Stanislaw Przybyszewski
Homo Sapiens
Stanislaw Przybyszewski

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V.

– Sind Sie krank, Czerski?

Olga war sehr beunruhigt.

Czerski sah sie starr an. Es war, als hätte er jetzt erst gemerkt, daß sie da war.

– Nein, ich bin nicht krank. Aber was führt Sie zu mir?

– Wollen Sie eine Agitationsreise unternehmen?

Czerskis Gesicht belebte sich plötzlich.

– Daran denk ich seit drei Tagen.

– Ich habe Geld für Sie und die Anweisung, daß Sie sofort reisen sollen.

Er wurde mißmutig.

– Ich will keine Anweisungen haben, ich reise, wann ich will.

– Das Geld ist Ihnen aber nur unter der Bedingung zur Verfügung gestellt, daß Sie sofort reisen sollen.

– Warum denn sofort?

– Es ist ein großer Büchertransport an der russischen Grenze, den Sie spätestens in zwei Tagen nach Rußland schaffen müssen. Drüben wartet man schon einen Monat darauf.

– Ich will keine Dienstleistungen für irgend eine Partei verrichten. Ich habe mit einer Partei nichts zu tun. Ich bin selbst eine Partei.

Olga sah ihn nachdenklich an.

– Sind Sie wirklich nun ganz und gar ein Anarchist geworden?

– Ich bin weder ein Anarchist noch ein Sozialist, weil ich selbst eine Partei bin.

– Aber Sie haben doch Anschauungen, die von der anarchistischen Partei geteilt werden.

– Das geht mich nichts an, daß gewisse Anschauungen mich zufällig dieser oder jener Partei nahe bringen, aber deswegen will ich gar nicht zugeben, daß mich diese oder jene Partei als ihr Mitglied reklamiert.

Er schwieg nachdenklich.

– Sie wollen also nicht?

– Sind an das Geld noch sonst irgend welche Bedingungen geknüpft?

– Nein.

Er bedachte sich.

– Nun, ich kann meinetwegen den Krempel hinüberschaffen. Aber ich wiederhole, daß ich mich um keine Anweisungen kümmere, daß ich keinen Befehlen gehorchen will, daß ich außerhalb jeder Partei stehe und kein Programm anerkenne.

– Es sind eigentümliche Eröffnungen, die Sie mir machen, aber ich soll Ihnen das Geld unter allen Umständen ausliefern.

Czerski sah sie mißtrauisch an.

– Sagen Sie, Fräulein, das Geld hat Falk geschickt?

– Woher wissen Sie es?

– Ich habe ihn gestern gesprochen.

– Sie haben ihn gesprochen?

– Ja.

Er dachte lange nach.

– Falk liebt seine Frau wohl sehr?

– Ja.

– Wie kann es nur kommen, daß er gleichzeitig eine Maitresse hat? Ich habe mir darüber die ganze Nacht den Kopf zerbrochen.

Olga sah ihn ein wenig erschrocken an. Sollte sein Verstand wirklich gelitten haben?

– Eine Maitresse sagen Sie? Das ist doch wohl nicht möglich.

– Ja, eine Maitresse ... Meine frühere Verlobte.

– Fräulein Kruk?

– Ja. Er hat mit ihr einen Sohn. Sie ist gerade vom Wochenbett aufgestanden.

Olga wurde sehr verwirrt. Sie sah ihn erschrocken an, merkte dann plötzlich ihre Erregung, suchte sie zu verbergen, ihre Hände zitterten und sie fühlte, wie ihr das ganze Blut zum Herzen floß.

Czerski schien nichts zu bemerken. Er ging auf und ab und grübelte.

– Nun, das überwindet man, sagte er endlich. Das ist ein Schmerz, ein großer Schmerz, aber man überwindet es. Anfangs, als sie ihre Besuche im Gefängnis einstellte, hab ich sehr gelitten ... Ja, sehr gelitten, wiederholte er nachdenklich ... Aber ich habe es überwunden. Es ist auch gut so. Es steht jetzt nichts mehr zwischen mir und der Idee ...

Er schwieg eine Weile.

– Als ich vor drei Tagen freigelassen wurde, da überkam es mich wieder. Gestern packte mich plötzlich eine Raserei gegen Falk, ich wollte ihn beleidigen und beschimpfen, aber da bekam ich mit einem Ruck die Angst, daß etwas zwischen mich und die Idee treten könnte, und ich habe es wieder überwunden. Es ist gut so, sehr gut ...

Falk will mich wohl los werden ... Er sollte wirklich keine Angst vor mir haben. Beruhigen Sie ihn, wenn Sie ihn treffen ...

Er richtete plötzlich seine Augen scharf auf Olga.

– Glauben Sie, daß Falk das Geld geschickt hat, um mich los zu werden?

– Wann haben Sie ihn gesprochen?

– Gestern.

– Na, dann glaub ich es gar nicht. Er wartete übrigens nur darauf, daß Sie freigelassen werden. Er schätzt Sie ungemein.

– Er ist aber ein Schurke. Ja, er ist ein Schurke.

– Nein, das ist er nicht. Er ist es ebenso wenig, wie Sie. Olga sprach kalt und abwehrend.

Czerski sah sie eine Weile aufmerksam an, antwortete aber nichts.

Er ging wieder nachdenklich auf und ab.

– Die gefälschte Bulle vom Papst Pius für die Agitation auf dem Lande hat Falk geschrieben? fragte er plötzlich.

– Ja.

– Sehr gut gemacht. Sehr gut, aber ich glaube nicht, daß es ihm Ernst ist. Er spielt mit der Idee. Er experimentiert. Er will wohl ästhetische Sensationen haben?

Olga schwieg.

– Nicht wahr? Sie kennen ihn doch sehr gut... Sehen Sie, Sie antworten nicht, Sie schweigen ... He, he ... er sucht die Gefahr, ich kann mir denken, daß er mit Freuden ins Gefängnis wandern würde, nicht weil er an die Sache glaubte, sondern weil er darin eine Sühne für seine Sünden zu finden gedächte.

Czerski belebte sich immer mehr.

– Ich habe Briefe früher von ihm bekommen, viele Briefe. O, er ist scharf und geschickt. Er hat Haß und viel, vielleicht sehr viel Liebe, ich habe ihn verehrt, aber ich sehe jetzt, daß das Alles nur Verzweiflung ist. Er will sich retten, er sucht krampfhaft nach Rettung, aber er kann an nichts glauben ... Ja, er ist sehr geschickt, ich wollte ihn gestern beleidigen, ich zwang mich, ihn zu beleidigen, aber er ist geschickt und boshaft. Ja, boshaft ...

Czerski brach plötzlich ab.

– Wollen Sie Tee haben?

– Gerne.

Er bereitete nachdenklich den Tee.

– Haben Sie Fräulein Kruk in den letzten Tagen gesprochen?

– Ja. Gleich als ich aus dem Gefängnis kam, ging ich zu ihr ... Sie weiß nicht, daß er verheiratet ist.

– Nicht? Olga fuhr erschrocken auf.

– Nein! Er hat gelogen. Sein ganzes Leben ist nur eine Kette von Lügen ...

Olga kam in eine große Unruhe. Es wurde ihr schwer, länger bei Czerski zu bleiben, sie stand auf.

– Ich kann doch nicht auf den Tee warten.

– Oh, bleiben Sie ein wenig. Ich war anderthalb Jahre allein. Es ist mir so lieb, einen Menschen um mich zu wissen.

Er sah sie bittend an.

Olga faßte sich und setzte sich wieder hin.

– Sie sind sehr betrübt, Fräulein ... Ja, wir haben Alle etwas Anderes von ihm erwartet ... Hm; eigentlich ist es sehr gut, daß er das Geld schickte. Wie viel ist es denn?

– Fünfhundert Mark.

– Das ist viel, sehr viel. Damit kann man viel ausrichten ...

Sie schwiegen eine Weile.

– Ist es wahr, was Kunicki behauptet, daß Sie zusammen mit Stefan Kruk die Stadtkasse hier in der Nähe erbrochen haben?

– Vollkommen wahr.

– Sie approbieren also die anarchistische Praxis?

– Wenn es die Idee erfordert, sind alle Mittel heilig. Das ist durchaus keine anarchistische Erfindung. Übrigens haben wir das Geld nicht gestohlen, sondern rechtmäßig an uns gebracht. Und das ist ein großer Unterschied. Wir haben im vollen Bewußtsein der Rechtmäßigkeit unserer Tat gehandelt.

– Sie sagen also, daß man stehlen darf, sobald es die Idee erfordert?

– Nicht stehlen, nein; das hab ich nicht gesagt. Sie kommen da auf den juridischen Begriff des Verbrechens. Aber sobald ich sage, ich tue recht, und sobald ich den Glauben und die heilige Überzeugung habe, daß ich recht tue, verstehen Sie, einen Glauben, der auch nicht den geringsten Zweifel zuläßt, dann ist der Diebstahl eben kein Diebstahl, kein Verbrechen mehr.

– Sie meinen, daß das einzige Kriterium des Verbrechens das böse Gewissen sei?

– Ja.

– Sie werfen aber dem Staate Verbrechen vor. Glauben Sie nicht, daß der Staat Alles, was er tut, mit gutem Gewissen tut? Glauben Sie nicht, daß er sich berechtigt fühlt, den Arbeiterstand der Ausbeutung des Kapitalismus preiszugeben? Folglich ist der Staat kein Verbrecher, weil das Kriterium des bösen Gewissens fehlt.

– Subjektiv ist der Staat kein Verbrecher, vorausgesetzt, daß er von der Rechtmäßigkeit seiner Handlung überzeugt ist, woran ich nicht glaube, aber er wird es objektiv, weil die Folgen seiner Handlungen verbrecherisch sind.

– Aber wenn die Motive gut sind, so kann ja der Staat für den Schaden nicht verantwortlich gemacht werden.

– Deswegen muß er beseitigt werden, ganz so, wie man Irrsinnige beseitigt, die, ohne es zu wissen, Verbrechen begehen.

– Über das Verbrechen entscheiden nur die schädlichen Folgen?

– Ja.

– Aber gesetzt, daß Sie um der Idee willen eine Fabrik in die Luft sprengen und dadurch Hunderte von Familien ins Unglück stürzen, dann begehen Sie doch ein Verbrechen, weil die Folgen verbrecherisch sind.

– Nein! Denn dadurch bringe ich meine Idee ihrer Verwirklichung näher und ich bringe Millionen das Glück. Als Christus seine Lehre ausbreitete, wußte er sehr gut, daß Tausende von seinen Anhängern würden geopfert werden, er hat sie also dem sicheren Verderben preisgegeben, um Millionen das Heil zu bringen.

– Sie glauben an Gott? fragte Olga zerstreut.

Czerski kam plötzlich in eine große Aufregung.

– Ich glaube an Jesus Christus, den Gottmenschen ... Aber unterbrechen Sie mich nicht. Ich habe das Recht dazu, die Natur hat es mich gelehrt. Was entscheidet über das Angenehme eines Gefühls? Doch nicht, daß es an sich angenehm ist. Die Gewöhnung an das Opium ist Anfangs sehr schmerzhaft, wird erst in der Länge zum Genuß. Über das endgültige Wesen des Gefühls entscheidet also nur die Dauer desselben. Es ist selbstverständlich, daß die ersten Folgen einer Fabriksprengung unangenehm sind, aber ...

– Sie werden also vor keinem Verbrechen zurückschrecken?

– Nein, kein Verbrechen, er unterbrach sie eifrig, ich werde vor keiner Handlung zurückschrecken, die meiner Idee den Sieg garantiert.

– Und wenn Ihre Idee falsch ist?

– Sie ist nicht falsch, denn sie ist auf der einzigen Wahrheit aufgebaut, die wir haben: der Liebe.

– Aber wenn Ihre Mittel falsch sind?

– Sie können nicht falsch sein, denn ihre Motive sind die Liebe. Übrigens will ich gar nicht zu diesen Mitteln greifen, selbst dann nicht, wenn ich es für nötig halten sollte. Ich habe kein Programm, wie die Anarchisten. Ich will keine Gewalttat begehen, um nicht einer Partei, welche die Gewalttat in ihrem Programm hat, zugezählt zu werden.

– Aus Eitelkeit?

– Nein; aus Vorsicht, nur aus Vorsicht, daß nicht die Anarchisten, also eine Partei, das Recht zu bekommen glauben, meine Tat als die Folge ihres Programms aufzufassen.

– Sie sind ehrgeizig.

– Nein! Aber ich bin nur in meiner Tat. Ich habe nur ein Recht, und das ist: zu sein. Und mein Sein ist meine Tat. Ja, ich habe einen Ehrgeiz, wenn Sie es so wollen: zu sein, durch meine Tat zu sein. Ich bin nicht, sobald ich fremde Befehle ausführe.

– Das sind alte Gedanken, lieber Czerski.

– Ich weiß nicht, ob sie alt sind, ich habe sie im Gefängnis bekommen und so sind sie meine eigenen. Ich habe sie mit großer Mühe ausgedacht. Ich war nicht gewohnt zu denken, so lange ich in der Partei war. Jetzt hab ich mich von Allem losgelöst, um allein zu sein und meine Tat mit eigenen Gedanken zu bestimmen.

– Und wenn Sie das Geld von Falk nicht bekommen hätten, hätten Sie es sich genommen?

– Ja.

– Und was wollen Sie jetzt tun?

– Ich will die Menschen lehren, sich aufzuopfern.

Olga sah ihn fragend an.

– Sich aufopfern können: das ist die erste Bedingung jeder Tat. Ich werde die Begeisterung des Opfers lehren.

– Aber um sich zu opfern, muß man erst an den Opferzweck glauben.

– Nein! Nicht aus dem Glauben entspringt das Opfer, sondern aus der Begeisterung. Das ist es eben. Sehen Sie, alle bisherigen Parteien haben Glauben, aber keine Begeisterung. Nein, sie haben keinen Glauben, sie haben nur Dogmen. Die Sozialdemokratie ist in dem dogmatischen Glauben erstorben. Die Sozialdemokratie ist das, was jede Religionsgenossenschaft ist: sie ist gläubig ohne Begeisterung. Gibt es einen Menschen, der für seinen Gott ins Feuer ginge? Nein! Gibt es einen Sozialdemokraten, der sich wegen seiner Idee ins Verderben rückhaltlos, ohne Bedenken, stürzte? Nein! Sie Alle haben die ruhige, behäbige Gewißheit des Glaubens; ihre Dogmen sind eherne Wahrheiten, um derenwillen man, weiß Gott, sich nicht aufzuregen braucht. Ich will aber den feurigen, glühenden Glauben schaffen, einen Glauben, der kein Glauben mehr ist, weil er keinen Zweck hat, einen Glauben, der in der Begeisterung des Opfers sich aufgelöst hat.

Er kam plötzlich in einen ekstatischen Zustand. Seine Augen glänzten und sein Gesicht verklärte sich eigentümlich.

– Sie spekulieren also auf den Fanatismus des Hasses bei der Masse.

– Fanatismus der Liebe, sagte er strahlend, Fanatismus der Liebe zu der Unendlichkeit des Menschengeschlechtes, der Liebe zu der Ewigkeit des Lebens, der Liebe zu dem Gedanken, daß ich und die Menschheit eins, untrennbar eins sind ...

Er variierte den Gedanken, in den verschiedensten Ausdrücken.

– Ich werde nicht sagen: Opfert Euch, damit Ihr und Eure Kinder glücklich werdet, ich werde das Glück des Opfers an sich wieder neu lehren. Die Menschheit hat eine unerschöpfliche Fähigkeit, sich zu opfern, aber das hat die fette Kirche und der fette Sozialismus zerstört. Die Menschheit hat das Glück des Opfers vergessen in dem fetten, ekelhaften Dogmenglauben. Das letzte Mal hat sie es in den großen Revolutionen gekostet, in der Kommune, – zwecklos, nur aus Liebe zum Opfer, um das unendliche Glück der zwecklosen Selbstlosigkeit noch einmal zu genießen ... Und ich werde dies Glück wieder in Erinnerung bringen durch meine Tat ...

Er stutzte plötzlich und sah Olga mißtrauisch an.

– Sie glauben wohl, ich bin ein irrsinniger Phantast?

– Es ist schön, sehr schön, was Sie da sagten, – ich verstehe Sie, sagte sie nachdenklich.

Er schwieg lange.

– Ja, Sie haben Recht, daß das alte Gedanken sind, sagte er plötzlich. Sie berühren sich vielfach mit dem, was Falk auf dem Kongreß in Paris ausgesprochen hat. Ich hätte ihm damals die Hand küssen mögen ...

Er wurde mit einem Mal sehr unruhig.

– Aber es wurde ihm nicht zur Lebenssache. Sein Gehirn hat es ausgeklügelt. Sein Herz hat kein Feuer gefangen ... Nein, nein – wie ist es nur möglich, solche Gedanken zu haben und nicht vor Scham zu vergehen, daß man das Alles kalt und ruhig sagen kann ... Sehen Sie, das ist die Schamlosigkeit seines Gehirnes, daß es dabei nicht zu erschauern vermag. Sein Gehirn ist schamlos ... Er ist ein – ein böser Mensch. Er ist nicht rein genug für seine Ideen. Man muß Christus sein, ja, Jesus Christus, der Gott der Menschen, die heilige Quelle der Opferfreudigkeit.

– Sie haben sich sehr verändert, Czerski. Ich habe Sie übrigens nicht gekannt. Kunicki hat Sie verleumdet. Ich will viel darüber denken, was Sie gesagt haben ...

Olga stand auf und sah ihn scheu an.

Über seinem Gesichte lag ein verklärter Glanz. Nie hatte sie etwas Ähnliches gesehen.

– Schonen Sie sich, Czerski. Sie sehen sehr krank aus.

– Nein, ich bin nicht krank. Ich bin glücklich.

Er dachte lange nach.

– Ja, ja, sagte er plötzlich, gestern noch war ich ein kleiner Mensch. Aber jetzt ist es vorbei, es ist vorüber ...


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