Stanislaw Przybyszewski
Homo Sapiens
Stanislaw Przybyszewski

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VIII.

Sie traten vor die Tür.

– Soll ich eine Droschke holen?

– Nein, nein; gehen wir!

Das war doch sehr rücksichtslos von Mikita. Er versprach ihr doch ganz sicher, daß er kommen würde. Warum war er nicht gekommen? Worauf war er denn wieder eifersüchtig? Nein, es war doch zu langweilig. Sie litt darunter. Sie fühlte sich wie gebunden. Sie wagte ja kaum mit einem Menschen zu sprechen. Fortwährend fühlte sie seine lauernden Augen auf sich ruhen.

Und die Geschichte in Frankfurt! Nein, er ging doch zu weit, er quälte sie zu viel. Konnte er denn nicht die Freude verstehen, plötzlich in einer fremden Stadt einen Landsmann zu finden? Aber er ging ins Nebenzimmer und schrieb Briefe, um seine Wut zu verbergen.

Sie gingen durch den Tiergarten.

Die laue Märzluft beruhigte sie allmählich.

Jetzt wird er ihr selbstverständlich übel nehmen, daß sie ihn nicht Stunden lang bei Iltis erwartet hatte.

– Können Sie begreifen, Herr Falk, warum Mikita nicht gekommen ist?

– Oh, er wird wohl wieder seine Launen haben ...

Im nächsten Augenblick schämte sich Falk ...

– Er quält sich wohl mit seiner Arbeit, dann mag er Niemanden sehen und am wenigsten in eine Gesellschaft gehen.

Sie schwiegen.

Es war so unheimlich still. Ein leises Angstgefühl schlich sich in ihre Seele.

Wie gut, daß er um sie war!

– Darf ich Ihnen meinen Arm geben?

Sie war ihm fast dankbar.

Nun gingen sie langsamer.

Sie dachte an den Abend, sie dachte an den Tanz, aber sie fühlte keine Scham mehr, keine Unruhe, nein im Gegenteil, eine weiche, angenehme Empfindung von Wärme.

– Warum sind Sie so still? Ihre Stimme klang weich, beinahe zärtlich.

– Ich wollte nicht aufdringlich sein. Ich dachte, daß es Ihnen unangenehm wäre.

– Nein, nein, Sie irren sich. Die Gesellschaft hat mich nur so nervös gemacht, deswegen wurde ich so unruhig; ich bin so froh, daß wir weggegangen sind.

Sie hatte ungewohnt herzlich und warm gesprochen.

– Ja, sehen Sie, Fräulein Isa; Falk lächelte still; ich hätte eigentlich Grund genug, tief über mich nachzudenken ...

Er fühlte, daß sie gespannt aufhorchte.

– Sehen Sie – dies Merkwürdige – dies Sonderbare ... Sie dürfen mich nicht mißverstehen – ich spreche mit Ihnen darüber, wie über ein Rätsel, ja, ein Geheimnis, als wäre ein Toter wiedergekommen ...

Falk hustete kurz auf. Seine Stimme zitterte ein wenig.

– Als ich noch in der Schule war, gefiel mir eine Idee von Plato ungemein. Er hält nämlich das Leben hier auf Erden nur für ein Abbild eines Lebens, das wir schon früher einmal als Ideen durchlebt haben. Unser ganzes Schauen ist nur eine Erinnerung, eine Anamnese dessen, was wir schon früher, bevor wir geboren wurden, geschaut haben.

Sehen Sie – damals war mir die Idee lieb wegen ihres poetischen Gehaltes, und jetzt denk ich beständig an sie, weil sie sich an mir selbst realisiert hat.

Ich erzähle Ihnen diese Tatsache – rein objektiv, wie ich gestern über die Unverletzlichkeit der Fakire erzählte. Mißverstehen Sie mich nicht ... Ich bin Ihnen eigentlich ein wildfremder Mensch ...

– Nein, Sie sind mir nicht fremd ...

– Bin ich das nicht? Wirklich nicht? Sie wissen nicht, wie mich das freut. Ihnen, Ihnen allein möcht ich nicht fremd sein. Sehen Sie, kein Mensch weiß, wie ich bin; sie hassen mich Alle, weil sie nicht wissen, wo ich zu fassen bin; sie sind so unsicher mir gegenüber ... nur Ihnen möcht ich meine ganze Seele öffnen ...

Er stockte. Ob er nicht zu weit gegangen war? Sie erwiderte nichts, sie ließ ihn sprechen.

– Ja, aber was ich sagen wollte ... ja, gestern, gestern ... seltsam, daß es erst gestern war ... Als ich Sie gestern sah, kannte ich Sie schon längst. Ich muß Sie irgendwo gesehen haben. Ich habe Sie selbstverständlich niemals gesehen, aber Sie waren mir so bekannt ... Heute kenn ich Sie schon hundert Jahre, deswegen sag ich Ihnen Alles; ich muß Ihnen Alles sagen ...

Ja, und dann ... ich kann mich sonst sehr beherrschen, aber gestern in der Droschke – da übermannte es mich; ich mußte Ihnen die Hand küssen, und ich bin Ihnen dankbar, daß Sie mir Ihre Hand nicht entzogen haben ...

Ich verstehe es nicht ... ich sehe sonst alle Menschen draußen, ja irgendwo weit draußen; mein Inneres ist jungfräulich, kein Mensch ist mir nahe gekommen, aber Sie fühl ich in mir, jede Ihrer Bewegungen fühl ich an meinen Muskeln niederfließen – und dann seh ich die Anderen wie einen Feuerring um mich tanzen ...

Isa war wie gebannt. Sie durfte das nicht hören. Sie fühlte Mikitas Augen auf sich ruhen. Aber diese heiße, leidenschaftliche Sprache ... so hatte noch kein Mensch zu ihr gesprochen ...

Falk überkam ein Taumel. Es war ihm gleichgültig, was er jetzt sprach. Er suchte sich auch nicht mehr zu beherrschen. Er mußte zu Ende reden. Es war ihm, als wäre Etwas aufgebrochen in seiner Seele, und nun stürzte die Glut unaufhaltsam heraus.

– Ich verlange Nichts von Ihnen, ich weiß, daß ich es nicht verlangen darf. Sie lieben Mikita ...

– Ja, sagte sie hart.

– Ja, ja, ja, ich weiß es; ich weiß auch, daß Alles, was ich Ihnen sage, dumm ist, ganz dumm, lächerlich; aber ich muß es sagen. Das ist das größte Ereignis in meinem Leben. Ich liebte nie; ich wußte nicht, was Liebe ist, ich fand sie lächerlich; ein krankhaftes Gefühl, das die Menschheit überwinden müsse. Und nun mit einem Ruck war es geboren ... In einem Moment: als ich Sie sah in dem roten Licht, als Sie mit dieser rätselhaften, verschleierten Stimme zu mir sagten: Sie sind es ...

Und Ihre Stimme war mir so bekannt. Ich wußte, daß Sie so, gerade so sprechen mußten, ich erwartete es. Ich wußte auch, daß das Weib, das ich lieben könnte, nur so, nur so wie Sie aussehen müsse ... Es hat sich Alles in meiner Seele ausgelöst, Alles, was mir bis jetzt unbekannt war, das Tiefste – Intimste ...

– Nein, Herr Falk, sprechen Sie nicht weiter; ich bitte Sie, tun Sie es nicht. Das schmerzt mich, das tut mir so weh, daß Sie durch mich leiden sollen. Ich kann Ihnen ja Nichts, Nichts geben ...

– Ich weiß es, Fräulein Isa, ich weiß es nur zu gut. Ich verlange nichts. Ich will Ihnen nur das sagen ...

– Sie wissen doch, Herr Falk, daß ich Mikita liebe ...

– Und wenn Sie tausend Mikitas liebten, müßt ich Ihnen das sagen. Es ist ein Zwang, ein Muß ...

Plötzlich schwieg er.

Was wollte er nur?

Er lachte auf.

– Warum lachen Sie?

– Nein, nein, Fräulein Isa, ich bin zur Besinnung gekommen. Er wurde ernst und traurig.

Er nahm ihre Hand und küßte sie innig.

Er fühlte nur das heiße Fieber dieser langen, schmalen Hand.

– Nehmen Sies mir nicht übel. Ich habe mich vergessen. Aber Sie müssen mich verstehen. Ich habe in meinem ganzen Leben nicht geliebt. Und jetzt strömt dies Neue, Unbekannte mit solcher Wucht auf mich ein, daß es mich völlig übermannt. Vergessen Sie es nur, was ich Ihnen sagte.

Er lächelte traurig.

– Ich werde nie mehr so zu Ihnen sprechen. Ich werde Sie immer lieben, weil ich es muß, weil Sie meine Seele sind, weil Sie das Tiefste und Heiligste in mir sind, weil Sie das in mir sind, wodurch Ich grade Ich bin und kein Andrer.

Er küßte ihr wieder die Hand.

– Wir bleiben Freunde – nicht wahr? Und Sie werden das schöne Bewußtsein haben, daß Sie mein herrlichstes, mein mächtigstes Erlebnis sind, mein ...

Seine Stimme brach; er küßte ihr nur die Hand.

Sie schwieg und preßte heftig seine Hand.

Falk beruhigte sich.

– Sie nehmen mirs nicht übel?

– Nein.

– Sie bleiben mir Freundin?

– Ja.

Nun schwiegen sie den Rest des Weges.

Isas Wohnung gegenüber war ein Restaurant, das noch offen stand.

– Wir sind jetzt Kameraden, Fräulein Isa; darf ich Sie bitten, mit mir ein Glas Wein zu trinken. Wir wollen die Kameradschaft besiegeln.

Isa zögerte.

– Sie werden mir dadurch ein großes Glück bereiten. Ich mochte mit Ihnen so unendlich gerne so en bon camarade sprechen.

Sie gingen hinein.

Falk bestellte Burgunder.

Sie waren allein. Das Zimmer war durch eine Portiere abgegrenzt.

– Ich danke Ihnen, Fräulein Isa, ich habe nie einen Menschen gehabt ...

Isa hatte Mikita auf der Zunge, aber sie schwieg. Es war peinlich, seinen Namen auszusprechen.

Es wurde Wein gebracht.

– Sie rauchen?

– Ja.

Isa saß zurückgelehnt auf dem Sofa, rauchte die Zigarette und blies Ringe in die Luft.

– Das Wohl unserer Kameradschaft. Er sah sie mit so herzlicher Innigkeit an.

– Ich bin so glücklich, Fräulein Isa, Sie sind so gut zu mir, und dann – nicht wahr? – wir haben nichts voneinander zu verlangen; wir sind so frei ...

Er sah wieder dies heiße Glühen um ihre Augen ... Nein! Er wollte es nicht sehen. Er trank sein Glas hastig aus, füllte es wieder und starrte auf die rote Weinfläche. Er dachte an den Meniskus; er mußte wohl konvex sein ...

– Ja, ja, die Seele ist ein seltsames Rätsel ...

Schweigen.

– Kennen sie Nietzsche? Er sah auf.

– Ja.

– Und diese eine Stelle aus Zarathustra: Die Nacht ist tiefer, als der Tag gedacht ...

Sie nickte.

– Hm; nicht wahr? Er lächelte ihr zu. Die Seele ist auch tiefer, als sie sich in dem blödsinnigen Bewußtsein widerspiegelt.

Sie sahen sich an. Ihre Augen vergruben sich ineinander.

Wieder sah Falk ins Glas.

– Ich bin nämlich Psychologe von Fach. Verstehen Sie: von Fach. Das heißt; ich habe Schallgeschwindigkeiten gemessen, die Zeit bestimmt, in der eine Sinneswahrnehmung ins Bewußtsein tritt, aber von der Liebe habe ich nichts erfahren ... Da plötzlich ... Na ja ... Ihr Wohl!

Er trank.

– Nein, nein, aus allen diesen Messungen ist nichts rausgekommen. Heute in der Nacht hab ich weit mehr von meiner Seele erfahren als in den vier, fünf Jahren, die ich an die sogenannte Psychologie vergeudet habe ... Ich hatte einen Traum ... Er sah auf. Aber langweilen Sie sich nicht?

– Nein, nein.

Sie lachten sich zu.

– Ja, ich habe heute geträumt, daß ich mit Ihnen eine Reise auf dem Meere machte.

Es war finster, ein schwerer, dicker Nebel lag auf dem Schiffe, ein Nebel, den man bis in den Innenraum hineinfühlte, schwer wie Blei, beengend, angstschwül ...

Ich saß mit Ihnen im Salon und sprach – nein, ich sprach nicht. Es war Etwas in meiner Seele, das sprach – lautlos, und die Stimme war auch körperlos, aber Sie verstanden mich.

Und dann standen wir auf. Wir wußten es, ganz genau wußten wir, daß es kommen werde – das Furchtbare ...

Und es kam.

Ein furchtbarer Krach, wie wenn eine Sonne heruntergestürzt wäre, ein höllisches Angstgebrüll, wie wenn plötzlich Gletschermassen auf die Erde niederrasten: ein Dampfer hatte sich in den unsern hineingebohrt.

Nur wir Beide hatten keine Angst. Wir fühlten uns nur, wir verstanden uns und hielten uns fest an den Händen.

Da plötzlich waren Sie mir verschwunden.

Ich sah mich mit einem Mal auf einem Rettungsboot, die See warf es bis in den Himmel hinein und dann wirbelte es plötzlich in einen endlosen Abgrund herab.

Mir war Alles gleichgültig, was mit mir geschah. Nur eine entsetzliche, wahnsinnige Angst, was mit Ihnen geschehen sei, zersprengte mir den Schädel. Da auf einmal: Ich sah, wie der mächtige Dampfer mit einer unerhörten Schnelligkeit untersank, ich sah nur noch einen ungeheuren Mast aufragen, und da, da ganz oben sah ich Sie angeklammert ... Und im selben Augenblick stürzte ich in das Meer, ich erfaßte Sie, Sie lassen sich kraftlos von mir tragen und Sie werden so unendlich schwer. – Ich konnte mich nicht mehr festhalten, noch ein Moment und ich mußte mit Ihnen zusammen ins Meer sinken.

Da plötzlich ballte sich der Nebel und die Wolken zu einer Riesengestalt. Über den ganzen Himmel weg, grausam, kalt, gleichgültig ...

Falk lächelte mit einem seltsam verlegenen Lächeln.

Es war das Meer und der Himmel, das war Ich und Sie, es war Alles: das Schicksal, Fräulein Isa.

Sie bekam Angst. Er sah sie so unheimlich an.

Plötzlich schlug er um.

– Seltsamer Traum, nicht wahr? lächelte er.

Sie bemühte sich gleichgültig zu erscheinen, und antwortete nicht.

Er sah sie eine Weile mit großen Augen an, die fiebrig glühten. Dann sah er wieder in sein Glas.

– Das war die erste Offenbarung des Schicksals in meinem Leben.

Seine Stimme klang monoton, gleichmäßig, mit einer Nuance von selbstverständlicher Nachlässigkeit. Sie reizte sie, sie hatte etwas unsagbar Hypnotisierendes. Sie mußte ihn hören.

– Ich wußte auch nicht, was Schicksal ist. Aber jetzt weiß ich es. Sehen Sie, Fräulein Isa, ich gehe herum, ahnungslos; ich hielt mein Gehirn so fest in meinen Händen; es gab kein Gefühl, das ich nicht hätte unterjochen können; ja ... und nun plötzlich kommen Sie dazwischen, Sie, das seltsame Urbild meiner Seele, Sie die Idee, die ich schon früher in einem andern Dasein angeschaut habe, Sie, die Sie eigentlich das ganze Geheimnis meiner Kunst sind ... Kennen Sie meine Produktion?

– Ich liebe sie über Alles.

– Haben Sie sich selbst darin gefunden?

– Ja.

– Nun sehen Sie, ich war so fest und so hart, und nun kommen Sie mir in den Weg, und mein ganzes Leben wird in dieses eine Erlebnis eingeschlossen. Sie bekommen diese Macht über mich, daß ich an nichts Andres denken kann, Sie werden der Inhalt meines Gehirnes ...

– Nein, Falk, sprechen Sie nicht davon. Ich werde so müde von dem Gedanken, daß Sie sich durch mich unglücklich fühlen sollen ...

– Nein, Fräulein Isa, Sie irren sich. Ich bin glücklich, Sie haben mich zum neuen Menschen gemacht, Sie haben mir einen unerhörten Reichtum gegeben – ich verlange ja Nichts von Ihnen, ich weiß, daß Sie Mikita lieben ...

Isa fühlte wieder die Unruhe in sich hochwallen. Sie hatte Mikita ganz vergessen. Nein! Sie durfte nicht länger hier sitzen. Sie durfte nichts mehr hören. Sie erhob sich.

– Nun muß ich gehen.

– Bleiben Sie, bleiben Sie noch einen Augenblick.

Es war etwas, das sie niederzwang, aber sie mußte an Mikita denken. Die Angst und die Unruhe wuchs. Sie raffte sich auf.

Nein, nein, jetzt muß ich gehen; ich kann nicht länger sitzen, ich muß jetzt, ich muß – ich bin so müde ...

Falk unterdrückte mühsam ein nervöses Lachen.


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