Stanislaw Przybyszewski
Homo Sapiens
Stanislaw Przybyszewski

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V.

Er durfte sie nicht mehr sehen.

Das wurde ihm nun klar.

Nein! Nicht mehr.

Angst, schmerzhafte Angst kam in ihm auf.

Wie wird das werden? Wie wird er dies zwingende Verlangen ersticken können? In einer Stunde hatte das Weib diese tiefen Wurzeln in ihn geschlagen. Ihr Faserwerk umstrickte seine Seele. Enger und enger zogen sich die Maschen dieses Wurzelnetzes zusammen. Er fühlte sich deutlich in zwei Menschen zerfallen, und während der Eine kühl und klar den Willen zu beeinflussen suchte, warf ihm der Andre plötzlich Gedanken in sein Gehirn, die den bewußten Menschen zerstörten und bohrte sich tiefer in ihn hinein mit einer Sehnsucht und einem Verlangen, daß er rastlos hin- und hergeworfen wurde und keine Ruhe finden konnte.

Was war denn geschehen?

Ohé les psychologues! Erklärt mir doch mit euren ganzen psychophysischen Grundgesetzen, was in meiner Seele vor sich gegangen ist? Bitte, erklärt mir das!

Er setzte sich plötzlich auf.

Was fehlte nur Mikita?

Ahnte er, fühlte er es kommen? Aber es war ja nichts geschehen ... Warum war er nur heute so einsilbig?

Er muß sie unerhört lieben. Es zuckte Leiden um seinen Mund.

Ja, Mikita fühlt auf Distanzen; ja, Mikita sieht das Gras wachsen ... Der Ton, mit dem er ihn bat, Isa heute zu Iltis zu begleiten. Er habe so viel zu tun, und Isa habe so große Lust darauf.

Warum führe er sie nicht selbst?

Ja, er werde vielleicht später nachkommen ... Aber konnte er denn nicht seine Geschäfte bis morgen vertagen?

Falk stand auf.

Nein! Er wird sie nicht begleiten. Er darf sie nicht mehr sehen. Jetzt könnte er sie noch vielleicht vergessen. Sie könnte jetzt noch ein herrliches Erlebnis werden, ja, ein Erlebnis, das er literarisch verwerten könnte.

Literarisch! Falk lachte höhnend.

Er wird zu Hause bleiben und literarisch tätig sein. He, he ...

Er fühlte Ekel.

Dies dumme blödsinnige Schreiben! Warum ist er nicht genug Aristokrat, um sein persönlichstes, sein feinstes und verschämtestes Empfinden nicht zu prostituieren? Warum wirft er das Alles vor die Menge?

Die Herren, die auf den Menschheitshöhen wandeln, mitsamt den Ferschten. Ja, den Ferschten, wie sie in den »Fliegenden Blättern« zu finden sind, halb Pudel, halb Affe, mit aufgekrempelten Hosen ...

Ekelhaft!

Nein! Jetzt wird er sich entschließen. Ja! Nun ist es bestimmt. Er wird zu Hause bleiben.

Der feste Entschluß tat ihm wohl. Er setzte sich vor den Schreibtisch und fing an zu lesen.

Er las eine Seite und verstand Nichts.

Dann sah er auf. Er mußte unwillkürlich an einen Knecht in einem Gogelschen Roman denken, dem das rein mechanische Lesen Vergnügen macht, ohne daß er auch nur ein Wort versteht.

Er raffte sich auf und las weiter.

Was war nur in ihren Bewegungen?

Das war keine Bewegung mehr, das war Sprache, das war der vollendeteste Ausdruck seines eignen höchsten Kunstideals – und die Hand, die Hand ...

Er fuhr zusammen.

Daß er das nur vergessen konnte!

Er mußte doch an Mikita schreiben, daß er verhindert sei, Isa zu begleiten.

Er setzte sich hin und schrieb eine Rohrpostkarte.

Wie schön es nun wäre, Jemand mit der Karte schicken zu können! Jetzt mußte er selbst auf die Post laufen!

Er trat auf die Straße. Es stieß ihn, zu ihr zu gehen, sie nur noch einmal zu sehen, sich an ihrer Nähe zu reiben –ja, nur noch einmal sie atmen zu können.

Aber das durfte er nicht. Er werde sich doch noch bezwingen können?!

Ja, bezwingen! Grade so bezwingen, wie einer seiner Freunde, dessen größtes Verlangen es war, einmal Rom zu sehen. Und er fuhr nach Rom, aber eine Meile vor Rom hatte er sich gesagt, daß der Mensch sich müsse bezwingen können, und kehrte um. Als er in die Heimat zurückkehrte, wurde er verrückt.

Ja, das kommt Alles von der lächerlichen Idee, daß man sich bezwingen könne, und grade das in sich, was das Stärkste ist, weil es von Ewigkeit her da ist.

Und er dachte an Heines Worte – wie war es doch? Könnt ich mich bezwingen, wärs schön; könnt ich es nicht, wärs noch schöner. Ja so ungefähr.

Aber der zynische Hintergedanke war ihm peinlich. Er hatte das Gefühl, als hätte er Isa beschmutzt.

Warum denn? In welcher Beziehung sollte Isa zu diesem Hintergedanken stehen.

Und er ging und grübelte über die geheimen Assoziationen, die sich irgendwo im Verborgenen vollziehen und dann plötzlich ohne jeden Zusammenhang ins Gehirn treten.

Ja, scheinbar zusammenhanglos. Das tückische Unbekannte weiß ganz genau, was es zusammenkoppelt.

Es machte ihm Freude, an diesem sonderbaren Rebus herumzurätseln.

Selbstverständlich tat er es nur, um keinen anderen Gedanken auftauchen zu lassen – Schön war doch die Enge des Bewußtseins ...

Aber der Gedanke an Mikita brach doch hervor.

Er wollte nicht an ihn denken.

Es war, als bekäme er jedesmal einen Herzkrampf. Das Blut staute sich auf Augenblicke zu Herzen. Das tat unsagbar weh.

Warum sollte Mikita Rechte auf einen Menschen haben, ausschließliche Rechte, so eine Art Monopol?

Er schämte sich plötzlich, empfand aber deutlich ein heißes Gefühl von – – ja wirklich, es war ein deutliches Haß- nein – Unmutsgefühl ...

Mikitas wegen durfte er nicht gehen! Mikitas wegen?! Er lachte höhnisch. Erik Falk hält sich für den Unüberwindlichen! Mit einer gewissen prästabilierten Harmonie müsse er jeden Mann zum Hahnrei machen, jede Verlobte eines Andren müsse sich mit zwingender Gewalt in ihn verlieben.

Das war doch unendlich lächerlich!

Wenn er sich noch sagen würde: Du, geh nicht hin, du wirst dich nur verlieben, wo du auf keine Gegenliebe hoffen darfst, da sie doch ...

Er stockte.

Er hatte ein so lächerlich sicheres Gefühl, daß sie ihm näher stand als Mikita, er fühlte so deutlich –ja, Mikita schien es ja auch zu fühlen, daß Isa ...

Nein, nein!

Aber das Eine, das könne er doch mit gutem Gewissen tun: ihr wenigstens räumlich nahe zu sein, nur über die Straße weg – in dem Restaurant, dort werde er sich hinsetzen und sich ganz mechanisch betrinken, um sich einfach unfähig zu machen, zu Isa zu gehen.

Ja, das müsse, das werde er tun.

Vor dem Hause, in dem Isa wohnte, blieb er stehen.

Nun war es zu spät geworden! Nun konnte er nicht mehr rechtzeitig Mikita benachrichtigen.

Was wollte er tun?

Herrgott, er müsse am Ende doch hinaufgehen.

Sein Herz klopfte heftig, als er die Treppen hinaufging.

Er klingelte.

Nun erschrak er heftig. Es war ihm, als müsse das Klingeln das ganze Haus in Aufruhr bringen.

Flieh! Flieh! schrie es in ihm.

Die Tür wurde aufgemacht. Isa stand im Korridor.

Er sah in ihren Augen eine heiße Freude aufleuchten und sich über das ganze Gesicht gießen.

Sie drückte ihm herzlich die Hand, sehr herzlich. Wollte sie damit etwas sagen?

– Sie wissen schon, daß Mikita erst später nachkommen kann?

– Ja, er war heute bei mir.

– Da müssen Sie mich hinbegleiten. Es ist Ihnen doch nicht unangenehm?

– Für Sie tu ich Alles! Es kam so patzig heraus.

Sie wurden Beide verlegen. Ja, er mußte wachen, daß er sich nicht wieder vergesse.

Wie kam es nur so plötzlich, ohne daß er es hindern konnte?

Sie setzten sich hin, sahen sich in die Augen und lächelten. Er fühlte, daß sie auch unruhig war.

Er zwang sich und wurde sehr aufgeräumt.

– Nun, wie hat es Ihnen gestern gefallen?

– Es war ein sehr interessanter Abend.

– Iltis ist ein merkwürdiger Mensch, nicht wahr?

Sie lächelte.

– Nein, nein; ich meine es im vollen Ernste. Ich nehme den Mann absolut ernst ...

Isa sah ihn zweifelnd an.

– Ja, Iltis sei direkt ein dilettantisches Genie. Er wisse Alles, er habe Alles untersucht, Alles gelesen. Sein Gehirn arbeite absolut folgerichtig, nur komme es zu so sonderbaren Schlüssen, die immer seine ganze Arbeit zerstörten. So habe er sich neulich mit dem Problem abgequält, auf welcher Stufe der Entwicklung er die Kinder plazieren solle. Das gab natürlich viel Kopfzerbrechen. Zuerst: ein Vergleich mit den Weibern. Alle Kinder seien Larven von Weibern, oder vielmehr, das Weib sei ein in der Entwicklung zurückgebliebenes Kind. Kinder und Weiber haben runde Formen und zarte Knochen. Kinder und Weiber verstehen nicht logisch zu denken, und seien nicht im Stande, ihr Gemüt mit dem Gehirn zu bemeistern.

Nun kamen aber Schwierigkeiten in den weiteren Vergleich. Die Kinder sind rein und unschuldig, die Weiber sind boshaft, verlogen, kokett, die reinen Dienerinnen des Teufels.

Der Vergleich stimmte also nur formell.

Falk wurde immer lebhafter.

– Aber eines Tages – es war wieder einmal ein früher Morgen, und in solchen Fällen mußte ich gewöhnlich Iltis nach Hause begleiten.

Plötzlich bleibt Iltis an einer Brücke stehen und verliert sich ganz und gar in den Anblick der Schwäne, die in einem großen Schwarm unter der Brücke auftauchen.

Iltis gerät in eine fabelhafte Aufregung.

– Erik, siehst Du?

– Ja, ich sehe.

– Was siehst Du?

– Schwäne.

– Nicht wahr??

– Ja ...

Iltis dreht sich nervös um.

In dem Augenblick kam die Semmelfrau von Jericho ...

Falk lachte nervös auf.

– Wunderbar, diese Semmelfrau von Jericho! Sie kennen den prachtvollen Lilienkron nicht?

– Nein. Isa sah Falk erstaunt an.

Also der Lilienkron hat ein Gedicht geschrieben: die Kreuzigung, – nein: »Rabbi Jeschua«. In dem Zuge ...

– Aber was war mit Iltis?

– Ja, gleich, gleich ... Also in dem Zuge, der sich nun auf Golgatha zubewegt, gehen die Advokaten, die Leutnants, die Taschendiebe, selbstverständlich auch die Psychologen und die Vertreter des Experimentalromans, und schließlich auch die Semmelfrau von Jericho.

– Aber es gab doch damals keine Semmelfrauen, bemerkte ihm einer seiner Freunde.

Lilienkron wurde sehr aufgeregt. Die Semmelfrau sei ja das Herrlichste an dem Gedichte! Er habe ja das ganze Gedicht nur der Semmelfrau wegen geschrieben!

Sie lachte. Ja, sie lachte wie ein Kamerad. Es war wirklich etwas von kameradschaftlicher Biederkeit in ihrem Lachen. Er möchte sie immer so sehen, dann würden sie Freunde werden, nichts weiter.

– Als nun die Semmelfrau von Jericho vorbeigeht, packt Iltis eine Handvoll Semmeln aus dem Korb und wirft sie auf das Wasser.

Nun wird er glücklich.

– Siehst Du?

– Ja, ich sehe.

– Was siehst Du?

– Schwäne.

– Lächerlich. Das seh ich auch. Aber das Andre, das ich mit meiner Intuition erfasse, siehst Du nicht: Schwäne und Kinder stehen auf derselben Stufe. Kinder essen keine Krusten und Schwäne auch nicht.

Isa lachte etwas gezwungen.

Falk wurde sehr nervös. Das war doch lächerlich! Wie konnte er glauben, daß er sie mit diesen kindischen Geschichten unterhalten könnte. Das war doch zu abgeschmackt.

– War es denn sein Ernst?

Nun platzte er heraus.

– Nein, an der ganzen Geschichte sei auch nicht ein Jota Wahrheit. Er habe die Geschichte sehr schlecht erfunden, aber als er zu erzählen anfing, glaubte er, daß etwas Besseres herauskäme ... Ja, das sei unendlich dumm und lächerlich ... Sie dürfe es ihm nicht übel nehmen, wenn er es gradheraus sage, aber er habe die Geschichte nur deswegen erzählt, damit sie sich in seiner Gesellschaft unterhalte ... Er habe einen Drang, daß sie sich nicht mit ihm langweile, er möchte sehr unterhaltend sein, und daher komme es, daß er ungeschickt erzähle und noch dazu idiotische Geschichten.

Isa wurde sehr verlegen.

– Sie nehme es ihm doch nicht übel?

– Nein.

Es dunkelte; eine peinliche Pause trat ein. In Falks Gehirn fing es an sich zu verwirren. Tausend Gefühle und Gedanken durchkreuzten sich und lähmten einander.

– War Mikita heute bei Ihnen? – Er fragte nur um zu fragen, war aber erstaunt, warum er danach fragte.

– Ja, er war hier.

– Er war so sonderbar heute, was fehlte ihm?

– Er ist wohl ein wenig nervös. Die Ausstellung macht ihm viele Kopfschmerzen.

– Er scheint noch immer der Alte zu sein. Wir liebten uns maßlos, aber manchmal wurde es ein bißchen schwer. In einer Stunde konnte er hundert verschiedene Stimmungen haben.

Isa suchte nach einem neuen Gesprächstoff. Falk merkte es an einer nervösen Handbewegung.

– Und ich werde Ihr Brautführer sein?

– Ja freilich. Sie sah ihn fest an.

Wozu nur so fest? Um seinen Mund flog ein unbestimmtes Lächeln.

Isa wurde sehr unangenehm berührt. Was hatte dies Lächeln zu bedeuten?

– Ja, in drei Wochen werden Sie das Glück haben, mein Brautführer zu sein.

– Ich freue mich ungemein. Falk lächelte verbindlich.

Wieder entstand eine Pause.

Sie stand auf.

– Ich muß Ihnen eine Sache zeigen, die Sie interessieren wird.

Falk sah die japanische Vase aufmerksam an.

– Ganz wunderbar! Merkwürdige Künstler, die Japaner! Sie sehen die Dinge wie in einer Momentphotographie. Nicht wahr? Sie müssen doch Dinge wahrnehmen, die uns nicht ins Bewußtsein treten. So in einer tausendstel Sekunde, verstehen Sie?

– Wie meinen Sie das?

– Ja, ich meine, daß sie fähig sind, einen Eindruck festzuhalten, der für unser Bewußtsein zu kurz dauert, oder, wie die Fachpsychologen sich so elegant ausdrücken: die physiologische Zeit ist zu kurz, damit ein solcher Eindruck ins Bewußtsein tritt ...

Er hielt die Vase in den Händen und sah Isa fest an.

– Manchmal gelingt es mir auch, freilich nur selten. Aber heute zum Beispiel, als ich Sie im Korridor sah. Da glitt ein Ausdruck von Freude über Ihr Gesicht und verschwand im Nu.

– So? Haben Sie das gesehen? fragte sie spöttisch.

– Ja; es war wie ein momentanes Aufblitzen von Magnesiumlicht, aber ich sah es doch. Nicht wahr? Sie freuten sich, als ich kam, und ich wurde so unendlich glücklich, als ich das sah.

Es klang so ehrlich, so herzlich, was er da sprach. Sie fühlte, daß sie rot wurde.

– Nun müssen wir wohl gehen, sagte sie.

– Nein, warten wir noch ein wenig; es ist noch zu früh ... Und dann, wissen Sie, ich bin vielleicht ein wenig zu offen, aber ich muß Ihnen sagen, daß ich mich hier so unendlich wohl fühle. Ich habe nie, nein – nirgends noch hab ich ein ähnliches Gefühl gehabt.

Die Dämmerung konnte doch die Menschen merkwürdig nahe aneinander bringen.

– Es ist Alles so sonderbar. Es ist sonderbar, daß Mikita mein Freund ist, daß Sie seine Verlobte sind; sonderbar ist das Gefühl, als wär ich schon tausend Jahre mit Ihnen bekannt ...

Isa stand auf und zündete die Lampe an.

Licht schafft Distanz. Ja, sie wollte die Distanz herstellen.

– Schade, daß Mikita erst spät nachkommen kann.

– Ja, das ist sehr schade. – Er war gereizt. Nun mußte er wieder an Mikita denken. Lächerlich, daß Mikita ein ausschließliches Monopol auf einen Menschen haben sollte. Nun, dagegen war nichts zu machen.

Er sah auf die Uhr.

– Jetzt ist es Zeit. Jetzt müssen wir gehen.


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