Stanislaw Przybyszewski
Homo Sapiens
Stanislaw Przybyszewski

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VII.

Als es Abend wurde, setzte sich Falk in eine Droschke und fuhr zu Czerski.

Er war nicht ganz wohl. Er fühlte Fieber und hatte Angst, daß es wieder ein Fieberanfall sei, der ihn manchmal befiel und der längere Zeit andauern konnte.

Diese periodischen Fieberanfälle waren wohl die Überbleibsel einer überstandenen Pleuritis oder irgend einer Krankheit ... Er dachte nach über alle Krankheiten, die er gehabt hatte. Jedenfalls wohl eine Lungenaffektion. Die verschiedensten Fiebertheorien gingen ihm durch das Gehirn, aber seine Aufmerksamkeit war ungewöhnlich zerstreut und er konnte bei keiner einzigen verbleiben. Das Schlimme war nur, daß er bei jedem solchen Anfall irgend eine Dummheit anrichtete, – doch darum handelte es sich ja jetzt nicht.

Die Hauptsache, die große Hauptsache war es, daß er jetzt zu Czerski mußte, um ihm ganz offen seine Feigheit einzugestehen. Das war er sich selbst und Allen, die noch an ihn glaubten, schuldig.

Die Fahrt wollte kein Ende nehmen. Seine Gedanken stoben auseinander. Er wiederholte einzelne sinnlose Sätze. Und sonderbar, je sinnloser ein Satz war, desto öfter mußte er ihn wiederholen.

Er sah auf die Uhr. Es war schon acht, also hatte er Zeit, Czerski wird wohl nicht vor Mitternacht fahren.

Schließlich kam er vor dem Haus an, wo Czerski wohnte.

Er blieb ratlos stehen. Auf welcher Etage wohnte er denn eigentlich? – Natürlich auf der obersten. Das ist ja klar.

Er ging in den Hausflur hinein: es war stockfinster. Er tappte sich vorsichtig vorwärts, und erschrak heftig: er stieß auf einen Menschen.

– Verzeihung!

– Tut nichts. Der Unbekannte wurde plötzlich wütend. Es sei eine unverzeihliche Nachlässigkeit vom Wirte, kein Licht anzuzünden. Er werde ihn sofort anzeigen.

Falk kam die Stimme sehr unangenehm vor; er wollte ihn eigentlich fragen, ob er nicht wüßte, wo Czerski wohnte, aber er besann sich, daß er wohl einen Spitzel vor sich habe.

– Können Sie mir nicht sagen, ob hier ein Herr Geißler wohnt? fragte er plötzlich.

– Wie heißt der Mann?

– Herr Geißler.

– Nein, ich weiß nicht.

Nun ging Falk die Treppen lärmend hinauf, und klingelte auf der zweiten Etage, fragte wieder sehr laut nach dem Herrn Geißler, worauf zur Antwort die Tür wütend zugeworfen wurde.

Falk lächelte zufrieden. Er ging nun leise auf den Zehen die übrigen Treppen hinauf. Er war ungemein vergnügt über seinen Einfall. Der Spitzel da unten glaubte natürlich, daß er Herrn Geißler auf der zweiten Etage gefunden hatte.

Wo nun, rechts oder links?

Er klopfte aufs Geratewohl.

– Herein.

Falk machte die Tür auf und trat ein. Er sah Czerski auf dem Sofa sitzen.

Sonderbar, daß Czerski gar nicht erstaunt war, er schien nicht einmal die geringste Notiz von seiner Anwesenheit zu nehmen. Er warf nur Falk einen gleichgültigen Blick zu und starrte wieder vor sich hin.

Falk sagte kein Wort, setzte sich Czerski gegenüber auf einen Stuhl und fing an ihn mit großer Aufmerksamkeit zu betrachten.

Czerski schien ganz stumpf zu sein. Ja, er sah furchtbar aus. Seine Augen waren glanzlos und tief eingefallen.

Plötzlich fiel es Falk ein, daß er noch kein Wort gesagt habe. Er war selbst überrascht.

– Guten Abend, Czerski.

Czerski sah ihn an mit einer ungewöhnlichen Ruhe. Falk wurde unheimlich berührt.

– Was wünschen Sie, Herr Falk?

– Ich? Ich wünsche eigentlich gar nichts. Ich will auch gleich gehen, sofort ... Ich weiß auch nicht, weshalb ich hergekommen bin ... Er verwirrte sich immer mehr, aber plötzlich kam er zur Besinnung.

– Ja, richtig, ich bin gekommen, um Ihnen zu sagen, das heißt, klar zu machen, daß ich das Geld geschickt habe, um Sie loszuwerden. Ich bereue das jetzt ... ich will nicht mehr in der Lüge leben, ich brauche sie auch nicht mehr ... Was wollt ich doch sagen? ... Ja! Sie sollen nämlich gar nicht fahren. Sie haben vollkommen Recht, daß Sie die Lüge abschaffen und bestrafen wollen. Ich werde Ihnen außerordentlich verpflichtet sein, wenn Sie jetzt zu meiner Frau gehen und ihr Alles sagen. Ich selbst kann es nicht. Ich bin es nicht im Stande. Ich kann nicht die Qual ertragen ... Sie wissen nicht, wie ich gegen die Qual empfindlich bin; schon als Kind ... Mein Vater hat einmal meinen Hund totgeschossen, und im Todeskampfe sah mich der Hund an ... seit dieser Zeit kann ich keine Qual sehen ... Es ist auch mein Prinzip, meine Finger nicht in das Rad des Schicksals einzustecken. Und es scheint nötig zu sein, daß ein Anderer es meiner Frau sagt ... Ich will nicht vorgreifen ...

– Sie sind zu feig dazu.

– Ja, Sie haben vollkommen Recht, ich bin feig, sehr feig, und ich will meine Feigheit mit dem Glauben an die Determination bemänteln. Ich glaube aber an keine Determination, weil ich an nichts glaube ... Es ist ganz seltsam, wie feig ich bin und – ja ... es tut mir unendlich leid, daß ich Ihnen diesen Schmerz bereitet habe ... Ich habe schon gestern gesehen, wie ungewöhnlich schlecht Sie aussehen ...

Falk merkte plötzlich zu seinem Schrecken, daß sein Fieber große Fortschritte machte. Aber er faßte sich. Es war ihm, als wäre ein weiter Nebelstreifen von seinem Gehirn geschwunden.

Czerski sah ihn aufmerksam an.

– Sie haben Fieber, Falk. Sie sollten nach Hause gehen.

Falk wurde gereizt.

– Woher wissen Sie, ob ich nicht zufällig eine Komödie spiele? Das verstehe ich nämlich ganz ausgezeichnet. Können Sie sicher sein, ob ich nicht zufällig durch verwirrte Redensarten Ihre Aufmerksamkeit auf meinen seelischen Zustand im Allgemeinen richten will? also – he, he – auf indirektem Wege einen Beweis liefern will, daß ich zu Zeiten unzurechnungsfähig bin und für meine Handlung nicht so ganz und gar verantwortlich gemacht werden kann ... He, he, he ...

Czerski antwortete nicht.

Falk kam in Wut.

– Sie scheinen nichts zu hören. Sie hören absichtlich nicht ... He, he ... Sie wollen mich beleidigen. Sie wollten mich auch gestern beleidigen, das hab ich verstanden. Sie haben sich da einen plumpen Befehl ausgedacht, um mich wütend zu machen ... Ich verstehe ganz ausgezeichnet: Sie haben noch ein wenig Achtung vor dem Falk, der so viel für die Sache getan hat ... Es war auch viel Selbstüberwindung in dem, was Sie sagten ... Nicht wahr? Sie mußten doch etwas in sich überwinden, bevor Sie mir zurufen konnten: Ich befehle Ihnen – oder: Sie sind ein Schurke. Sagen Sie mir offen, haben Sie nicht mit sich selbst kämpfen müssen, bevor Sie so etwas zu mir sagten?

Czerski sah ihn mit einer eigentümlichen Ruhe an und sagte dann fast feierlich:

– Ja.

Falk wurde erstaunt.

– Sagten Sie ja? Haben Sie das gesagt? Ich erwartete es nicht ... Aber verstehen Sie nicht, was ich sage? Ich habe Ihnen das Geld geschickt unter der Bedingung, daß Sie sofort reisen sollen. Ich wußte, daß Sie eine solche Bedingung ohne weiteres erfüllen würden, weil für Sie die Sache über jeder persönlichen Frage steht ... Ich habe auch heute früh meine Frau weggeschickt, um Sie zu verhindern, ihr Ihre Entdeckung mitzuteilen ...

Czerski lächelte plötzlich.

– Aber ich wollte ja gar nicht zu Ihrer Frau gehen.

– Wollten Sie es nicht? Wirklich nicht?

Falk grübelte.

– Ich dachte, daß Sie es tun würden. Ich habe gehört, daß Sie ungemein rachsüchtig und rücksichtslos sind. Ich glaubte, Sie wollten mich zerstören. Und wie kann man mich zerstören, wenn man mich nicht von meiner Frau trennt?

Er stutzte plötzlich und sah Czerski fast erschreckt an.

– Sehen Sie, sagte er plötzlich, jetzt hat mein Gehirn gelogen. Es sucht Gründe für die Tatsache, daß ich bereits zerstört bin. Die Gründe liegen wo anders, ganz wo anders. Meine Frau ist bei mir und ich bin dennoch zerstört ... Wissen Sie, was ein Malstrom ist? Natürlich wissen Sie es. Ein Strudel, ein Wirbel, ein ... Das Wasser türmt sich zu einem Berge auf und wirbelt sich wieder in einen abgründigen Trichter hinein. Und wissen Sie, wie es ist, wenn man hineinkommt? Ich habe es gesehen, ja – sonderbar, auf meiner Hochzeitsreise hab ich es gesehen. Der Malstrom saugt auf und schleudert mit sich herunter, wirft wieder empor, dann wird man von Neuem hineingerissen, und wieder hinaufgeschleudert ... So ist es bei mir. Ich bin jetzt rettungslos in einem solchen Strom hineingerissen, ich kann noch tausendmal emporgeschleudert werden, aber ich komme aus dem Bereich dieses gräßlichen Wirbels nicht hinaus ... Und jedesmal, wenn ich hineinkomme, bekomme ich Fieber – He, he, es ist sonderbar ...

Er trocknete sich die Stirn.

– Ja, ich bin bereits zerstört. Mißverstehen Sie mich nicht. Ich spreche von Zerstörung, nicht als wäre etwas Tragisches dabei, – nein! Ich spreche von Zerstörung, wie man von einem Mauerwerke spricht, das unter dem Zahn der Zeit, wie man sich in der Zeitungssprache ausdrückt, zerbröckelt. Ich spreche von Zerstörung ganz objektiv, wie wenn ich von einem Stück Fleisch spräche, das in der Hitze verfault. Also in diesem Sinne bin ich zerstört, weil das Gehirnleben in der Hitze auch verfaulen kann ... He, he, he ... Und weil ich zerstört bin, so bitte ich Sie, mich zu erlösen. Sie glauben natürlich, daß ich Fieber habe, ich selbst dachte an ein körperliches Fieber, das ich einer früheren Pleuritis zugeschrieben habe. Aber mein Fieber ist kein physisches; ich kann doch logisch sprechen, und ein Mann, der Fieber hat, wirkliches Fieber, der kann es nicht. Nicht wahr? Also sehen Sie, Sie werden mich von den Menschen erlösen, die mich lieben. Und jeder Mensch, der mich liebt, ist mein Feind. Die Menschen, die mich lieben, quälen mich so entsetzlich. Ich muß lügen, beständig lügen, um nicht die Qual der Enttäuschung bei ihnen zu sehen. Sie lieben mich, weil sie glauben, daß ich groß bin, aber ich bin eine Laus. Kann ich ihnen das sagen? Sie glauben nicht an meine Wahrheit. Und daher kommt meine Scham und meine Verzweiflung. Hab ich Jemandem verwehrt, gut zu sein? Aber man erlaubt mir nicht, böse zu sein, und ich bin böse und feig. Kein Mensch hat mich so gequält wie Olga. Sie glaubte nicht, daß ich Sie aus Feigheit loswerden wollte, und als ich anfing, offen zu werden, da sah ich diese furchtbare Qual in ihren Augen ... Aber warum lachen Sie? schrie er wütend auf.

Aber Czerski lachte nicht.

– Ich lache nicht. Ich verstehe nur nicht, was Sie von mir wollen. Sie sind übertrieben offen und ich weiß nicht, was Sie damit bezwecken.

– Was ich damit bezwecke? Gott, sind Sie naiv! Ich will Sie natürlich in die Irre führen, ich will mit meiner Offenheit Sie zu meinen Gunsten umstimmen. Ich bin offen, weil es ein Vergnügen ist, sich der Sünden zu bezichtigen, die man nicht hat, um nur andere und tausendmal schlimmere zu verdecken ... Ha, ha, ha – daß Sie das nicht verstehen!

Czerski lächelte, aber in seinem Lächeln war ein solcher Schmerz, daß Falk unwillkürlich sein Lachen abbrach.

– Das ist ja nur Geschwätz, nichts weiter, ein leeres Geschwätz. Mich werden Sie nicht in die Irre führen ... Übrigens hab ich Janina und Sie und Ihre Frau ganz vergessen – ich habe gestern eigentlich nicht das gemeint, was ich sagte; ich war nur neugierig, was Sie sagen würden, und Sie haben Recht, ich wollte Sie beleidigen ...

Falk riß die Augen weit auf.

– Sie sind erstaunt über mich, Sie haben sich von mir eine andere Vorstellung gemacht – nun ja: was sollen wir darüber sprechen ... Ich habe das Alles vergessen ... Ich sehe Sie an, ich höre Ihre Sprache, ich fühle Ihre Verzweiflung, ich bedaure, daß Sie so zerrissen sind, und ich muß lachen über Sie und Ihren kleinen Schmerz, ebenso wie ich jetzt über mich und meinen kleinen Schmerz lachen muß ... Nun laufen Sie herum, ruhelos, zerrissen, und warum? Weil Sie in unangenehme sexuelle Konflikte kamen. Lieber Falk, es gibt einen ganz anderen Schmerz, den Sie nicht fühlen und den nur Derjenige fühlt, der mit dem ganzen All eins wurde, dem das ganze Sein mit einer Hölle von Schmerzen durch die Adern fließt ...

Er schwieg plötzlich.

– Ich weiß, sagte er nach einer langen Pause, daß für Euch der Begriff Menschheit nicht existiert. Eure Seele ist zu klein, um die ganze Welt zu fassen, Euer Herz schlägt nur für Eure Weiber und Eure Kinder, Ihr seid Spezialisten in der Liebe, ja, Spezialisten – jeder von Euch hat ein kleines, enges Spezialfach: der Eine hat die Familie, der Andere das Bordell. Und worin unterscheidet Ihr Euch von einander? Worin? Doch nur darin, daß der Eine es wagt, das Gesetz, das Eure kleine Liebe und Eure kleinen Begierden ordnet und regelt, zu überschreiten, der Andere nicht. Alles ist schmutzig und klein an Euch ... Worin erschöpft sich Euer Gesetzbuch? Du sollst nicht Deines Nächsten Weib begehren und Du sollst nicht Raubmord begehen. Wozu dient Eure Religion? Um Euch nach dem Leben der gesättigten Begierden im Jenseits einen ruhigen Verdauungsplatz zu sichern ... Was ist Eure Philosophie? ... Ich habe Euren Stirner und Nietzsche gelesen. Das ist Alles Lüge, Alles kleine Lüge. Das Hohe, das Mühsame wurde wegdisputiert, damit Eure Verdauung nicht gestört werde. Das Opfer wurde lächerlich gemacht, weil es so unendlich schwer ist, sich zu opfern, weil es so viel Kampf und Verzweiflung kostet. Ihr sagt: Ich! Aber was ist Euer Ich? Ist es nicht etwa ein Gegengift gegen das böse Gewissen? Euer Ich ist ja nur dazu da, damit Ihr das kleine Gesetz, das Eure kleinen Begierden regelt, überschreiten könnt ... Sie, Sie, Falk, Sie sind trotz Ihres selbstherrlichen Individualismus ein kleiner Mensch. Worin hat sich Ihr Leben erschöpft, wenn nicht in Ausschweifung und geschlechtlicher Begierde ... Nun, ich tue Ihnen Unrecht, Sie haben viel getan, aber war es nicht, weil Sie darin eine Art Sühne fanden, sagen Sie Falk, war es nicht, um das böse Gewissen zu beruhigen?

Er blieb fast drohend vor ihm stehen, setzte sich aber sofort wieder hin.

– Was gehen Sie mich eigentlich an. Ich habe mit Ihnen nichts zu tun. Ich sitze hier zehn Stunden und denke darüber, daß ich mit Euch Allen nichts mehr zu tun habe. Ich habe nichts Persönliches mehr an mir. Meine Seele hat sich geweitet, unendlich geweitet ... Ihr wißt natürlich nicht, was Menschheit ist, weil Euer verlogenes Gehirn, dies schmiegsame Instrument im Dienste Eurer Verdauung, von der Menschheit einen Begriff gemacht hat, ja einen Begriff, um ihn bequem zerlegen, zerfasern und wegdisputieren zu können. Ich kenne diesen Begriff nicht, aber ich kenne die Menschheit als die Wurzel meiner Seele, ich fühle sie mit jedem Schlag meines Herzens, als das Grundgefühl, daß das Opfer, das ich Millionen aus meinem Selbst bringe, etwas Andres ist, als das Kriechen und Schwitzen und Rennen hinter einem Weibe. Aber jetzt gehen Sie Falk, ich möchte vor meiner Abreise allein sein. Denken Sie nur daran, daß Sie ein kleiner Mensch sind, und Sie sollten doch einer der größten sein. Sie, ja, Sie; Sie sollten es geworden sein.

Falk fühlte sich tief erschüttert. Aber im selben Nu überkam ihn eine zynische Scham, daß er sich erschüttern ließ, es war ihm, als grinste sein Gehirn über seine Hilflosigkeit.

– Essen Sie Opium? fragte er halb unbewußt.

Czerski sah ihn ernst an.

– Ihr Gehirn ist schamlos, sagte er langsam und fast feierlich. Schamlos!

Falk duckte sich unter diesem Blick und diesen Worten. Er starrte Czerski beschämt an, er fühlte deutlich zwei Seelen sich an einander hochrecken.

– Ja, mein Gehirn ist schamlos.

Aber sofort gewann er seine Überlegenheit wieder. Die zynische Seele siegte. Er setzte sich zurecht, lächelte höhnisch und sagte:

– Es ist ja sehr schön, was Sie da sagten. Ihre Kritik unserer Gesellschaft war sehr gut, obwohl Sie über das, was Nietzsche in seinem »Zarathustra« sagt, nicht hinausgegangen sind, ja, der Nietzsche, den Sie so verachten.

Er schwieg einen Augenblick, um zu sehen wie das auf Czerski wirken würde.

Aber Czerski schien gar nicht auf ihn zu hören. Er drehte ihm den Rücken und sah zum Fenster hinaus.

Falk wunderte sich gar nicht darüber, er grübelte sogar nach, daß er sich nicht darüber erregte. Er wurde plötzlich traurig und ernst.

Als er wieder anfing zu sprechen, so war es nur, um sich sprechen zu hören.

– Sie haben Recht, mein Gehirn ist schamlos, weil es nicht begreifen kann, daß Ihr Gefühl »Menschheit« keine Ursachen hat, keine Ursachen, die nicht in irgend einem Erlebnis begründet wären. Aber so ist nun einmal mein Gehirn, es nimmt Ihren Seelenzustand unter die Lupe und analysiert ihn. Sie saßen im Gefängnis. Das Weib, das Sie liebten, hat Sie treulos vergessen. Ihre Einsamkeit, Ihre Erbitterung, Ihr Schmerz und Ihre Verzweiflung haben schließlich die selbstlose Entäußerung hervorgebracht. Ist nun etwa Ihre Menschheit nicht eine Lüge, eine große Lüge, um sich vor Verzweiflung zu retten, ist das nicht etwa eine Lüge, um den Schmerz zu brechen, der diese furchtbaren Qualen verursachte, eine Lüge Ihrer nach Ruhe und Erholung bedürftiger Physis? Sie sind nun glücklich mit Ihrer großen Lüge und ich bin unglücklich, weil meine Lüge klein ist. Aber was heißt groß? was klein? Mein Gott, mir sind die Begriffe verloren gegangen, ich urteile ja auch gewöhnlich nicht von einem logischen Standpunkt aus. Ich weiß ja sehr gut, daß die Seele sich nicht nach logischen Grundsätzen richtet ... Aber was ich doch nur sagen wollte? ... Ja, richtig ...

Czerski drehte sich plötzlich um.

– Wollen Sie Tee haben?

– Ja, geben Sie Tee, viel Tee ... Ja! Sie verurteilen mich, Sie nannten mich einen Schurken. Nicht wahr, Sie taten es? Weswegen nannten Sie mich so? Weil bei meinen Zerstörungen das Geschlecht ein Motiv war. Ich spreche Zerstörungen, weil der Fall mit Janina nicht der erste ist. Nein ...

Er trank hastig den Tee. Das Fieber fing an ihn zu beherrschen.

– Das Geschlecht war das Motiv. Gut! Aber – wieder verlor er den Gedankenfaden; er dachte lange nach, dann fuhr er plötzlich triumphierend auf.

– Sehen Sie sich Napoleon an. Er ist ja für alle solche Fälle ein klassisches Beispiel.

Sein Gesicht strahlte.

– Sie lächeln! Nein doch, ich will mich ja gar nicht mit Napoleon vergleichen. Ich wäge nur Motive gegen einander ab. Was waren seine Motive? ... He, he: die Einen sagen, er war wie das Gewitter, das die Luft reinigt. Aber es ist ein lächerlicher Vergleich. Daß das Gewitter reinigt, ist ja nur zufällig, wäre es das nicht, so müßten wir eine Vorsehung, eine prästabilierte Harmonie voraussetzen. He, he, ... das sind nur falsche Schlüsse. Geben Sie mir noch ein Glas Tee.

Napoleon mußte aber doch Motive haben. Nun: Ehrgeiz par exemple. Aber was ist Ehrgeiz? Sie glauben doch nicht, daß Ehrgeiz eine Tatsache ist ... aber – interessiert Sie das?

– Sprechen Sie nur, das scheint Sie zu beruhigen.

– Ja, Sie haben einen prachtvollen psychologischen Blick. Es beruhigt mich tatsächlich. Also Ehrgeiz ist etwas enorm Zusammengesetztes. Ein tausendfaches Kräfteparallelogramm, wenn Sie es so wollen. Es ist kein Grundtrieb wie es der Hunger und das Geschlecht ist. Es ist etwas, was aus den Grundtrieben sich entwickelt hat. Alle diese Motive haben die gemeinsame Wurzel in den Grundtrieben. Sie sind nur Ableitungen, Entwicklungs- und Differenzierungsphänomene ...

Falk lacht nervös auf.

– Also sehen Sie, sehen Sie: alle Gefühlsmotive haben biologisch und psychologisch denselben Wert, weil sie aus derselben Wurzel stammen. He, he ... das sind ja spezielle Theorien, sie brauchen ja gar nicht zu stimmen. Ich wollte Ihnen nur nachweisen, daß meine Handlungsmotive denen Napoleons im Werte durchaus nicht nachstehen.

In den meisten Fällen sind aber die Motive unbekannt, man weiß nicht, weswegen man dies oder jenes tut ... Nun ja ...

Falk hatte große Mühe sich zu konzentrieren. Er litt förmlich an Gedankenflucht.

Ja, also, die Motive, aus denen Napoleon zerstört hatte, können ja auch nur abgeleitete Geschlechtstriebe sein ... Nicht wahr? Das können wir als wahrscheinlich voraussetzen. Aber so werden Sie sagen, es ist ein großer Unterschied, eine Welt zu erobern und ein Mädchen unglücklich zu machen ... He, he, he, ... Sie machen mir also zum Vorwurf, daß ich ein zu kleiner Verbrecher bin? Denn um eine Welt zu erobern, muß man eine Welt zerstören, und ich habe nur ein paar Mädchen zerstört. Nun werden Sie natürlich sagen: Napoleon hat eine Welt glücklich gemacht. Aber in seinen Gedanken lag, weiß Gott, nicht die Absicht, eine Welt glücklich zu machen. Er tat Alles, weil er es tun mußte. In dem psychischen Tatbestande liegt gar nicht das Zweckbewußtsein. Dieses lügt erst nachträglich das Gehirn hinzu ...

– Aber Sie kämpfen ja mit Windmühlen. Glauben Sie, daß Napoleon für mich ein großer Mensch ist? Das ist er nur für Euch, weil er Euch gezeigt hat, mit welcher Rücksichtslosigkeit und Brutalität man verfahren darf, wenn es gilt seine Gier zu sättigen ...

Falk starrte ihn mit fiebernder Spannung an. Aber er faßte nicht, was der Andre sagte. Und plötzlich sah er Czerskis Gesicht, als hätte er es nie vorher gesehen!

– Sonderbar, sonderbar, murmelte er, Czerski unausgesetzt anstarrend.

Er rückte ganz nahe an Czerski heran und sprach ganz leise.

– Sehen Sie, Sie werden Verbrechen begehen, nein, nein! empören Sie sich nicht. – Verstehen Sie mich recht, ich meine das, was unsere Gesellschaft Verbrechen nennt. Ich kenne es. Ich habe es jetzt plötzlich gesehen. Ich glaubte, Sie seien krank, oder Sie äßen Opium, nun weiß ich es. Woher? Plötzlich. Urplötzlich. Alle politischen Verbrecher bekommen denselben Ausdruck. Ich habe Padlewski in Paris gesehen, Sie wissen, er hat den russischen Gesandten ermordet ... Ich habe ihn drei Stunden vorher gesehen ...

Falk setzte sich wieder hin. Es wurde ihm einen Augenblick ganz dunkel vor den Augen. Es ging aber sofort vorüber.

Wenn Sie morden werden, so haben Sie dazu natürlich Motive. Ja, ich weiß, Sie haben die große Liebe und das große Mitleid. Und worin stecken die Wurzeln Ihres großen Mitleids? Doch nur in der Gier, den Zweck, den Sie vor Augen haben zu realisieren. Inwiefern unterscheidet sich Ihre Gier von der meinigen? Ha, ha, Sie hören ja gar nicht darauf, was ich sage, Ihr Blick ist tausend Meilen von hier entfernt ... Ha, ha, Sie brauchen ja gar nicht darauf zu hören, aber sagen Sie nur, worin sich dann Ihr Verbrechen von dem meinigen unterscheiden wird? Dadurch, daß mein Verbrechen straflos bleibt, und Sie mit dem Tode bestraft werden. Aber ich habe die Qual, und Sie haben das Glück des Opfers, ja – des Opfers, schrie Falk auf.

Czerski schrak hoch.

– Was sagten Sie jetzt?

– Das Glück des Opfers haben Sie! Und ich habe die Qual.

Falk fiel erschöpft in den Stuhl zurück.

– Natürlich werden Sie sagen, ich habe das Alles von Nietzsche geholt. Aber das ist nicht wahr. Das, was Nietzsche sagt, ist so alt, wie das böse Gewissen alt ist ...

Er richtete sich wieder auf, sein Zustand grenzte an Ekstase.

– Sie sagten, daß Sie auf dies Alles spucken. Sagten Sie nicht so? Nun, ungefähr so. Und ich gebe Ihnen Recht! Dies mit dem Übermenschen ... Ha, ha, ha ... Nietzsche lehrt, daß es kein Gut und kein Böse gibt. Aber warum soll denn plötzlich der Übermensch besser sein, wie der letzte Mensch? Ha, ha, ha ... Warum ist der Verbrecher schöner als der Märtyrer, der aus Mitleid zu Grunde geht? Woher denn plötzlich die Wertung zwischen Schön und Häßlich? Warum? O, ich liebe die große leidende Schönheit, ich liebe die asketische Schönheit ... Ha, ha; ich liebte Janina vielleicht, weil sie so ungemein mager ist ... Was weiß ich? Alles ist Blödsinn! Ich spucke auf das Alles, ich spucke auf den Übermenschen und auf Napoleon, ich spucke auf mich und das ganze Leben ...

Er sah sich verwirrt um und wurde plötzlich sehr ernst, aber dann fing er wieder an zu reden, schnell, hastig; er überstürzte sich , es war ihm, als könnte er nicht genug sagen.

– Ich habe das Niemandem gesagt, was ich zu Ihnen sage. Ich bewundere Sie, ich liebe Sie. Wissen Sie, weshalb? Sie sind der Einzige, der aufgehört hatte, selbst zu sein ... Ja, Sie und Olga – ihr Beide. Ich liebe Euch Beide um Eurer Liebe willen. Und ich liebe die große Liebe. Das ist das einzige Gefühl, das ich liebe und bewundere. Hören Sie nicht, wie mein Herz schlägt, fühlen Sie nicht, wie meine Schläfen klopfen ... Aber um zu lieben, muß man Euren Glauben haben, ja, den Glauben, der keinen Zweck hat, nur Liebe, Liebe, Liebe ist!.. He, he, he ... Ich liebe, ich bewundere, ich krieche auf meinen Knien vor dieser Liebe, die der große Glaube ist. Es ist so sonderbar, daß gerade Ihr, Ihr Nivellierer, Ihr Mitleidigen die Übermenschen seid! Der Glaube, die Liebe macht Euch so gewaltig und so stark. Ich bin der Mensch auf dem Aussterbeetat. Ich bin der letzte Mensch. Sehen Sie: in dem polynesischen Archipel gibt es eine wunderbare Menschenrasse, die in dreißig, fünfzig Jahren nicht mehr existieren wird. Sie stirbt aus an der physischen Schwindsucht. Meine Rasse stirbt an der physischen Phthisis. Die Lunge des Gehirnes, der Glaube ist verfault, zerfressen ...

Falk fing plötzlich an zu lachen.

– Ha, ha, ha ... ich hatte einen Freund. Er war auch so ein Übermensch, wie ich. Er war nicht so stark wie ich, und so starb er an den Ausschweifungen. Als er gestorben war, ging ich in ein Café, um über den Tod nachzudenken, und mir klar zu machen, daß er wirklich gestorben sei. Ich traf dort einen dicken und fetten Mediziner, der mit uns zusammengeludert hatte. Ich sagte zu ihm: Gronski ist tot. Er dachte ein wenig nach. Dann sagte er: Das könnt ich mir denken. Warum? sagte ich. Man muß Prinzipien haben, war die Antwort. Grundsätze muß man haben. Hat man Grundsätze, so geht man nicht zu Grunde. Aber um Grundsätze zu haben, muß man glauben, glauben ...

Er richtete sich plötzlich auf, und blieb lange fast besinnungslos stehen.

– Es ist meine Verzweiflung, die durch mich spricht, sagte er endlich ... Sie haben Recht, Czerski – das ganze Leben, dies ekelhafte Leben des Wurmes, der im Mehl frißt, das Leben der kleinen Liebe ... Sie sind der Erste, den ich gesehen habe, der das weggeworfen hat, der das vergessen hat ... Für Sie gibt es nicht diese Gebote, um derentwillen ich leide, weil Sie zu groß sind dazu ...

Falk ergriff plötzlich seine Hand und küßte sie.

Czerski zuckte heftig auf und entriß ihm die Hand.

Falk sah ihn lange an, ohne ein Wort zu sagen, dann setzte er sich wieder hin. Es war ihm, als wäre das Fieber von ihm plötzlich gewichen. Er wußte auch nicht recht genau, was er gesagt oder getan hatte.

Czerski war ungewöhnlich blaß.

– Warum kamen Sie her?

Seine Stimme zitterte.

Falk sah ihn ruhig an. Sie sahen sich wohl eine Minute lang in die Augen.

– Ich schwöre Ihnen, sagte er endlich, daß ich aus keinen kleinen Motiven hergekommen bin.

– Ist es wahr?

– Ja, es ist wahr.

Czerski ging unsicher ein paar Mal auf und ab.

– Ich widerrufe alles Unangenehme, was ich Ihnen sagte – seine Stimme war sehr leise, er schien große Mühe zu haben, seine Erregung niederzukämpfen. Sie sind kein Schurke, Falk. Verzeihen Sie mir, daß ich Sie beleidigen wollte.

Er ging ans Fenster.

Es trat eine lange Pause ein.

Plötzlich drehte sich Czerski um.

– Ich kannte Sie nicht, sagte er hart, ich glaubte, Sie seien gewissenlos ... Ich habe an Janinas Bruder Alles geschrieben, weil ich ihm versprochen hatte, über sie zu wachen. Und ich habe jetzt an etwas Anderes zu denken.

– Sie haben an Stefan Kruk geschrieben?

– Ja.

Falk sah ihn teilnahmslos an.

– Hm, vielleicht haben Sie gut getan ... Aber jetzt leben Sie wohl Czerski. Ich freue mich, daß wir nicht als Feinde scheiden.

Er ging mechanisch herunter.


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