Stanislaw Przybyszewski
Homo Sapiens
Stanislaw Przybyszewski

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VII.

Marits ganzes Gesicht leuchtete vor Freude auf, als sie unter den Gästen des Herrn Landrats Falk erblickte.

Aber Falk hatte keine Eile sie zu begrüßen. Er stand mit dem jungen Arzt und war in ein Gespräch vertieft.

Und doch hatte er sie gesehen; sie hatte seinen spürenden Blick gemerkt.

Erst später begrüßte er sie kalt und steif im Vorbeigehen.

– Herr Gott, wo steckten sie so lange? – Herr Kauer schüttelte herzlich Falks Hand. Ich hätte so gerne vor meiner Abreise noch mit Ihnen gesprochen.

– Abreise?

– Ja, ich muß heut Nacht zu meiner Frau fahren und vertraue Marit ihrem Schutze an.

Der junge Arzt mischte sich in das Gespräch; er wollte absolut wissen, wie weit jetzt eigentlich die Forschung auf dem Gebiete der Nervenanatomie gediehen sei. Herr Falk sei doch Spezialist darin.

– Ja, damit habe er sich schon lange nicht mehr befaßt; jetzt sei er Literat und schreibe Romane. Aber einige Aufklärungen könne er ihm geben.

– Direkte Kontakte gebe es nicht? Ja, mein Gott, wie pflanze sich der Nervenstrom denn fort? Nein, das ist ja eine Revolution!

Marit saß in der Nähe; sie horchte gespannt hin, während sie der Frau Gerichtsrätin, die sie nach dem Wohlbefinden der Mama befragte, gleichgültig zerstreute Antworten zuwarf.

Worte, fremde, gelehrte Worte – Golgi ... Ramón und Cajal ... Kölliker ... granulöse Substanz ... arborisation terminale – flogen zu ihr herüber.

Nein, davon verstand sie kein Wort. Erik wußte alles.

Wie klein kam ihr der kluge Arzt vor, der auch alles wissen wollte und beständig mit seinem Wissen prahlte. Wie ein Schulbube stand er da.

Ein freudiger Stolz erfüllte sie mit heißem Jubel.

Der Mann liebte sie! Wie schön, wie herrlich er dastand! Sie erbebte heftig ...

Man setzte sich zu Tisch.

Das Gespräch wurde allmählich allgemeiner; man kam auf wichtige Tagesfragen.

Marit saß Falk gegenüber; sie suchte seinen Blick zu erhaschen, aber er wich immer aus.

Wollte er sie denn nicht sehen? Und doch hatte sie sich niemals so nach seinem Blick gesehnt.

Man sprach über die letzte Veröffentlichung der Ansiedlungskommission in der Provinz Posen.

– Nun, das könne er gar nicht verstehen – Falk sprach schnell und eindringlich. Man dürfe ihm nicht vorwerfen, daß er mit den Polen kokettiere; durchaus nicht; aber er verstehe es einmal nicht. Man solle ihm nämlich den Widerspruch klar machen. Auf der einen Seite fühle sich Preußen als die mächtigste Nation Europas, nicht wahr? Ja, das werde in jeder offiziellen Rede betont, und man spreche in den offiziellen Kreisen doch sehr viel! Wie reime sich das nun damit zusammen, daß die Preußen so ungeheuer die lächerlichen drei bis vier Millionen Polen fürchten? Ja, fürchten! Man verbiete doch die polnische Sprache in den Schulen; man unterdrücke, wo man könne, das polnische Element; mache absichtlich einen großen Teil der eigenen Untertanen zu Idioten und Kretins, denn er wisse aus eigener Beobachtung, daß die Kinder polnisch vergessen und ein gräßliches Idiom annehmen, das überhaupt keine Sprache sei. Man kaufe die Güter an, parzelliere, zerstückele sie, siedle überall arme und meistens faule deutsche Kolonisten an, die niemals im Stande seien, die sprichwörtliche Kraft des polnischen Bauern zu ersetzen. Die Kolonisten kämen schließlich ganz und gar in Armut, obwohl man ihnen die denkbar größten Erleichterungen mache. Der Rassenhaß werde geweckt. Warum tue man das alles? – Ist es wirklich Furcht?

– Nein, das verlange das Interesse des Reiches, die Sicherheit des Landes; die Polen seien wie Würmer, die überall hineinkröchen und das starke germanische Element zersetzen – warf der Landrat ein, der ein Mitglied der Kommission war.

– Gut, schön; dann aber solle man die dumme Phrase von der Macht und Stärke des preußischen Staatsbewußtseins und dergleichen mehr aufgeben und einfach sagen: Wir sind ein schwacher Staat, wir sind kein Staat, ein Haufen Polen genügt, uns zu polonisieren und schließlich, aus dem polonisierten Preußen ein glorreiches polnisches Reich zu machen und darum sind wir genötigt, die Polen auszurotten.

Falk wurde erregt.

– Gut, das verstehe ich: wir sind keine Nation, wir wollen eine werden, und diesen Zweck heiligt die Geschichte. Dann müßte man sagen: Ob moralisch oder nicht, das ist uns gleichgültig, die Geschichte kennt keine Moral. Ja, so sollten wir sagen, meine Herrn, ganz frech, und dann sollten wir kaltlächelnd das Resumé ziehen: Wir sind eine in drei Kriegen zusammengetrommelte Nation, wir sind eine aus der Kriegsbeute zusammengewürfelte Nation, das heißt keine Nation.

– Das Resumé sei ganz falsch, unterbrach der Herr Kreisphysikus – er schien sehr aufgebracht – ganz, ganz falsch. Die Preußen hätten nur mit einem sehr unruhigen und unzufriednen Elemente zu tun. In Polen könne es jeden Tag zu neuen Wirren kommen; ganz Deutschland, die ganze Reichseinheit könne dann in Frage kommen denn die Sozialdemokraten lauerten ja bloß auf eine günstige Gelegenheit.

– Nein, was Sie sagen, Herr Kreisphysikus! Wollen Sie denn, Sie, den Polen ein Waffendepot einrichten? Oder glauben Sie etwa, daß der Reichslieferant Herr Isidor Löwe von den Polen Bestellungen annehmen wird? Na, er hat sich allerdings auch den Franzosen angeboten; aber die Polen sind nicht kreditfähig, da liegt der Hund begraben. Und ich bitte Sie: drei preußische Kanonen würden genügen, das mit Heugabeln, Sensen und Jagdgewehren bewaffnete polnische Heer in fünf Minuten von der Erde wegzublasen.

Diese ganze Politik, grade diese kleinliche, heuchlerische Angstpolitik ist übrigens psychologisch ganz roh. Sehen Sie sich nur in Galizien um. Da haben die Polen ihre Schulen, ja sogar Universitäten mit polnischer Unterrichtssprache, ganz wunderbare, papstgetreue Universitäten, die nach dem Spruch geleitet werden, daß die Wissenschaft die ergebenste Magd der Kirche sei. Das ist gewiß schön, und ein schöner Anblick ist es, wenn die Professoren in ganz wunderbarer Amtstracht in die Kirche gehen. Man hat den Polen auch erlaubt, in schöner, oh, sehr schöner Nationaltracht den polnischen Landtag zu besuchen. Niemals habe ich schönere und schöner gekleidete Menschen gesehen, wie auf dem Landtag in Lemberg.

Die Konsequenz, meine Herren: Die Polen sind ausgezeichnete, österreichische Untertanen. Geduldig, schmiegsam, sanft, die wahren Gotteslämmer. Haben Sie jemals von Unruhen gehört, die in Galizien durch Polen angestiftet wären? Nein, im Gegenteil: überall wos gilt, einer Reichshydra die Köpfe abzusengen, da bedient man sich mit Vorliebe der Polen, und sie sind auch immer »frisch« wie Schiller sagt »zur Hand«.

– Ob Falk denn gar nichts von der Tschechenpolitik gelernt habe, fragte erregt der Landgerichtsrat, der auch ein Mitglied der Ansiedlungskommission war.

– Ja, er habe sehr viel gelernt und wisse daher, daß diese Politik ganz anders sei und nichts mit der soeben besprochenen zu tun habe. Die ganze Tschechenpolitik sei nämlich eine Politik ökonomischer Interessen. Daß die Deutschen in Österreich so viel Plage mit den Tschechen haben, komme daher, daß die tschechische Industrie in einem wunderbaren Aufschwung begriffen sei. Sie suche nach einem möglichst weiten Absatzgebiet, müsse demgemäß die Deutschen überall verdrängen, denn es sei ja klar: tschechische Produzenten, tschechische Konsumenten! Auch die Deutschen gingen zu deutschen Produzenten.

– Dann also, warf Herr Kauer ein, würde die Geschichte sich so darstellen, daß die Preußen tschechische Politik treiben. Die Preußen können ja neben dem patriotischen ein vorwiegend ökonomisches Interesse daran haben, daß sie die Polen unterdrücken.

– Bien, gut, sehr gut! Dann aber ist die ganze – ich will nun annehmen – Interessenpolitik noch viel dümmer als die Angstpolitik.

Ich bitte Sie: Die deutsche Industrie will sich in der Provinz Posen ein Absatzgebiet schaffen. Nun kommt die Ansiedlungskommission, kauft die Güter an, die Gutsbesitzer zerstreuen sich natürlich in alle Winde, und die eigentliche Kaufkraft ist gelähmt. Die Güter werden zerstückelt und mit armen Kolonisten besetzt, die überhaupt nichts konsumieren können, denn was sie nötig haben, produzieren sie selbst. Wer soll nun konsumieren?

Die polnische Industrie, die keine ist, weil sie völlig zerstört wird dadurch, daß man ihr die eigentlichen Konsumenten entzogen hat, liegt brach; die deutsche Industrie hat nicht den geringsten Nutzen; was bleibt, meine Herren? Blödsinn bleibt, ein unerhörter Blödsinn. Empören Sie sich nicht, meine Herrschaften; aber ist es etwa nicht blödsinnig, mit ganzer Kraft dafür zu sorgen, daß ein großes Stück Land, eigenes Land, verarmt?!

Falk wurde noch erregter. Sein Blick streifte das glühende Gesicht Marits, die jedes seiner Worte zu verschlingen schien.

– Ja, die ganze Politik – Falk zerbrach nervös ein Stückchen Brot in Krümelchen und ordnete sie mechanisch zu Reihen – diese ganze preußische Politik, meine Herrschaften, ist für mich aus psychologischen und sozialpolitischen Gründen völlig unbegreiflich. Oder, nun, sie ließe sich vielleicht begreifen etwa wie ich eine dumme und daher verfehlte Börsenspekulation begreifen kann. Aber eine Polenpolitik find ich wirklich völlig unbegreiflich – völlig, meine Herrschaften –: die Vatikanische!

Wieder streifte sein Auge flüchtig Marits Gesicht.

Bitte, Hochwürden, keine Besorgnis! Sie werden völlig einig mit mir sein. Nein wirklich, bitte: fällt mir nicht im Traume ein, irgend ein religiöses Thema anzurühren, nicht eine einzige Frage, in der ein Papst unfehlbar ist. Ich werde lediglich von Politik zu sprechen haben, und in der Politik soll ja auch Papst Leo nicht unfehlbar sein. Nicht wahr, Nein? Also nein.

Ich habe den Papst Leo gesehen, Leo den Dreizehnten, in Rom. Er ist der schönste alte Herr, den ich mir denken kann. Er hat ein unglaublich feines, aristokratisches Gesicht und sehr feine weiße Hände, er macht auch gute Gedichte. Oh ja: sie sind in echtem Ciceronianischen Latein verfaßt. Gewisse nach Ambrosianischem Küchenlatein schmeckende Wendungen sollen durchaus nicht ihren Wert beeinträchtigen; sagten mir wenigstens die Philologen.

Nun hat Papst Leo die gewiß sehr schöne Eigenschaft, sich als geborenen Beschützer sämtlicher Unterdrückten zu fühlen. Die Polen stehen seinem Herzen wohl am nächsten; denn sie werden am meisten unterdrückt. Aber ich kann mir das Erstaunen der Polen denken; hören Sie nur! Als Bismarck so ein paar tausend polnische Familien aus Preußen vertrieben hatte, bekam er den höchsten päpstlichen Orden; ja, der Christusorden ist sehr schön, und auch sehr wertvoll. Nun weiter! Kaum ist die Kunde von den wahnsinnigen Morden verklungen, welche die Russen, mit Zustimmung der russischen Regierung, an den polnischen Uniten in KrozeAnm. des Verfassers. Kroze, ein Ort in Russisch-Polen, der Ende des Jahres 1893 Schauplatz der wüstesten Barbareien gewesen ist, und zwar weil die Einwohner sich sträubten ihre unierte Kirche an den Staat für den staatlich religiösen Kultus abzutreten. Nach absolut authentischen Berichten wurden acht Menschen totgepeitscht, 40 durch das Peitschen tödlich verwundet, 18 Frauen wurden vergewaltigt, darunter ein 12 jähriges Mädchen, das von 4 Kosaken schließlich zu Tode gemartert wurde. begangen hatten – übrigens Morde, die sich jeden Tag in Litauen wiederholen, – so erläßt der Papst eine Enzyklika an die Bischöfe Polens, in der er das große Wohlwollen des Zarats mit vielem Lobe preist –ja, bitte sehr, es steht ausdrücklich da, der Zar sei von dem innigsten Wohlwollen gegen die Polen erfüllt, er wolle nur ihr Bestes.

Nein, Hochwürden, nehmen Sies nicht übel, aber es gefiel mir gar nicht als Sie in Ihrer letzten Predigt beweisen wollten, daß der Papst von neuem sein väterliches Herze für die Unterdrückten in unerhörtem Glanz erstrahlen ließ.

Das ist oberflächliche Schätzung; die Sache hängt ganz anders zusammen. Der Papst ist durch die Franzosen bestimmt, mit denen er sehr sympathisiert; ja, Er ist durch die Franzosenpolitik veranlaßt, fortwährend mit den Russen zu kokettieren. In der ganzen Enzyklika, die ich sehr aufmerksam durchgelesen habe, finde ich kein väterliches Herze, im Gegenteil recht rohe vatikanische Interessen. Und da ich der katholischen Kirchengemeinde angehöre, so schmerzt es mich aufs tiefste, daß die Kirchenpolitik so unschön, ja – ich will mich reserviert ausdrücken – unschön, heuchlerisch ist und Deckmäntelchen von Glaube, Hoffnung, Liebe für sehr irdische Interessen braucht.

Alle Anwesenden sahen sich an. Sie wußten nicht, was sie dazu sagen sollten. Das war doch unerhört kühn gesprochen in Gegenwart des Klosterpfarrers. Aller Augen richteten sich abwechselnd auf Falk und den Pfarrer.

Marit hatte klopfenden Herzens zugehört; den Mund halb offen, stockenden Atems, saß sie da und erwartete die Explosion.

Der Pfarrer war ganz bleich.

– Wissen Sie, junger Mensch: Sie sind viel zu jung, um die wichtigsten kirchlichen Fragen mit Ihrem Verstande, der von der Häresie des Auslandes angesteckt ist, zu lösen, und noch viel weniger sind Sie berechtigt darüber zu höhnen.

Falk verlor nicht einen Augenblick seine Ruhe.

– Ja, Hochwürden, es ist sehr schön, was Sie da sagen. Mich geht es auch am Ende gar nichts an, was Sie oder der Papst oder die deutsche Regierung treiben; das ist mir völlig gleichgültig. Aber ich erlaube mir daran zu zweifeln, ob die Kirche wirklich die ganze Weltweisheit von der Vorsehung in Pacht genommen hat. Ich erlaube mir tatsächlich ganz hervorragend daran zu zweifeln. Sie hat sich ja neulich in der Frage des Darwinismus oder vielmehr in dem Streit um das Evolutionsprinzip ganz unsterblich blamiert.

Und dann, ja: können Sie mir sagen, auf welchem Konzil die Unfehlbarkeit des Papstes in Dingen der Politik proklamiert worden ist?

Ja, ja; ich weiß sehr gut, daß nach der Tradition auch diese Art Unfehlbarkeit besteht, aber ich dächte, daß die päpstliche Nepotenwirtschaft im Mittelalter nicht grade die beste Empfehlung für diese Art Unfehlbarkeit sein dürfte.

Übrigens ist das ein Thema, das zu erregten Diskussionen führen könnte, und das möchte ich um jeden Preis verhüten; man versteht sich oder man versteht sich nicht, und der Gesellschaft irgendwelche Suggestionen aufzudrängen fühle ich mich nicht berufen.

Es wurde still; nur der Redakteur des Kreisblattes, der im Gerüche sozialdemokratischer Ideen stand, schien sehr froh zu sein.

Er wollte Falk durchaus noch weiter treiben: der Mann nahm ja kein Blatt vor den Mund; der sprach, wie ihm der Schnabel gewachsen war.

– Ja, sagen Sie, Herr Falk, Sie sind ein Ultrarevolutionär, wie ich sehe. Sie leben nun in einem monarchischen Staate. Selbstverständlich sind Sie mit einem solchen Zustand nicht zufrieden. Was sagen Sie zu einer monarchischen Staatsverfassung?

Der Redakteur freute sich schon darauf, seine Ideen vor den reaktionären Elementen bestätigt zu finden.

– Hm; wissen Sie, Herr Redakteur, Sie stellen mir da eine verfängliche Frage. Ich war einmal in Helsingborg, und zwar mit einem Freunde, der ein Anarchist, zugleich aber auch ein großer Künstler ist. Wir standen auf dem Trajektschiff und sahen auf ein prächtiges, altertümliches Schloß, das schon Shakespeare im Hamlet erwähnt.

Wissen Sie, was mein Freund, der Anarchist, sagte? Ja, er sagte, daß das, was er nun sagen wolle, mich gewiß sehr befremden werde, aber er müsse zugestehen, daß derartige Prachtwerke nur unter einer monarchischen Herrschaft möglich seien. Ja, ganz gewiß; sehn Sie sich doch nur die Herrschaft der Bourbonen in Frankreich an, und vergleichen Sie damit die Herrschaft der ersten Republik. Sehn Sie sich das zweite Kaiserreich und die unendlich reichen Kunsttraditionen an, die in ihm entstanden sind und die nur in dem Glanze, der Verschwendung und der Wollust eines königlichen Hofes gedeihen können. Nun haben Sie hier in Preußen einen Friedrich Wilhelm den IV., in Bayern einen Maximilian und einen Ludwig. Nehmen Sie zur Hand die Kunstgeschichte, ja die Geschichte der Artverfeinerung, der Veredelung des Menschengeschlechtes, und Sie werden selbst entscheiden können.

Nein, ich will keine Demokratie; sie verflacht und verpöbelt die Menschheit, macht sie roh und lenkt sie in bornierte Interessenwirtschaft. Da kommen die Krämer zur Herrschaft, die Kleone, die Gerber und Bauern, die alles hassen, was schön ist, was hoch steht. Nein, ich will nicht die Plebejerinstinkte gegen alles Höhergeartete entfesselt wissen.

Die ganze Gesellschaft schien auf einen Schlag mit Falk ausgesöhnt zu sein. Aber nun kam der Rückschlag.

Er sympathisiere trotzdem mit allen revolutionären Ideen. Ja, das tue er wirklich. Selbst sei er nicht tätig; dazu interessiere ihn das Leben viel zu wenig. Er sehe nur zu und verfolge die Entwicklung, etwa wie ein Astronom in dem Okular seines Teleskopes die Bahn eines Sternes verfolge.

Ja, er sympathisiere wirklich mit den Sozialdemokraten. Er habe nämlich einen Glauben, der auf folgenden Prämissen beruhe. Die postulierte ökonomische Gleichheit sei durchaus nicht mit einer Gleichheit der Intelligenzen zu verwechseln. Er sei nun überzeugt, daß in einem Zukunftsverbande der Menschen sich eine Oligarchie der Intelligenzen ausbilden werde, die nach und nach zur Herrschaft gelangen müsse. Dann werde freilich der Lauf der Dinge von Neuem seinen Anfang nehmen; aber er hoffe, daß eine solche Herrschaft ein besserer Anfang sei, als der der jetzigen Kulturepoche, die mit wilder Barbarei begonnen habe.

Die herrschende Klasse sei verarmt, durch Inzucht und übergroße Verfeinerung entartet. Die Gefahr einer rohen, ekelhaften Parvenuherrschaft, der Herrschaft von Geldprotzen und unsaubern Händen, stehe bevor. Nein, tausendmal nein: das möchte er nicht erleben. Lieber stürzen! er sei mit Freuden dabei.

Der Redakteur erholte sich, er schien zufrieden gestellt.

– Nur noch eine Frage ... Was Falk wohl zu der jetzigen Regierung meine?

– Die jetzige Regierung sei der Kaiser, und für den Kaiser habe er viel Sympathie. Ja, wirklich; er gefalle ihm außerordentlich. Er habe neulich den Hauptmann der Brandmannschaften urplötzlich zum Oberbrandmeister ernannt. Und warum? Weil er den Schloßplatz bei einer Parade so vorzüglich abgesperrt hatte. Die Ernennung sei nicht nach den bürokratischen Prinzipien ausgefallen; aber darin liege eben das Schöne, die Willkür, die große Seele. Kurz alles was so ungemein zu schätzen sei: Nein, er habe wirklich sehr viel Sympathie für den Kaiser, und er trinke auf das Wohl des deutschen Kaisers!

Die Anwesenden sahen sich verdutzt an. Aber alle erhoben sich und stimmten in den Trinkspruch ein.

Der sozialdemokratisch angehauchte Redakteur glaubte unter den Tisch fallen zu sollen; aber er begnügte sich mit einem nichtssagenden Grinsen.

Die Tafel wurde abgebrochen.

Falk fühlte instinktiv zwei brennende Augen auf sich gerichtet. Er sah nach der Seite und traf Marits Blick der bewundernd an ihm hing.

Sie schlug die Augen zu Boden.

Falk ging auf sie zu. Sie waren sich ganz nahe; sie wurden durch die vielen Menschen die sich aus dem Speisezimmer drängten, vorgeschoben und eng an einander gepreßt.

Falk überrieselte ein warmer Strom.

– Erik, Sie sind ein herrlicher ... ein großer Mensch ... Eine dunkle Flutwelle färbte ihr Gesicht.

Falk sah sie heiß an. Ein Glanz von Stolz und Liebe verklärte ihre Züge.

– Sie sind ja ein Teufelskerl! kam Herr Kauer an. Das nenn ich männlich sprechen! Unser Einer möchte wohl auch mal dies und jenes sagen, aber wir wagen es nicht. Verderben Sie mir nur das Mädchen nicht; so revolutionär dürfen Sie zu ihr nicht sprechen. Falk wollte etwas einwenden.

– Nun, nun, begütigte Herr Kauer, ich habe zu Ihnen unbedingtes Vertrauen; Sie haben das Herz auf der Zunge. Leben Sie mir wohl. In einer Woche bin ich zurück. Sie dürfen mir nicht wegfahren, verstehen Sie?

Herr Kauer ging.

– Oh, wie Sie herrlich gesprochen haben ... Sie glauben gar nicht ... Marit sah Falk voll Bewunderung an.

– Oh nein, Fräulein Marit, das war gar nicht herrlich gesprochen; gegen jeden dieser Sätze ließen sich tausend Einwände machen. Aber das mag wohl gut sein für die Herren, die ihre Weisheit aus dem Kreisblatt schöpfen und höchstens noch aus irgend einer konservativen Zeitung, die nur Gott und den Kaiser im Munde führt. Übrigens das vom Papste fanden Sie auch gut gesprochen?

Marit beeilte sich zu antworten.

– Ja gewiß; sie habe jetzt viel, sehr viel über alle diese Sachen nachgedacht, und sie müsse ihm völlig Recht geben. Ja, er habe in den meisten Dingen Recht, das habe sie nun eingesehen.

Falk sah sie verwundert an. Darauf war er nicht gefaßt gewesen. Das war wirklich eine merkwürdige Metamorphose.

– Warum sind Sie diese ganzen zwei Tage lang nicht gekommen? Ich habe Sie fortwährend erwartet und mich unerhört gequält. Ja, ich habe mich sehr gequält, das muß ich Ihnen offen sagen.

– Liebes, gutes, gnädiges Fräulein, das werden Sie wohl am besten wissen. Ich wollte einfach die Ruhe Ihres Gewissens nicht stören. Ja, und dann, wissen Sie, bin ich sehr nervös und darf mich nicht allzusehr der süßen Qual hingeben, sonst könnte der Strang reißen.

Falk lächelte.

Inzwischen gesellte sich zu Ihnen der Redakteur. Er konnte den Trinkspruch auf den deutschen Kaiser nicht verdauen und wollte nun Falk aufs Glatteis führen.

– Er möchte doch wissen, wie Herr Falk sich zu den anarchistischen Mordtaten stelle. Er sei doch ein Seelenkenner, ein Psychologe; wie wolle er die erklären?

– Ja, Sie sind sehr wißbegierig, Herr Redakteur. Sie verlangen wohl nicht von mir, daß ich hier mein politisches Credo ablege; aber wir können ja die Dinge von einer Vogelperspektive aus betrachten.

Ich begreife die anarchistische Propaganda der Tat, denn um diese handelt sichs ja hier, sehr gut; ich begreife sie als eine unerhörte Empörung gegen die soziale Gerechtigkeit.

Ja, wir Satten, wir, die das Privileg haben, nichts zu arbeiten oder wenigstens uns eine Arbeit auszusuchen, die uns ein Genuß ist, wir nennen es Gerechtigkeit, wenn unsere Brüder in Christo um vier oder fünf Uhr Morgens aufstehen müssen, zwölf Stunden ununterbrochen tagelöhnern, uns Privilegierte bedienen. Nun, ich brauche Ihnen wohl nicht aufzuzählen, welche Dinge wir als sozial gerecht ansehen. Aber Sie müssen begreifen, daß es Menschen gibt, die sich damit nicht aussöhnen können, die sich gegen eine solche Gerechtigkeit in naiver Wut auflehnen. Nun, die Wut kann, wenn sie durch gewisse Umstände noch begünstigt wird, wie z. B. vergebliches Suchen nach Arbeit, also Arbeitslosigkeit, oder Hunger oder Krankheit, sich zu einer Höhe steigern, daß sie geradezu in Wahnsinn umkippt.

Und nun nehmen Sie einen Menschen, der Tag aus, Tag ein sich solche Beispiele unerhörter sozialer Grausamkeit ansieht, nehmen Sie einen Menschen, der Zeuge ist, wie die Arbeiter bei einem Streikaufruhr wie Hunde totgeschossen, wie sie durch gewaltige Kapitalien ausgehungert und in ihrem berechtigten Widerstand lahmgelegt werden: glauben Sie nicht, daß solche Beispiele dieser unseren sozialen Gerechtigkeit genügen, um bei einem Menschen, der ein starkes Herz hat, eine Rachsucht zu erzeugen, die sich blindlings an dem ersten besten von den sozial Privilegierten sättigen will – sättigen muß?!

Unser Herz ist abgestumpft, mein Herr; unser Herz ist schwach und borniert, wie unsere Interessen es sind; es hat Auge und Ohr nur für unsre eignen kleinlichen Zustände. Aber nehmen Sie einen Menschen, der stark und überschwenglich und kindlich genug ist, um sich als eine ganze Welt zu fühlen – ja nehmen sie beispielsweise jenen Henry: was hat ihn zu seinen Mordtaten getrieben?

Ein Herz, ein großes Herz, dessen Macht wir abgestumpften, kleinen Egoisten nicht begreifen können! ein Herz, das mit furchtbarer Resonanz auf all den Jammer, all die Ohnmacht ringsherum antwortete!

Er wurde zum Verbrecher, freilich; aber er war kein gewöhnlicher Verbrecher. Er war Verbrecher aus Empörung, ein Entrüstungsverbrecher. Das ist ein großer Unterschied. Im Effekt natürlich kommt es auf dasselbe hinaus; aber wir sind doch wohl in unserer Urteilskraft schon so weit vorgeschritten, daß wir nicht nach dem Erfolg, sondern nach Motiven Kategorien zu bilden anfangen können.

Um Falk herum hatte sich eine Gruppe gebildet, die aufmerksam zuhörte.

Der Redakteur hielt jetzt die Gelegenheit für günstig, Falk vor den reaktionären Elementen bloßzustellen.

– Sie entschuldigen also die anarchistischen Mordtaten vollkommen ... Der Redakteur grinste schadenfroh ... Sie hätten also Henry ohne weiteres begnadigt?

Falk überflog die um ihn stehenden Menschen mit den Augen und sagte sehr ruhig.

– Nein, das hätte ich nicht getan. Ich gehöre selbst zu den Privilegierten, riskiere also im nächsten Augenblick bei einer Explosion in die Luft zu fliegen, befinde mich also in einer Art Notwehr, die den Tod Henrys unerläßlich macht. Gleichzeitig aber sage ich mir: von meinem Standpunkt habe ich Recht, aber Henry hatte von seinem aus Recht. Er ging durch die soziale Gerechtigkeit oder vielmehr soziale Willkür zu Grunde, die allein Macht und Recht gibt. Sie werden sich wohl aber denken können, daß die soziale Willkür sich ebenso gut auf Henrys Seite stellen könnte, und dann würde Henry als ein großer Held gepriesen werden. Nehmen Sie z. B. einen Krieg: ist er nicht ein gewaltiger Massenmord? Aber im Kriege zu morden, ist – süß und ehrenvoll, wie jener Römer singt.

Na ja; das gehört nicht zur Sache. Aber ich bitte Sie, mich nicht mißzuverstehen. Wir sehen die Dinge von einer Vogelperspektive aus. Ich sage nur: ich kann eine solche Empörung verstehen.

Wir haben nämlich alle die psychischen Keime in uns, aus denen sich nachher die intensivsten Formen von Mord, Raub, u. s. w. entwickeln können. Daß sie es nicht tun, ist reiner Zufall. Übrigens glaube ich, daß wir solche Empörung alle verstehen können. Wie oft hat nicht ein jeder von uns sich diesem Gefühl schon hingegeben!

Falks scharfe Augen entdeckten den Direktor, der etwas abseits stand.

– Sehen Sie, meine Herrn, ich ging z. B. vorgestern in meiner Empörung so weit, daß ich der so hochgeschätzten, so wohlverdienten Person des Herrn Direktors Ohrfeigen angeboten habe.

Die Umstehenden sahen sich unwillkürlich mit diskretem Lächeln nach dem Direktor um.

– Ja, ich bereue es aufrichtig; aber im Momente einer intensiven Gefühlsaufwallung habe ich es getan.

Weswegen? – Ja, meine Herrn, wenn man über die Schriften eines Mannes empört ist, so geht man wahrhaftig nicht in die Schule und läßt seinem Grimm vor dummen Knaben in etwas unzivilisierten Ausdrücken freien Lauf.

Nein, das tut ein Gentleman nicht. Vielleicht ist das hier zu Lande Sitte, aber ich bin an europäische Sitten gewöhnt.

Ja richtig, Herr Redakteur: Sie haben Recht, wenn Sie mich an das Resumé erinnern.

Das Resumé? Hm, ja, das Resumé. Ich begreife den Anarchismus als Propaganda der Tat, ich kann ihn mir erklären. Ich kann alle psychischen Bestandteile, aus denen sich die Idee eines politischen Mordes entwickelt, einen nach dem andern prüfen, zerlegen, verstehen, ebenso wie ich die Affektformen verstehen, zerlegen und betrachten kann, die in ihrer gesteigerten Intensität zum gewöhnlichen Wahnsinn werden, zu einer Manie, einer Melancholie u. s. w. u. s. w.

Nein, mit Falk ließ sich nichts anfangen; er war glatt wie ein Aal.

Der Redakteur entfernte sich beschämt.

Marit stand die ganze Zeit an Eriks Seite.

Sie fühlte sich ihm so nahe; so nahe. Sie war glücklich und stolz. Er wandte sich so oft an sie, sprach beinahe zu ihr.

Ja, er hatte das schöne, große, herrliche Herz von dem er sprach. Er hatte das stolze Herz der Empörung und des Mutes: vor einer ganzen Welt bekennt er offen und mutig, was er denkt!

Und wie schön er war in dieser Atmosphäre dicker, dummer Menschen. Wie herrlich sein geistvolles Gesicht und die feinen, diskreten Gebärden, mit denen er seine Worte begleitete.

Ein mächtiges Jubelgefühl erfüllte ihre ganze Seele, das Gefühl einer grenzenlosen Hingebung. Sie zitterte, und ihr Gesicht färbte sich purpurrot.

Falk verschwand auf einen Augenblick.

Wollen wir nicht gehen? flüsterte er Marit ins Ohr, als er zurückkam.

Marit erhob sich.

Es war Sitte hier im Hause, ohne die üblichen Abschiedsformeln zu gehen. Der Landrat war nervös und liebte es, wenn die Menschen gingen und kamen, ohne ein Wort zu sagen.


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