Stanislaw Przybyszewski
Homo Sapiens
Stanislaw Przybyszewski

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I

Über Bord

Dem Bildhauer
Gustav Vigeland
gewidmet

       

Vorbemerkung des Verfassers.

Ich war durch verschiedene Umstände veranlaßt, das, was organisch zusammengehört, in einzelne Stücke zu zerreißen und die drei Teile des »Homo sapiens« einzeln herauszugeben. So kam es, daß der erste Teil zuletzt erscheint, aber es ist selbstverständlich, daß Menschen, die nicht die ehrliche Absicht haben, mich von vornherein mißzuverstehen, die Romanserie »Homo sapiens« jetzt im Zusammenhange noch einmal lesen und nicht einzelne Teile, sondern das Ganze beurteilen werden.

I.

Falk sprang wütend auf.

Was war es denn?

Er wollte nicht in der Arbeit gestört werden, jetzt grade, wo er sich endlich entschlossen hatte, wieder zu arbeiten.

Gott sei Dank! Kein Freund. Nur ein Postbote.

Er wollte die Karte wegwerfen. Es hat Zeit. Da plötzlich: Mikita!

Es wurde ihm ganz heiß.

Mikita, mein teurer Mikita.

Er überflog die Karte: »Sei morgen Nachmittags zu Hause. Ich bin von Paris zurück.«

So viel hat er wohl schon lange nicht geschrieben, seit er sich vor vielen Jahren den berühmten Aufsatz geleistet hatte.

Falk lachte herzlich auf.

Dieser wunderbare Aufsatz! Daß er damals nicht ausgewiesen wurde ...

Neujahrseindrücke, abgefaßt in Form einer Neujahrsgratulation in den überschwenglichsten Phrasen; jeder Satz zwei Seiten lang.

Und dann. Nein, war das herrlich. Der alte Fränkel ... Wie er schimpfte! Nun, die Geschichte war brenzlich ...

Falk dachte nach, wie er Mikita überredet hatte, eine Apologie zu schreiben, in der ein wunderbarer Kalauer als Grunddominante durchging: Was einem Schiller erlaubt ist, sollte einem Schüler nicht erlaubt sein?

Und dann, am nächsten Tage. Sie schrieben die Apologie die ganze Nacht hindurch, legten sich am frühen Morgen schlafen und schickten zum Fränkel ein Entschuldigungsschreiben.

Falk konnte es noch nicht verstehen, wie so etwas durchgehen konnte.

Diese famose Entschuldigung: Es sei selbstverständlich, daß man in die Schule nicht kommen könne, wenn man die ganze Nacht hindurch an der Apologie gearbeitet habe.

Zwanzig Seiten lang ...

Nun mußte er aber arbeiten.

Er setzte sich wieder hin, aber die Arbeitsstimmung war vorbei. Er suchte sich zu zwingen, fischte ordentlich nach den Gedanken, kaute an dem Federhalter, schrieb auch ein paar Zeilen, die vollkommen banal waren: nein, es ging nicht.

Ein andres Mal hätte er sicherlich eine jener bekannten Grabesstimmungen bekommen, die er im Alkohol ersäufen mußte. Diesmal war er froh.

Er lehnte sich in den Stuhl zurück.

Deutlich sah er die furchtbare Mansarde, in der sie beide das letzte Jahr im Gymnasium gewohnt hatten. In der einen Wand drei Fenster, die nie geöffnet werden durften, weil sonst die Gefahr vorlag, daß die Scheiben rausfliegen könnten. Alle Wände mit Schimmelpilzen über und über bedeckt. Und kalt, daß sich Gott erbarme.

Wie sie einmal am frühen Morgen erwachten und sich erstaunt in dem Zimmer umsahen:

– Merkwürdig frische Luft hier, sagte Mikita.

– Ja, merkwürdig.

Und es war ein Staunen ohne Grenzen über dies seltsame Phänomen.

Ja, nachher wurde es klar. Es war eine Kälte, daß die Vögel erstarrt aus der Luft fielen.

Falk stand auf. Ja, das waren doch seine schönsten Erinnerungen.

Und der lange Kerl, der ihnen immer alle Bücher ausführte, wie hieß er doch nur?

Er konnte sich lange nicht auf den Namen besinnen. Ja endlich: Longinus.

Sonderbarer Mensch.

Falk dachte nach, wie Mikita sich heimlich zu der stets verschlossenen Bude des Longinus Zugang verschafft und ihm ein Buch weggenommen hatte, das er ihm nicht leihen wollte.

Plötzlich an einem Sonntag – ja, es war wohl wieder frische Luft im Zimmer ... Er wachte auf. Seltsame Szenerie: Mikita im Hemde, den Türschlüssel in der Hand, Longinus aufs Höchste empört, zitternd vor Wut.

– Mach die Tür auf! zischte Longinus mit theatralischem Pathos.

– Leg das Buch wieder hin, dann werd ich Dir aufmachen.

Longinus in Heldenpose mit großen Kothurnenschritten hin und her, hin und her.

– Mach die Tür auf! brüllte er heiser.

– Leg das Buch zurück.

Longinus schäumte. Plötzlich kam er an Falk heran.

– Du bist ein feiner, gebildeter Mann. Du kannst doch nicht leiden, daß ich in meinem Rechte nach irgend welcher Richtung hin beeinträchtigt werde.

Ja, Longinus pflegte immer in sehr gewählter und wohlgesetzter Rede zu sprechen.

– Ja, bedaure, Mikita hat den Schlüssel.

Nun schritt Longinus feierlich an Mikitas Bett heran:

– Ich spreche Dir jede Art Bildung ab.

Das war das größte Schimpfwort, das er je ausgesprochen hatte.

– Mach die Tür auf. Ich bin vergewaltigt und überlasse Dir das Buch.

Gott! wie sie gelacht haben. Und es war Sonntag. Sie sollten eigentlich in der Kirche sein. Die Kirche hatten sie immer geschwänzt. Sie waren doch gar zu überzeugungstreue Atheisten.

Aber gefährlich war es. Der fanatische Religionslehrer spionierte in der Kirche herum ...

Ha, ha, ha.

Falk dachte, wie er einmal in der Kirche seiner »Flamme« gegenübersaß – ja, er saß auf dem Katafalke, wollte recht graziös und interessant erscheinen und verharrte die ganze endlose Messe hindurch in einer recht unbequemen Stellung, in der er einmal Byron auf dem Grabe Shelleys abgebildet gesehen hatte.

Gab das einen Skandal!

Nun wollte er sich wieder zur Arbeit aufraffen, aber er konnte die Gedanken nicht sammeln. Das flog und schwirrte alles in seinem Gehirne herum um diese herrliche Zeit.

Er kaute gedankenlos an dem Federhalter und wiederholte: War das eine herrliche Zeit!

Wie sie plötzlich Ibsen entdeckt hatten, wie ihnen »Brand« den Kopf verdrehte.

Alles geben oder Nichts! Ja, nun wurde das ihre Parole.

Und sie suchten die Spelunken der Armen auf und scharten die Proletarierkinder um sich herum.

Wieder sah sich Falk in der Mansarde.

Fünf Uhr Morgens. Ein Gepolter von Holzschuhen auf den Treppen, als ob man eine Kanone nach oben schleppte.

Dann wurde die Türe aufgemacht und nun im Gänsemarsch: ein Junge, ein Mädchen – zwei Jungen – zwei Mädchen, die ganze Stube voll.

Alles am Ofen um den großen Eichentisch herum.

– Mikita, steh auf! Ich bin wahnsinnig müde.

Mikita fluchte.

Er könne nicht aufstehen. Er habe die ganze Nacht an dem lateinischen Aufsatz gearbeitet.

Mit einem Ruck waren sie beide auf, ganz wütend und haßerfüllt gegen einander.

Das Zähneklappern in dieser Kälte!

Und nun: er am Ofen, prustend und fluchend, weil das Holz kein Feuer fangen wollte, Mikita an dem großen Milchkessel, den er mit Spiritus erwärmte.

Allmählich wurden sie weicher gestimmt.

Die Kinder wie junge Raubtiere über die Milch und das Brot her – Mikita, von der Seite, strahlend, glücklich.

Und dann: Kinder hinaus!

Jetzt sahen sie sich regelmäßig freundlich an.

Falk wurde es ganz warm ums Herz.

Er hatte das längst vergessen. Es stak, weiß Gott, ein großer, schöner Inhalt da drin.

Dann, gewöhnlich Scham, weil sie sich auf Sentimentalität – nein, Ästhetik nannten sie es – ertappen ließen, und schließlich Zank.

– Nibelungenlied ist doch eigentlich ein leeres, dummes Gewäsch. Mikita kannte Falks schwache Seiten sehr gut.

Das wollte er selbstverständlich nicht zugeben. Er disputierte mit unglaublichem Eifer und schnitt das Brot zum Frühstück.

Mikita war schlau. Er verwickelte Falk immer in einen Disput und ließ sich das Brot schneiden, weil Falk im Eifer niemals merkte, wie beschwerlich es war.

Und plötzlich: Herrgott, zwei Minuten über voll. Die Bücher zusammengerafft und in eiligstem Galopp in die Schule. Er voran, Mikita hinterdrein, humpelnd. – Ob er das Überbein jetzt kuriert hatte? Nun merkte Falk gewöhnlich, daß er hungrig war, Mikita hatte das ganze Brot aufgegessen – der herrliche Kerl.

Dann ...

Falk stockte.

»Brand« aufs Erotische übertragen. Alles oder Nichts ...

Er stockte wieder.

Er hatte eigentlich Janinas ganze Zukunft zerstört. – Hm, warum sie nur von ihm nicht lassen konnte? Und wie er sie gequält hatte mit den Brandschen Forderungen und der Brandschen Härte.

Ja, er mußte wohl eine Art Hypnose auf sie ausgeübt haben. Wie war es sonst möglich, daß sie von zu Hause weglief und ihm nachreiste?

Unangenehm. Er hatte sie ja niemals geliebt. Er wollte ja nur zusehen, wie sich bei einem Mädchen die Liebe entwickelt. Ja, er wollte eine Biogenese der Liebe schreiben. Kein übler Gedanke für einen achtzehnjährigen Jungen. Nun, er hatte damals Büchner und das »triste cochon« Bourget gelesen.

Er mußte sie doch mal besuchen.

Nein lieber nicht. Wenn sie ihn nur vergessen könnte.

Falk stand auf und ging gedankenvoll auf und ab.

Es ist doch schändlich, sie immer von Neuem zu verführen und dann hinterdrein sich auf einen überlegenen Standpunkt zu stellen und klar zu machen, daß Liebe überwunden werden muß, daß sie ein rudimentäres Gefühl sei, eine Art pathologischen Ausschlags in dem Geistesleben des modernen Menschen.

Ja, darin war er unvergleichlich.

Wenn sie nur ein bißchen froher werden möchte.

Er hörte sie, wie sie ihm auf seine höhnenden Erklärungen antwortete:

– Ich würde Dir nur das eine wünschen, daß Du Dich einmal verliebst ...

Wie naiv sie war. Nein – nein ...

Liebe?! – Hm ...Was war das eigentlich?

Der alte Herr in Königsberg, der hat es durchschaut. Liebe ist doch wohl sicher eine krankhafte Äußerung ... Ja, er mußte es wissen.

Er zündete sich eine Zigarette an und legte sich lang hin aufs Sofa.

Was Mikita jetzt wohl malte?

Es war doch eine unglaubliche Kraft in dem Menschen. Sich so mühsam durchzuringen und nicht einen Strich vom Wege abzulenken.

Jetzt hätte er schon reich werden können, wenn er es wie die Andren machen wollte.

Diese schreckliche Zeit auf der Universität.

– Hast Du zehn Pfennig, Mikita?

Mikita hatte nichts, er hatte den ganzen Morgen alle Sachen durcheinandergeworfen in rastlosem Suchen nach dem 10 Pfennigstück, das sich doch irgendwo verkrochen haben mußte.

– So werden wir hungern.

– Allerdings. Mikita ließ sich in seiner Arbeit nicht stören. Du – übrigens ist das Geld jetzt sehr billig. Der russische Staat hat seine Schulden konvertiert.

– Ja, ja – ich weiß schon.

– Na also! Mikita malte weiter.

Und sie hungerten. Gräßlich!

Falk schüttelte sich.

Halb verrückt war er geworden. – Sonderbar, daß er es nicht ganz wurde. Wie er einmal ganz kraftlos auf der Straße stehen blieb und beinahe überfahren wurde.

Schließlich hatten sie nur eine Hose. Mikita mußte in Unterhosen malen, wenn Falk ins Kolleg ging.

Nun lachte Falk laut auf.

Er erinnerte sich, wie die Mutter den Gutsinspektor mit dem Gelde zu ihm schickte. Sie hatte den Wald verkauft. Dann gingen sie alle drei in eine Kneipe und verblieben da vom frühen Morgen bis in die späte Nacht hinein. Der Inspektor kroch auf allen Vieren die Treppe hinauf. Mikita zog ihn beständig an einem Bein herunter, bis der Inspektor ihm in seiner Entrüstung einen starken Schlag mit dem Absatz grade auf die Nasenwurzel versetzte.

O Gott! Wie der Inspektor sich übergeben wollte und den Kopf durch die Scheibe hindurchsteckte, weil er das Fenster nicht aufmachen konnte ...

Und nun dachte Falk wieder an seine Hungerperiode und an die Mutter, die doch immer geholfen hatte.

Ihn überkam eine weiche Zärtlichkeit.

Ja, ja, die Mutter, die Mutter ...

Na, Mikita wird schön gehungert haben in Paris.

Die armen Bahnbrecher!

Er lachte höhnisch.

Aber nein! Zum Trotz! Nicht eine Linie nachgeben, lieber verhungern.

Er dachte nach.

Was war es eigentlich? Was hielt ihn aufrecht trotz all der Beschimpfungen, all der Mißerfolge?

Er legte sich wieder hin.

Die große, die herrliche Kunst, die eine neue Welt aufsucht, eine Welt, die hinter der Erscheinung, hinter dem Bewußt-Gedachten, hinter jeder Äußerungsform liegt – eine Welt, so unfaßbar fein, daß die Zusammenhänge sich verwischen und ineinanderfließen – eine Welt in einem Blick, einer Geste ...

Herrlich!

Und die neuen Symbole ... Ja, ja – das neue Wort, die neue Farbe, der neue Stimmungston ...

– Alles dagewesen ...

– Nein, nein, verehrter Herr, nicht Alles. Nicht der Schmerz, der über dem Schmerze steht, nicht die Freude, die zum Schmerze wird, nicht der ganze neue Vorstellungsinhalt, in dem alle Sinne ineinandermünden ... ja, ja ... all die tausend Empfindungswerte, die zwei, drei, höchstens zehn brave Zeitgenossen nachzuempfinden verstehen ... Das alles nicht dagewesen, sonst würde es auch schon die Menge verstehen, die hundert Jahre nötig hat, um einen Gedankenbrocken durchzukauen.

Nun, es war doch am Ende sehr gut, daß man nicht von jedem Preßbuben verstanden wurde, sonst müßte man sich vor sich selbst schämen ...

Er schaute der Rauchwelle nach, die sich in einem feinen Streifen von der Zigarette loslöste und sich in seltsamer Windung nach oben hinaufwand.

So sah er einmal einen Bach gemalt auf einem chinesischen Bilde.

Plötzlich kam ihm vor, als höre er Mikitas Stimme.

Ja, er erinnerte sich, nie wieder hatte er diese unsagbar mystische Stimmung erlebt. Er war damals krank, konnte nicht die Augen aufmachen, das ganze Gesicht war aufgeschwollen.

Mikita pflegte ihn; oh, er verstand mit ihm umzugehen! Tag und Nacht wachte er bei ihm. Und wenn Falk nicht einschlafen konnte, dann las er ihm vor. Ja, er las die Florentinischen Nächte von Heine.

Und Falk hörte ein monotones, weiches Singen – ja, Singen ... halb wie ein Gebet, das immer mehr verebbte, wie die letzten Wellen am Seestrand, wenn sich die See glättet – immer mehr, immer weicher ...

Er schlief ein.


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