Stanislaw Przybyszewski
Homo Sapiens
Stanislaw Przybyszewski

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XV.

Falk saß auf seinem Hotelzimmer und brütete vor sich hin.

Wozu war er eigentlich hergekommen? Er hätte sich ja ebenso gut in Berlin quälen können.

Nun sind es wohl sechs Tage?

Er sann nach. Ja, er war schon sechs Tage hier.

Aber jetzt konnte er es nicht mehr aushalten. Nein, unmöglich. Ja, er mußte ohne jegliches Selbstmitleid, einfach als eine nackte Tatsache konstatieren, daß er unmöglich länger diese Qual ertragen konnte. Er würde sicherlich zu Grunde gehen. Jeden Tag barst in ihm Etwas, das noch gestern heil war, jeden Tag wuchs der Ekel vor dem Leben – und dieser Schmerz ...

An einem Weibe zu Grunde gehen? Er, der Künstler, Er ... Ha, ha, ha ...

Als ob es nicht besser wäre, an einem Weibe zu Grunde gehen, als an einem idiotischen Schlaganfall, oder an Typhus, oder an Diphtherie ...

Oh du dummer Iltis! Wie flach du bist! Dann geh ich wenigstens an mir selbst zu Grunde; dann geh ich an dem zu Grunde, was mich grade in meiner intimsten Seelenstruktur ausmacht. Und sie, ja sie: das bin Ich, Ich, den du nie gesehen hast, den ich erst jetzt in mir erkannte.

Er konnte nicht zu Ende denken ...

Magst du an deinem Säufer- oder Verfolgungswahnsinn zu Grunde gehen, wenn du das als eines Mannes würdiger ansiehst – ich gehe an Mir zu Grunde ...

Aber wozu denn zum Teufel zu Grunde gehen? Ich will glücklich sein – ich will leben ...

Er verlor plötzlich den Gedankenfaden. Sein Gehirn war doch gar zu zerfahren in der letzten Zeit.

Er saß und saß und merkte, daß er ganz stumpf war. Er zwang sich, zu denken.

Hm; er hatte doch niemals Etwas getan, wobei er sich nicht kontrolliert hätte. Ja, die ersten zwei Tage hatte er sich noch in seiner Macht. Er wirkte ja auf sie mit bewußten Mitteln ...

Herrgott! Die lächerliche Geschichte mit den Schwänen! Wie dumm erfunden, wie ungeschickt ... patzig, ja, patzig ...

Und dann kam der Strudel, der Wirbel ... Das Gehirn fing an, sich um sich selbst zu drehen, und kreiste schneller und schneller in den abgründigen Trichter des Geschlechtes hinab ...

Der Tanz – der Tanz ...

Er sah plötzlich in einer Ecke ein Spinngewebe. Er sah es lange und aufmerksam an, aber seine Augen fielen zu.

Ja, er war müde, furchtbar müde, er fühlte Reißen in seinen Gliedern ...

Ja, drei – nein vier Stunden war er gelaufen, um durch die Müdigkeit den Schmerz zu ertöten, um schlafen zu können ohne dies abscheuliche Gift, dies Morphin ...

Nun mußte er noch einen blanken Gegenstand ins Auge fassen.

Er sah eine Zeit lang starr die messingene Türklinke an.

Er fühlte nur noch, daß ihm Tränen über die Backen liefen ...

Es war ein herrlicher Herbsttag. Ganz klarer, heller Mittag. Er sah auf den hohen Wandelturm der Erlöserkirche in Kopenhagen. Mikita stand neben ihm und schwenkte sein Tuch.

Farvel! Farvel! hörte er rufen, aber er sah keine Menschen. Plötzlich entdeckte er einen verweinten Jüngling neben sich. Er sollte wohl nach Stettin in ein Engros-Geschäft ...

Wie viele Seemeilen wohl dieser Dampfer in einer Stunde machte?

Du! – Mikita zeigte ihm ganz erregt einen englischen Kohlendampfer.

Zwei Schiffsjungen boxten sich, als wären sie wahnsinnig geworden. Er sah sie wie zwei Hähne aufeinander losspringen. In einem Nu wurden sie zu einem Knäuel, der sich auf dem Boden wälzte, sich dann löste und wieder um sich selbst rollte. Dann sah er sie, wie sie aufschnellten und mit neuer Wut begannen. Er sah die Fäuste hin- und herfliegen, dann stürzten sie die Kojentreppe hinunter, kamen wieder zum Vorschein, und wieder sah er den Knäuel auf dem Verdecke rollen ...

Falk wachte auf, machte die Augen auf und schloß sie wieder.

– Du, Erik, sieh nur diese wunderbare Nacht im Wasser und dies Glänzen – dies Leuchten ... Herrgott, wenn man das malen könnte!

– Du lieber Kerl!

Und sie saßen und tranken. Die Nacht war so schwarz. Sie saßen dicht nebeneinander.

Und plötzlich überfiel sie eine Raserei. Sie packten einander. Er hob Mikita in die Höhe und wollte ihn über Bord werfen. Aber Mikita war geschmeidig. Er glitt ihm unter den Armen weg und faßte ihn an den Beinen. Verzweifelt hieb Falk mit den Fäusten auf Mikitas Kopf, aber Mikita achtete nicht darauf, er trug ihn, ja, er wollte ihn ins Meer werfen, jetzt waren sie dicht an der Barriere, jetzt ... jetzt ... Nun bekam er etwas Hartes unter seine Füße. Er stürzte sich mit seinem ganzen Leib über Mikita, so daß der einknickte, mit einem Griff packte er ihn an den Hüften und nun mit einem furchtbaren Ansatz: in weitem Bogen flog Mikita über Bord.

Falk wachte auf.

Er stand mitten im Zimmer mit geballten Fäusten.

Er kam zu sich.

Einen wilden Haß fühlte er in sich, eine wüste Kampfbegier.

Über Bord! Über Bord!

Er schlug die Zähne zusammen. Ihn fror.

Er lief hin und her.

Wer wollte ihm sein Glück rauben, um wessen Willen sollte er zu Grunde gehen?!

Allmählich beruhigte er sich.

Es wurde ihm nun ganz klar: Einer mußte über Bord, er oder Mikita.

Sie liebte Mikita nicht mehr! Was wollte Mikita von ihr? Wer war denn Mikita? Er war mit ihm zusammen auf der Schule gewesen, hatte mit ihm zusammen gehungert – und ja, was denn? Was mehr?

Er setzte sich und ließ den Kopf schlaff herunterhängen.

Diese kranke, wahnsinnige Sehnsucht nach ihr hatte er noch nie empfunden ...

Über Bord! Er oder ich.

Der Strudel packt uns Beide, den Einen ins Glück ... nur Einen ins Glück ...

Und das bin ich!

Er reckte sich hoch.

Den Elch sah er vor sich, den zitternden, mit Blut bespritzten Sieger.

Und eine unerhörte Unruhe erfaßte ihn.

Er riß die Kleider auf und knöpfte sie wieder zu. Er suchte nach Geld, durchwühlte alle Taschen, fand es nicht, raste, lief herum, der Schweiß trat ihm auf die Stirn.

Er mußte zu ihr nun. Er mußte. Jetzt konnte er es nicht mehr ertragen.

Und er stürzte über das Bett, warf Alles übereinander, und fand endlich das Portemonnaie unter dem Kissen.

Wenn es nur nicht zu spät ist, wenn es nur nicht zu spät ist ...

Er sah auf die Uhr. Sie stand.

Er läutete heftig.

Der Kellner kam eilig heraufgelaufen.

– Wann geht der Zug nach Berlin?

– Ungefähr in einer Stunde.

– Schnell, schnell die Rechnung. Beeilen Sie sich, um Gotteswillen ...

Als Falk in Berlin ankam, war es schon spät am Abend.

Es wurde ihm plötzlich klar: er mußte zu Mikita hinauf.

Ja, er mußte ihm ganz offen sagen, daß er sich keiner Täuschung hingeben solle, daß Isa ihn nicht mehr liebe, und wenn sie es ihm nicht gesagt habe, so wollte sie ihm nur wahrscheinlich so lange wie möglich die Qual ersparen, sie habe Mitleid mit ihm ...

Ja ganz offen mußte er es ihm sagen.

Es war doch grenzenlos peinlich.

Nun? Warum denn? Mikita war ihm ja ein ganz fremder Mensch.

Aber je näher er an Mikitas Wohnung kam, um so schwerer wurde es ihm.

Nein! Er konnte Mikita das nicht sagen.

Er suchte sich klar zu machen, was Mikita früher für ihn war, wie er ihn geliebt hatte ...

Er konnte kaum atmen.

Vor Mikitas Wohnung blieb er unschlüssig stehen.

Ja, er mußte, er mußte ... oder ... o Gott! Ja, dann mußte er zurückfahren.

Und er erlebte innerlich die entsetzliche Qual der sechs Tage.

Entsetzlich! Entsetzlich! murmelte er.

Er ging hinauf.

– Ist Herr Mikita zu Hause?

– Nein! Er ist nach München gefahren.

Falk blieb auf der Treppe stehen. Er konnte das Glück nicht begreifen.

Dies Glück!

Er wiederholte es noch einmal, aber er konnte nicht froh werden.

Und nun zu Isa – zu Isa!

Er dachte nur an sie. Er versuchte sich vorzustellen, wie sie ihn empfangen werde, er dachte an tausend Kleinigkeiten, die er bei ihr bemerkt hatte, er dachte angestrengt, krampfhaft, um sich zu übertäuben, ja Etwas in sich, das reden wollte, sich wehrte und sträubte gegen dies große Glück.

Da plötzlich: Er durfte nicht zu Isa gehen! Er mußte warten, bis Mikita zurückkam. Er mußte ihm Alles sagen, daß Mikita ihm nicht Feigheit vorwerfe, daß er nicht sage, er habe hinter seinem Rücken ihm die Braut verführt.

Ja! Er mußte warten.

Aber das war für ihn unmöglich – physisch unmöglich. Jetzt war Alles in ihm auf das Äußerste gespannt; noch ein Tausendstel Millimeter mehr und es mußte zusammenbrechen.

Weswegen war er zurückgekommen?

So lange er die Qual ertragen konnte, war er ferngeblieben und kämpfte tapfer und war brav, aber dann ...

Er raffte sich jäh zusammen.

Nein, jetzt genug von Argumenten! Er tue das, was er tun müsse, und mögen zehn, tausend Gefühle sich dagegen sträuben ... Gott ja, er verkenne gar nicht, daß jedes dieser Gefühle ein gewisses Quantum Muß repräsentiert, aber schließlich siege doch immer das letzte, das mächtige, unabwendbare Muß!

Und er dachte es bis in das feinste Detail hinein, aber er wurde nicht froher.

Ganz im Hintergrunde empfand er eine dumpfe Angst, eine verlegene schamvolle Pein, und dann fühlte er, wie Alles in ein Gefühl zusammenfloß, ein grenzenlos trauriges Gefühl, nicht selbst zu sein, nicht sich selbst zu gehören.

Er ging an einer Uhr vorbei. Er schrak heftig auf.

In einer Viertelstunde wird die Tür geschlossen sein, dann kann ich sie nicht mehr sehen. Nicht heute mehr ... Er stöhnte auf.

Jetzt mußt du dich entschließen. Du mußt. Du mußt.

Er fühlte eine schmerzhafte Spannung in jeder Fiber, in jedem Muskel. Er ging schneller und schneller.

Nein, nein! Nicht mehr denken, nicht mehr; jetzt muß ich zu ihr ... Mag kommen, was will ...

Er dachte noch, suchte noch zu kämpfen, aber er wußte, daß er es doch tun werde.

Und dann: mit einem Ruck warf er alle Gedanken aus seinem Gehirn und stieg schnell die Treppe hinauf.

Aber als er läuten wollte, befiel ihn wieder dies lähmende Angstgefühl. Er setzte mehrmals den Finger an den Knopf der elektrischen Glocke, aber er wagte ihn nicht zu drücken. Dann lehnte er sich an die Wand, weil er plötzlich sich so schwer fühlte. Nun stieg er ein paar Stufen hinunter, er zählte sie; dann hörte er unten das Klirren von Schlüsseln, und mit einem Male besann er sich auf sein Muß, auf das letzte Muß, das doch immer siegen müsse.

Er ging wieder hinauf und läutete.

Ein Dienstmädchen machte auf.

– Ist Fräulein Isa ...

– Fräulein Isa ist nicht zu sprechen; sie hat verboten, Jemanden vorzulassen ...

– Aber sagen Sie ihr, daß ich sie sprechen muß ...

Er schrie es fast, wußte aber nicht weswegen.

In diesem Momente öffnete sich eine Tür: Isa stand im Korridor.

Falk ging auf sie zu; ohne ein Wort zu sprechen traten sie in das Zimmer.

Sie faßten sich an den Händen und zitterten Beide.

Dann warf sie ihre Arme um seinen Hals und weinte laut auf.


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