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IX.
Rose

Als er auf den Bahnsteig tritt, hört Tammuz, wie er gerufen wird.

Vom Vorhang eines Abteils machte eine Frau ihm lebhafte Zeichen. Er ging näher und erkannte Rose de Faventine.

Von den Erregungen dieser Nacht betäubt, erstarrt, konnte er kein Wort hervorbringen; auf seiner Stirn erschien die gespannte Falte eines ermüdeten Geistes, der sich zwingt, einen Umstand zu bestimmen.

– Steigen Sie doch ein, Tammuz!

Er stieg ein, fast ohne zu wissen, was er tat. Sein Wille war erschöpft, wie sich die Kraft eines Wüstlings nach einer Reihe von Orgien erschöpft.

– Wohin wollen Sie? fragte er schließlich.

– Ich bin bei meinem höchsten Ziel angekommen, da …

Sie legte schmeichelnd ihren Kopf auf seine Brust.

Mit einer zerstreuten Hand streichelte er die Wange der Jungfrau, die vor Freude errötete, aber das Unbestimmte dieser mechanischen Liebkosung wahrnahm.

– Tammuz, Sie lieben mich nicht … Es bleibt mir also nichts übrig, als auch in den Sumpf zu fallen.

Mit langsamen Worten gelangte der junge Mann dahin, die Situation klar zu erkennen.

– Rose, ich bin so müde, daß ich mein Herz nicht mehr fühle. Ich bin ein Witwer: ich verliere so viel Herzen, die einen Augenblick für mich geschlagen haben, daß ich dich nicht von den Gynandres unterscheide. Ich liebe dich vielleicht; ich öffne dir meine Arme, weil du auch müde bist, nicht wie ich von Liebe, sondern vom Warten. Komm, weil das dein Schicksal ist.

– Ich habe ein Wesen getroffen, das weder Paris noch Lesbos fürchtet: ich werde ihm bis zum Märtyrertod dienen.

Während Rose so ihr erstes Bekenntnis wiederholte, das sie mit der Geschichte von St. Christoph verbunden hatte, ging eine Dame vorbei, welche die Wagen mit dem Blick durchforschte: als sie Rose und Tammuz sah, erbleichte sie.

Sie wandte sich ab, und über ihr stolzes Angesicht rollten zwei Tränen: was sie geplant, verwirklichte eine andere.

Sie ging in den Bahnhof zurück, ohne von dem Paar gesehen worden zu sein, und warf ihre nach Bordighera gelöste Fahrkarte mit einer Gebärde fort, die eine der großen Enttäuschungen ihres Lebens offenbarte.

Plötzlich wurde sie umringt, befragt, auf den Bahnsteig zurückgeführt von einer Schar Frauen, deren Augen starrten, deren Haare sich auflösten, die unter ihren Mänteln in der Eile halb gekleidet waren.

Das waren die Gynandres, die, durch einen Traum der Ennar gewarnt, ihre Doppelsofas verlassen hatten, auf denen die Betäubung des Liebesgenusses sie erschlaffte, und herbeieilten, um den Mann noch zu sehen, der Lesbos geliebt hatte, um es zu retten.

Ohne daran zu denken, daß sie wie erotische Mänaden aussahen, füllten sie den Bahnsteig mit ihrem forschenden Hin und Her, wie ein Chor den Namen des chaldäischen Adonis wiederholend, so die Nachbildung der Antike fortführend.

Der Zug setzte sich in Bewegung, als Tammuz, dessen Nerven ihn benachrichtigten, sich zum Fenster hinausbeugte.

Ein Ausruf begrüßte ihn, in dem Zärtlichkeit, Bedauern und eine Mischung von Vorwürfen und Wünschen lagen.

Plötzlich zur Geistigkeit zurückkehrend, erlebte er in einem Gedankenblitz das ganze verflossene Jahr wieder. Er zählte sie alle auf: Orchideen, Maupin, Pentapolis, Leukadia. Statt den Schmerz der letzten Stunde zu empfinden, durchschaute er, ein furchtbarer Forscher, die Krankheit von Lesbos. Während er, der letzten Gebärde seiner Rolle getreu, den Gynandres mit beiden Händen einen Kuß sandte, sagte er sich im Innern:

– Ja, die weibliche Sodomie kommt entweder aus einer verkümmerten Knabenseele oder aus einer aussetzenden Nerventätigkeit! Der Seele des Jünglings Theaterstücke und Zauberpossen; den Sinnen, welche die Note nicht halten, erotischer Kontrapunkt; allen Gynandres junge Männer, die weiblich von Körper, männlich von Geist sind. Das ist die ganze Diagnose, die ganze Heilkunde für diese Perversion.

Er sandte mit der Hand einen letzten Abschiedsgruß und setzte sich wieder. Seine Hand stieß auf eine Zeitung, die er mechanisch öffnete. Ein Artikel Fest auf Lesbos veranlaßte ihn, einige Zeilen zu lesen; dann ballte er das Blatt zusammen und warf es auf die Strecke.

– Man sagt, die Prinzessin Simzerla und die Gräfin Limerick hätten heute nacht eine Orgie von Frauen geleitet, bei der nicht einmal ein Diener zum Auftragen vorhanden gewesen sei. Dabei schwimmt Simzerla nach Buenos Aires und Limerick nach dem Stillen Ozean, und fünfzig Männer waren bei Goulaine!

– Lesbos ist von den Journalisten erfunden worden, um die durchsichtigen Karten ihres Klatsches zu variieren.

Er sprach zu sich selbst:

– Meine Erfahrung streicht die Lyrismen Baudelaires durch. Es gibt keine Liebe von Frau zu Frau, und es hat niemals eine gegeben: die beiden Perversionen sind Wollüste und nicht Leidenschaften!

Nachdem er Rose auf die Augen geküßt hatte, sprach er für sich dieselben Worte, die er an Bord der »Sappho« dem Seewind mitgegeben hatte:

– Lesbos, Betrug des Körpers und Enttäuschung der Seele; Lesbos, Alpdrücken der Nächte; Lesbos, du hast nie gelebt!

– Und ihr, beklagenswerte Frauen, enttäuscht und empört, macht nur auf das Mitleid Anspruch, das jeder Schmerz ruft: vor dem aufmerksamen Geiste habt ihr nie gelebt, leere Gespenster einer unmöglichen Liebe, Spielerinnen des Lebens, Spielerinnen der Liebe, Knaben und Kranke, Gynandria!

 


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