herz schlug so heftig, als wollte es die Brust zersprengen.

Plötzlich erhob sich Grodzki langsam, ganz so, als wüßte er nicht, was er tue, er ging wie im Schlaf an die Tür. Hier blieb er sinnend stehen. Auf einmal wachte er auf.

– Du Falk, glaubst Du wirklich, daß es Teufelslogen gibt?

– Ich glaube nichts, ich weiß nichts, vielleicht in New-York, in Rom, ich weiß nicht ... er raste vor Ungeduld.

Grodzki grübelte. Dann ging er langsam hinaus.

Falk atmete erleichtert auf. Aber plötzlich wuchs eine furchtbare Unruhe in ihm. Es kam ihm vor, als hätte er jetzt erst eigentlich verstanden, was Grodzki tun wollte.

Er wollte nachdenken, aber er konnte nicht. Nur seine Unruhe wurde mit jeder Sekunde größer. Eine tierische, unreflektierte Angst stieg in ihm auf, sein Herz blieb auf einen Moment still stehen.

Er griff nach seinem Hut und legte ihn wieder weg, dann suchte er nach Geld, mit krampfhafter Hast durchwühlte er alle Taschen, fand es endlich in der Westentasche, rief nach dem Kellner, warf ihm Alles zu, was er in der Hand hatte und lief auf die Straße.

Von Weitem sah er Grodzki an einer Straßenuhr stehen.

Falk drückte sich ängstlich an eine Wand, daß Grodzki ihn nicht zufällig entdecke, und wieder fühlte er die rasende Ungeduld, daß es endlich einmal ein Ende nehmen möchte.

Nun sah er ihn endlich gehen. Mit sonderbarer Deutlichkeit sah er jede Bewegung, er studierte diesen eigentümlichen, schleppenden Gang. Er glaubte berechnen zu können, wann sich der Fuß erheben und wann er wieder zu stehen kommen würde. Er sah das Gleichgewicht des Körpers sich mit der Genauigkeit einer Maschine in derselben Bahn verschieben.

Dann wurde er zerstreut. Er bemühte sich, unhörbar zu gehen. Das machte viele Mühe und seine Zehen fingen an weh zu tun, aber er wurde dadurch ruhiger. Er konnte nur nicht verstehen, was diese quälende Neugierde und diese Ungeduld zu bedeuten hatten.

Er folgte Grodzki die Straße entlang und sah ihn in einer Parkanlage verschwinden.

Falk wurde so schwach, daß er sich an ein Eckhaus anlehnen mußte, um nicht zu fallen. Alles war in ihm so gespannt, daß der geringste Laut ihm weh tat. Er hörte in der Ferne eine Droschke fahren, dann hörte er ein Lachen ... er zitterte immer heftiger, seine Zähne klapperten.

Jetzt muß es kommen ... Er schloß die Augen. Jetzt ... jetzt ... sein Herz schnürte sich zusammen. Er erstickte.

Da fuhr es ihm durch das Gehirn, er könnte den Schuß überhören. Das Blut brauste und wogte in seinem Kopfe. Vielleicht könnte er gar nicht hören!

Er horchte gespannt.

Er wird sich vielleicht nicht erschießen, dachte er plötzlich und ballte in einem Paroxysmus der Wut die Fäuste. Er wollte ihn nur narren. Er wird sich gar nicht erschießen! wiederholte er in wachsender Raserei.

– Er kokettierte nur mit dem Gedanken ...

In diesem Augenblick hörte er den Schuß.

Ein jäher Schreck fuhr ihm durch die Glieder. Er wollte aufschreien, seine Seele rang danach, zu schreien, gräßlich zu schreien, aber seine Kehle war wie zugeschnürt, er konnte nicht einen Laut hervorbringen.

Plötzlich fühlte er eine wilde Freude, daß es zu Ende war, aber im Nu schlug seine Seele in einen wilden Haß um gegen diesen Menschen, der ihm diese Qual bereitet hatte.

Er horchte. Es war still. Nun fraß er sich mit jedem Nerv in diese Stille hinein, er konnte nicht genug horchen, es war ihm, als gösse sich diese Ruhe in ihn hinein.

Da fühlte er eine heiße, brennende Neugierde, den Mann zu sehen, in seine Augen zu sehen, den schwindenden Feuerwirbel ... Er machte vorsichtig einen Schritt vorwärts, blieb stehen, schöpfte tief nach Atem, und mit einem Ruck packte ihn eine grauenhafte Angst, es kam ihm vor, als ob er einen Mord begangen hätte, seine Knie zitterten, das Blut staute sich zum Herzen.

Er fing an zu gehen, bebend, als wäre jedes Glied selbständig geworden, er ging unsicher, stolperte, wankte ...

Plötzlich hörte er Schritte hinter seinem Rücken, er erinnerte sich mit einem Mal, daß er sie auch schon vorher gehört hatte, er wandte seine letzte Kraft an, fing an schneller und schneller zu gehen und schließlich sinnlos zu laufen. Seine Beine überstürzten sich. Er konnte nicht schnell genug wegkommen. Etwas riß ihn zurück. Er lief immer schneller, im Kopfe brauste und klopfte es: in nächster Sekunde würden alle Gefäße reißen ...

In Schweiß gebadet, kam er in den Flur seines Hauses und stürzte auf der Treppe zusammen.

Wie lange er so lag, wußte er nicht. Als er wieder zur Besinnung kam, stieg er langsam und leise die Treppe hinauf, kam geräuschlos in sein Zimmer hinein und warf sich auf das Bett.

Plötzlich befand er sich wieder auf der Straße. Er war sehr erstaunt. Er wußte gar nicht, wie er aus dem Hause kam. Die Tür war doch verschlossen. Er erinnerte sich nicht, daß er sie zugeschlossen hatte, aber auf die Handbewegung beim Umdrehen des Schlüssels konnte er sich sehr gut besinnen.

Er blieb nachdenklich stehen.

Er hatte doch sicher die Tür zugeschlossen ... Sonderbar, sonderbar ... Und da an der Ecke ein neues Haus. Daß er es nicht früher gesehen hatte! Er las auf der Front eine Inschrift mit riesigen Buchstaben: Trauermagazin ... Er zuckte zusammen ... Er brauchte wirklich nicht das Haus anzusehen. Dazu hatte er keine Zeit, nein, wirklich, gar keine Zeit. Er wunderte sich nur, daß er so plötzlich unruhig wurde. Warum denn so plötzlich? Ein Mann ging vorüber. Er hatte einen langen Rock, an dem der unterste Knopf fehlte. Das sah er ganz deutlich ...

Nun kam er über einen großen Platz, auf dem viele Wagen hin und her fuhren, aber er sah keine Menschen und hörte auch nicht das geringste Geräusch, im Gegenteil: es war eine Totenstille rings um ihn.

Es wurde ihm unheimlich zu Mute. Eine namenlose Angst kroch unaufhaltsam höher und höher hinauf, von unten herauf, von den Wurzeltiefen seines Rückenmarks – Wurzeltiefen? Er wollte nachdenken, aber die Angst paralysierte sein Denken: in seinem Gehirn war ein wirbelnder, glühender Wirrwarr, um seine Augen tanzte die Welt in Purpurflocken zerrissen ...

Im nächsten Moment wurde er wieder ruhig. Er ging schnell vorwärts, wohin ging er nur? wohin?

Da! Ja, da war die Straße zu Ende und nun kam der Park.

Er zuckte heftig. Die Angst und das Fieber schüttelten ihn, er konnte nicht weiter gehen, seine Knie wankten, und wieder flackerte die Welt vor seinen Augen in Millionen kreisender, zerstiebender Kugelfunken zerrissen.

Er wußte nicht, was mit ihm geschah. Er schloß die Augen zu, aber es zwang ihn etwas hinzustieren, deutlich auf einen Punkt, auf das Entsetzliche hin: da lag Grodzki.

Jetzt empfand er keine Angst mehr, nur eine grausame Neugierde. Übrigens sah er ihn nicht ganz deutlich, es war nur der Kopf da. Die Augen waren geschlossen und der Mund war offen. Er starrte lange das Maskengesicht an, aber plötzlich wurde er rasend, weil er fühlte, daß er sich nicht von der Stelle bewegen konnte. Er versuchte qualvoll, die Hand hochzuheben, es ging nicht. Nun mußte er alle Macht anwenden, um niederzusinken und auf den Händen wegzukriechen. Er konnte es nicht, er konnte auch nicht die Augen wegwenden.

Eine wüste Verzweiflung fieberte in ihm. Es war ihm plötzlich, als ob die Lider der Totenmaske sich zu einem Spalt öffneten und ihm boshaft zuzwinkerten.

Das war gräßlich!

Aber die Augen blinzelten deutlich, und nach und nach verzerrte sich der halboffene Mund zu einer scheußlichen Grimasse. Dann fühlte er, wie die eiskalte Hand seine Haut streifte, wie ihm die Leichenkälte über den ganzen Körper glitt ...

Er fuhr auf wie von einem furchtbaren Stoß emporgeschnellt.

Er sah sich wirr um. Wo war er denn? Das war nur ein Traum ... Das verfluchte Fieber!

Wenn es nur nicht wiederkäme. Die Angst zerrte an seinem Hirn. Er nahm mechanisch seinen Kragen ab. Der Hemdenknopf war heruntergefallen. Er suchte ihn mit einem seltsamen Eifer eine Zeitlang, er wurde immer eifriger und wütender, suchte ihn überall umher, wühlte mit einer rasenden Gier mit den Händen auf dem Boden herum, kroch unter das Bett, suchte unter dem Schreibtisch, mit wachsender Wut, in einem Paroxysmus von Verzweiflung warf er die Gegenstände umher und schließlich packte ihn eine Art Tollwut. Er weinte und knirschte mit den Zähnen und riß den Teppich vom Boden. Da lag der Knopf. Nun war er zufrieden. Glücklich war er. Nie war er so glücklich gewesen. Er legte ihn behutsam auf den Schreibtisch, sah noch einmal zu, ob er wirklich da war und setzte sich mit unendlicher Befriedigung ans Fenster. Es war ganz hell.

Plötzlich kam er völlig zum Bewußtsein. Das war also wirklich ein starkes Fieber. Sollte er vielleicht Isa rufen? O nein, nein, sie würde sterben vor Unruhe. Aber Morphium sollte er im Hause haben. Das war eine unverzeihliche Nachlässigkeit, daß er sich nicht damit versehen hatte ...

Nun mußte er mit aller Energie wachen, daß er nicht bewußtlos würde. Diese gräßlichen Träume ... Er stand auf und öffnete das Fenster, aber die Kräfte schwanden ihm – nur ein wenig Ruhe, ein ganz klein wenig. Er legte sich wieder aufs Bett.

Es wurde still. Tausend Lichter sah er auf den weiten Moortriften aufflackern und wieder verschwinden. Die Weiden am Wege stöhnten und ächzten, wie Sarkophagtüren, die auf alten verrosteten Angeln ruhen ... Sarkophag? Nein, nein, durchaus kein Sarkophag – es hörte sich ja an wie ein ferner Eisgang, nein – wie Räderrollen auf fernen Wegen ... Er horchte. Vom nahen Dorfe hörte er einen Hund bellen, ein Andrer antwortete ihm mit langer, winselnder Klage ...

Plötzlich hörte er denselben langen, winselnden Laut sich hinter seinem Rücken wiederholen.

Sein Herz hörte auf zu schlagen.

Noch einmal, noch stärker ... ein gräßliches, verhaltenes Schluchzen, dann wieder ein gellender Schrei ...

Er drehte sich in krampfhafter Angstagonie um: es war nichts. Nichts war da, aber er fühlte es dicht hinter sich, er hörte es unaufhörlich winseln und schluchzen ...

Eine wüste Raserei stieg in ihm hoch. Was willst Du? schrie er. Ich war es nicht! Ich bin nicht Schuld! Ich war es nicht! schrie er sinnlos. Marit, Marit, laß mich!

Aber da war es ihm, als würde er gepeitscht, daß feurige Striemen über seinen Rücken hinabliefen. Er schrie gellend auf und fing an zu laufen. Er mußte es los werden, er mußte ... Aber der Boden war nach den langen Regengüssen erweicht, er kam nicht von der Stelle, dann versank er in einen tiefen Graben, keuchend arbeitete er sich hoch, aber im selben Nu fühlte er, daß ihn eine Faust von hinten packte, sie riß ihn in den Schlamm zurück. Er tauchte unter, es riß ihn nieder, er erstickte, der Schlamm goß sich ihm in den Mund, aber im letzten Todeskampfe riß er sich los, kroch heraus, und wieder fing er an zu laufen und wieder fühlte er es dicht hinter sich winselnd, schluchzend. Er wurde von Sinnen, seine Kräfte verließen ihn, er konnte nicht weiter, fuhr es ihm in grausiger Verzweiflung durch den Kopf.

Plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen. Ein alter Mann stand mitten auf dem Markte und starrte ihn an. Er konnte den Blick nicht ertragen, er wandte sich weg, aber wohin er nur blickte, sah er hundert grausame, gierige Augen, die an seiner Seele fraßen, an seinen Nerven zerrten, Augen, die Rache spien und ihn wie ein glühender Feuerkranz umstellten. Er duckte sich, er wollte sich wegstehlen, aber überall waren diese gierigen Augen, verzweifelt sah er vor sich hin und sah den alten Mann – Marits Vater! Mörder! schrie er ihm zu und mit einem Mal erhoben sich hundert Fäuste, die auf ihn niederregnen und ihn tief in den Boden einstampfen sollten ... Mit einem wahnsinnigen Sprung flog er über die Menge hinweg, lief in sein Haus hinein, mit einem Satz sprang er die Treppe hinauf und warf die Türe ins Schloß.

Er wartete, dicht an die Wand gekauert. Eine Weile verging. Es war wie eine Ewigkeit. Er hörte sein Blut so heiß an den Schläfen klopfen, daß er fürchtete, es könnte gehört werden und ihn verraten. Seine Kehle schnürte sich zu, immer enger, immer fester: im nächsten Momente würde er nicht atmen können. Nun verließen ihn die Kräfte ganz und gar. Seine Zähne klapperten und er sank in die Knie. Er kauerte, er drückte sich an die Wand, noch enger, die Wand mußte ihn sicher festhalten ...

Es klopfte.

Er schrak hoch. Seine Zähne klapperten hörbar.

Das war Marit! Das war sicher Marit!

Es klopfte noch einmal.

Eine Ewigkeit verging.

Da sah er, wie sich die Tür langsam zu öffnen begann. Ein wahnsinniger Schreck steifte seine Glieder, er warf sich mit seinem ganzen Körper gegen die Tür, er stemmte sich gegen sie mit der letzten Verzweiflungskraft, aber er wurde immer weiter weggeschoben, die Tür öffnete sich wie von selbst, mit gräßlichem Entsetzen sah er die Spalte größer und größer werden, und da sah er zwei furchtbare Augen, in denen ein Wahnsinnsschmerz geronnen war.

Falk stieß einen kurzen, gellen Schrei aus.

Vor ihm stand ein fremder Mann.

War es eine neue Vision? War es Wirklichkeit? Ich bin wohl verrückt geworden! fuhr es ihm wie ein Blitz durch den Kopf. Aber zufällig erblickte er den Hemdenknopf auf dem Schreibtisch. Es war keine Vision ... Ein Besuch also. Er stieg vom Bett herab, setzte sich in den Lehnstuhl und starrte ängstlich den Fremden an, der ihn mit einer kranken Ruhe betrachtete.

Sie sahen sich eine lange Zeit an, es vergingen wohl zwei Minuten.

– Kamen Sie daher? brachte Falk mühsam hervor und zeigte auf die Tür.

Der Fremde nickte.

Falk grübelte, eine Erinnerung schoß ihm durch den Kopf.

– Ich habe gestern in dem Restaurant mit Ihnen gesprochen?

– Ja. Sie kennen mich nicht. Aber ich kenne Sie. Ich habe Sie öfters gesehen. Verzeihen Sie, daß ich Sie so überrumple, aber ich muß mit Ihnen sprechen ... Ich glaube, Sie haben einen schweren Traum gehabt. Ich kenne es, in der letzten Zeit ging es mir ganz ebenso ... Sie schrien auf, natürlich, wenn man so plötzlich aufwacht ... Sie sind nämlich ein sehr nervöser Mensch und so sagte ich mir, ich muß Sie anstarren, dann werden Sie gleich aufwachen. Sie wissen vielleicht, daß nervöse und kurzsichtige Menschen durch festes Anstarren aufgeweckt werden. Nun scheinen Sie nicht kurzsichtig zu sein, folglich müssen Sie sehr nervös sein. Ich habe Sie höchstens zwei Sekunden angestarrt. Ich habe es übrigens gleich gestern gemerkt, als Sie mich fragten, ob ich Sie verhaften wollte. Sie ließen mich gar nicht zu Worte kommen. Ich suchte Sie allerdings eine ganze Zeit, aber gestern war es ganz, ganz zufällig, daß ich Sie traf.

– Wie sind Sie denn hineingekommen?

– Die Korridortür war offen, hier klopfte ich aufs Geratewohl, und als Niemand antwortete, trat ich ein. Ich habe Sie nämlich oft gesehen. Ein Mann hat viel von Ihnen gesprochen. Ich habe Sie ein paar Mal in seiner Gesellschaft gesehen.

– Aber was wollen Sie, was wollen Sie von mir, schrie Falk ihm wütend zu.

Der Fremde schien von seiner Aufregung keine Notiz zu nehmen.

– Ich habe sehr viel über Sie gehört. Der Mann hat übrigens meine Frau verführt, nein, verzeihen Sie, man verführt nicht Frauen, ich glaube, daß man von den Frauen verführt wird.

– Was wollen Sie? schrie Falk fast besinnungslos.

Wieder sah ihn der Fremde mit demselben ruhigen Blick eine Zeitlang an.

– Unterbrechen Sie mich nicht, Herr Falk ... Nein, nein, man verführt nicht die Frauen. Ich habe nämlich da eine eigene Theorie ... Der Mann ist eine Laus, ein Sklave des Weibes, und der Sklave verführt nicht die Herrin.

– Es gibt genug Kutscher, die mit ihren Herrinnen Kinder gezeugt haben, warf ihm Falk mit boshaftem Hohn zu.

Der Fremde schien es zu überhören.

– Das Weib hat den Mann geschaffen ... Das Weib war das Erste ... Das Weib hat den Mann gezwungen, seine Kräfte weit über sich hinaus zu entwickeln, sein Gehirn über sich selbst auszubilden ...

Er verwirrte sich plötzlich und sah Falk mit irrem, unbeholfenem Lächeln an.

– Sehen Sie, sagte er nach einer Weile und lächelte geheimnisvoll, wozu nahm wohl der Urmensch zum ersten Mal die Keule in die Hand? Doch nur im Kampfe um das Weibchen, doch nur um seinen Rivalen totzuschlagen. Nicht wahr?

– Nein, es ist nicht wahr, sagte Falk barsch.

– Nun, Sie werden natürlich sagen, daß er im sogenannten Kampf ums Dasein die Keule geschwungen hat ... Nein! Sie irren. Der Kampf ums Dasein kam erst, als es sich darum handelte, das Geschlecht zu befriedigen ... durch das Mittel des Geschlechtes hat die Natur dem Menschen erst klar gemacht, daß es sich lohnt, überhaupt zu leben und den Kampf ums Dasein aufzunehmen.

Er wurde plötzlich sehr blaß und unruhig.

– Aber ich kam nicht, um Ihnen meine Theorien zu entwickeln. Es ist etwas Anderes, etwas ganz Anderes.

Er sah sich scheu um.

– Ich will Ihnen etwas sagen, nur Ihnen allein, weil Sie einen so außerordentlichen Eindruck auf mich gemacht haben, gleich das erste Mal, als ich Sie sah. Der Mann, der meine Frau ... den meine Frau verführt hat, sagte mir auch so außerordentliche Dinge von Ihnen.

Falk wurde sehr ungeduldig. Er verstand kaum die Hälfte von seiner Rede. Er fühlte abwechselnd Hitze und Kälte in seinem Körper. Zu Zeiten glaubte er, der Ohnmacht nahe zu sein.

– Beeilen Sie sich; ich bin krank. Ich habe ein starkes Fieber.

Der Fremde sah ihn mit einem seltsamen Lächeln an.

– Ich kenne es, ich kenne es sehr genau. Ich habe es in der letzten Zeit sehr schlimm gehabt.

Plötzlich wurde er noch blasser, er wurde ganz grün im Gesichte und rückte Falk ganz nah.

– Er sagte mir, daß ich zu Ihnen kommen solle, um Sie glücklich zu machen. Heute, als Sie mir wegliefen ...

Falk lief ein kalter Schauer über den Rücken. War es wirklich eine Vision? Eine rasende Angst befiel ihn, als er die Augen des Fremden unablässig auf sich gerichtet sah.

– Wie? Was – was meinen Sie?

– Ich will Sie glücklich machen.

Er schwieg und schien tief nachzugrübeln.

Falk sah ihn zerstreut an. Da trat ihm kalter Schweiß auf die Stirn, er begann zu zittern. An dem Rock des Fremden fehlte der unterste Knopf. Wo hatte er den Mann gesehen? Gestern, ja gestern ... Aber dann war es doch nur im Traum, im Fieber.

Der Fremde schien nach Ausdruck zu ringen.

– Kennen Sie, Herr Falk, ein Gefühl der Ruhe? Nein, Sie kennen es natürlich nicht ... Es ist eigentlich keine Ruhe ... es ist ein Gefühl von einer solch absoluten Harmonie ... Man fühlt keinen Schmerz, man fühlt auch keinen Körper mehr; man ist erlöst von allem Körperlichen. Man versinkt in etwas Unendlichem. Die Räume haben sich geweitet; die Meilen werden zu Millionen von Meilen, die erbärmlichsten Hütten werden zu Palästen ... Sie wissen nicht mehr, wo Sie sich befinden, Sie kennen keinen Weg und keine Richtung ...

Seine Augen glänzten in einer verzückten Ekstase.

Wieder fühlte Falk langsame, kalte Schauer über seinen Rücken laufen.

– In einer Sekunde können Sie Jahrhunderte überleben, auf einem Stück Erde können Sie tausend Städte sehen – oh, und die glückliche Pracht, die Pracht!

Seine Augen wurden mit einem Mal ganz starr und sein Gesicht verzerrte sich schmerzhaft.

– Anfangs fühlte ich eine unmenschliche Angst ... Wenn der Boden plötzlich unter mir zu wanken begann, wenn ich mich plötzlich in fremde Städte versetzt fühlte, da kam es vor, daß ich mich mitten auf der Straße auf die Knie warf und die Vorübergehenden anflehte, sie sollten mich festhalten. Ich bat sie, mich nur an dem Saume ihrer Kleider festhalten zu dürfen ... Oh, es waren schwere Zeiten der Prüfung.

– Leiden Sie an Epilepsie? fragte Falk erschüttert.

– Nein, nein ... der Fremde lächelte irrsinnig. Ich bin nicht krank. Ich bin glücklich. Und ich kam, um Ihnen das Glück zu bringen, Ihnen allein, weil Sie auf mich diesen außerordentlichen Eindruck gemacht haben, und weil Sie der Freund von ihm waren ...

Er rückte den Stuhl noch näher an Falk, so daß er ihm ins Ohr flüsterte.

– Es ist schwer, sehr schwer, aber versuchen Sie es nur. Jagen Sie alle Gedanken weg. Alle, alle! Sie sind die mächtigste Stütze des Geistes, der nicht glauben will, des Geistes, der ewig zweifelt. Jagen Sie Alles vom Gehirne weg, daß Sie vom Zweifel rein bleiben, dann setzen Sie sich hin und sammeln sich, daß die Kräfte des ganzen Organismus auf einen Punkt zusammenströmen, daß Sie sich nur als einen Punkt fühlen, ein zitterndes Atom im Weltenraum ... Warten Sie dann lange, geduldig ... Dann kommt es plötzlich über Sie, wie ein gräßliches Chaos kommt es über Sie, einen Abgrund werden Sie sehen, furchtbare Gespenster kriechen aus allen Ecken hervor.

Seine Augen rissen sich unnatürlich weit auf.

– Gräßliche Stimmen werden Sie hören, die Wände werden körperlich und werden auf Sie zuschreiten, um Sie zu zerquetschen ... Qualen werden Sie erleben, wogegen die menschliche Qual eine Freude, ein Genuß ist ... Auf einmal verschwindet Alles ... Etwas führt Sie hinaus, das ganze Leben strömt vor den Augen in einer unendlichen Klarheit ... es gibt kein Rätsel mehr, kein Geheimnis – man kann in der Seele eines Anderen lesen, wie in einem offenen Buch ...

– Warum kommen Sie gerade zu mir damit, warum? flüsterte Falk.

Der Fremde hörte seine Frage nicht.

– Es gibt dann keine Qual mehr, fuhr er fort, keinen Schmerz, keinen Haß. Ich liebe den Mann, der mir das Weib genommen hat, ich bin ihm nachgegangen mit Ihnen zusammen, ich wollte ihn retten, aber im Augenblicke des Todes darf man nicht stören ...

Falk fuhr es nun wie ein Blitz durch den Kopf. Es wurde ihm Alles klar. Er erzitterte heftig und hielt sich an der Lehne fest, um nicht umzusinken.

– Der Mann hat sich heute erschossen! schrie er heiser.

Der Fremde lächelte seltsam.

– Ja, sagte er nach einer Weile.

Falk kam ganz außer sich.

– Was wollen Sie von mir? stammelte er fast bewußtlos.

– Sie haben seinen Tod verschuldet, Falk. Er war wie Wachs in Ihren Händen, Sie waren sein Gott, und Sie haben seine Seele zerstört. Sie haben ihn zum Verbrecher gemacht an sich und an Anderen. Hören Sie auf mich, folgen Sie mir ...

– Ich habe es nicht getan! Kann ich etwas dafür, daß er an seiner Ausschweifung zu Grunde ging?

Der Fremde sah ihn streng an.

– Oh, wie Ihr Herz verstockt ist ... Sie wissen gut, was Sie mit ihm getan haben. Warum sind Sie so bleich, warum zittern Sie? Er liegt auf Ihrem Gewissen.

– Wer, wer?

– Grodzki, sagte der Fremde leise.

Falk stöhnte qualvoll auf, und sein Kopf sank ihm auf die Brust. Aber plötzlich kam er ganz von Sinnen, er richtete sich auf und schrie:

– Ich bereue es nicht. Ich will die ganze Welt verderben und zerstören. Ich lache über Ihre mystischen Offenbarungen. Ich brauche sie nicht. Ich brauche kein Glück. Ich spucke auf das Glück. Ich bereue, daß ich zu wenig zerstört und verdorben habe, verstehen Sie mich?

Er stutzte plötzlich.

Der Fremde war ganz wie verwandelt. Seine Augen drückten eine unheimliche Furcht aus. Sie liefen unstet herum.

– Der Geist des Bösen! der Geist des Bösen! wiederholte er mit zitternden Lippen.

Mit einem Male wurde sein Gesicht klar und seine Stimme mild.

– Sie sind krank, Falk, ich will Sie nicht stören ... Ich bin Ihnen nachgegangen, ich hatte Angst um Sie, wie Sie da an der Ecke standen und zitterten und auf den Schuß warteten.

Wieder wurde er unruhig. Er neigte sich weit zu Falk vor, seine Stimme zitterte heftig.

– Ich ... ich ... er stammelte mühsam ... bin Ihnen gefolgt. Sie saßen lange mit ihm zusammen ... hat er nicht über mein Weib gesprochen? ... Er hat sie verlassen ... sie geht zu Grunde.

– Nichts, nichts hat er mir gesagt ... gehen Sie nur! Sie töten mich ... gehen Sie doch!

Falk fühlte, daß er sich nicht länger halten könnte.

– Sie sind so krank, Falk, so krank ... Er ging langsam zur Türe hinaus.

Falk hörte und sah nichts mehr. Ein Schwindelgefühl erfaßte ihn, die Stube fing an sich um ihn zu drehen, er sank und fiel in Ohnmacht.


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