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VI.
Victoria Viri

Die Sonne leuchtete noch am Horizont, aber ihre geschwächten Strahlen steckten nur noch eine Zone in Brand, die jeden Augenblick durch die violetten Schleier der Dämmerung verkleinert wurde.

Wie zum Abendgebet gesammelt, erschien das unbewegliche Meer, das der sich verdunkelnde Himmel bleiern färbte, als eine ungeheure metallische Fläche, die gerinnen will.

Auf dem Gipfel des Felsen, der das Schloß Teutat trägt, wußten zwei gleichzeitige Betrachter nichts von einander.

Ein sehr junger Mann, fast noch ein Kind, in schwarzen Sammet gekleidet, mit Ledergamaschen, stützte sich auf eine Flinte; traurig vor dieser unsagbaren Traurigkeit eines sterbenden Tages.

Ein junger Mann, blond und schlank, in grauen Sammet gekleidet, mit hirschledernen Schuhen, den Rand des Filzhutes zurückgeschlagen, hielt mit der einen Hand das Skizzenbuch des auf einem Ausflug befindlichen Künstlers.

Der junge Mann im Filzhut bemerkte zuerst das Kind mit der Flinte.

In der Ferne war die Sonne, von dem Heer der Schatten umringt, nur noch ein blutender Fleck, den der sie erstickende Nebel veilchenblau färbte.

Da ließ der Jüngling sein Träumen und warf die Flinte über die Schulter.

– Wer bewohnt dieses Schloß Teutat? fragte der Künstler, seinen Filzhut lüftend.

– Ich, sagte der Jüngling.

Sein schwarzes und stolzes Auge heftete sich auf den Unbekannten.

– Sind wir uns nie begegnet?

– Niemals, erwiderte Tammuz, aber wenn Sie eine Schwester haben, so ist das ohne jeden Zweifel jene Dame mit dem Androgynenkopfe, im Knabenkostüm, die ich vor vier Monaten, am Ende eines Apriltages, dicht am Rundell der Champs Elysées, gekreuzt habe, als sie ihren amerikanischen Einspänner lenkte.

– Ich gehöre ohne Zweifel zu ihrer Familie: wissen Sie ihren Namen?

– Ja, Prinzessin Simzerla Roussalkys.

– Meine Schwester, rief das Kind.

– Dann sagen Sie Ihrer Schwester, daß ich sie liebe.

– Meine Schwester liebt nicht die Männer.

– Das kann ich begreifen, denn sie scheint die Seele eines Mannes unter ihrer weiblichen Anmut zu haben.

Ein mattes Lächeln faltete die Lippe der Zuhörerin.

– Es ist weit von hier bis zum Dorf: wollen Sie Brot und Salz des Prinzen Simzerla annehmen?

– Mit Freuden, Prinz, wenn ich zu Ihnen über Ihre wunderbare Schwester sprechen darf.

– Sie dürfen zu mir von ihr sprechen. Entzückt, für einen Knaben zu gelten, bot Simzerla dem Tammuz eine Zigarre.

Von der Landschaft, dem bretonischen Volke sprechend, von diesen Nichts, welche die Münze einer ersten Begegnung sind, waren sie bald in einen großen Saal gekommen, hatten sich zu Tisch gesetzt und wurden von zwei Zofen bedient.

Bis zum Nachtisch war das Gespräch ohne Interesse. Tammuz nannte seinen Namen nicht und gab der Prinzessin die Illusion, daß er sie für einen Mann halte.

– Den Kaffee auf der Terrasse; Sie werden mich dort erwarten.

Als sie ihn dort aufsuchte, sagte sie, eine Zigarre anzündend und Sherry brandy eingießend:

– Jetzt sprechen Sie von meiner Schwester.

Er sprach so, daß die Zuhörerin bestürzt wurde. In Einzelheiten gab er diese ganze wunderbare und wahrhaftige Geschichte eines Frauenlebens, das der Klatsch vernichtet hatte.

Ohne eine ungenaue Angabe zu berichtigen, hörte Simzerla zu; ihr unempfindliches Gesicht, nach dem Meere gerichtet, zeigte Tammuz nur ein stolzes und fast hartes Profil; und die Dunkelheit erlaubte ihm nicht, Tränen aus den Lidern der jungen Frau perlen zu sehen.

Mitternacht schlug: Tammuz schwieg noch nicht, und Simzerla hatte noch nichts geäußert.

– Warten Sie hier, sagte sie mit langsamer Stimme. Wenn die Gespenster Sie nicht schrecken, wird Ihnen vielleicht eines erscheinen. Tun Sie diesem Gespenst keine Gewalt an: lassen Sie es fliehen, sobald es will! Versprechen Sie das?

Tammuz begriff zuerst nicht und lehnte sich an die Brüstung aus Granit. Vor ihm vereinten sich Nacht und Meer zu einer murmelnden Mischung.

Eine Hand legte sich auf seine Schulter: in weißem Kleide stand die Prinzessin Simzerla vor ihm.

– Du hast mir die einzige süße und tiefe Erregung meines Lebens gegeben! Obgleich ich nicht einmal deinen Namen kenne, bringe ich dir, was du in mir erweckt hast! Willst du, trotz allem, was du weißt, meinen ersten, meinen einzigen weiblichen Kuß?

Tammuz öffnete ihr die Arme und ihre Lippen vermischten sich lange.

– Laß mich, sagte sie, ich fürchte die kostbare Erinnerung dieses Kusses zu verlieren. Erlaß mir das übrige, ich flehe dich an, und ziehe dich zurück.

Tammuz löste seine Umarmung und verließ, rückwärts gehend, die Terrasse.

Wankend und unschlüssig, wollte sie ihn zurückrufen, aber unterdrückte die Gebärde sofort.

Als der junge Mann verschwunden war, brach sie schluchzend zusammen.

Er irrte auf gut Glück im Hause umher, ein Sofa suchend, um darauf zu schlafen, zu sehr Künstler, um auf die Terrasse zurückzukehren und nach seinem Zimmer zu fragen; zu sehr interessiert, um mitten in der Nacht fortzugehen. Er stieß an eine Ruhebank und warf sich darauf, indem er sagte: »Eros sei gelobt!«

Wirkte die Seeluft oder hatte ihn die lange Erzählung ermüdet: er schlief ein.

Als er wieder erwachte, glaubte er sich an eine weiße Erscheinung zu erinnern, an eine Psyche mit der Lampe Apulejus, Amor und Psyche, radiert von Klinger., die ihn betrachtete: war das eine Erinnerung oder ein Traum?

Kaum hatten sich diese Gedanken geordnet, als ein großer Lärm entstand: Stimmen von Frauen, pariser Frauen, die laut sprachen und Ausrufe ausstießen.

Er begriff, wie sehr ihm die Vorsehung gedient hatte, indem sie ihn an einem Abend ins Schloß Teutat führte, als sich die ganze Gesellschaft in Dinard befand und Simzerla allein war, also zu beeinflussen.

Warum hatte er sie nicht zur Liebe gedrängt? War die Vergangenheit der Prinzessin nicht aus ihren Nerven zu bringen? Warum hatte er eine solche Gelegenheit versäumt; einen Seelenzustand vergehen lassen, den die Neuheit so günstig machte?

Tammuz gestand es sich: das Feuer, das er bei der Rückkehr aus dem Bois empfunden, hatte sich schließlich vergeistigt: er kämpfte mit der lesbischen Welt, nicht mit einer Lesbierin, mochte es auch die höchste sein. Er hatte gefürchtet, alles aufs Spiel zu setzen, wenn er dieses vom Normalen abgeirrte Wesen zu bekehren suchte. Er zog vor, sein sicheres Ansehen zu wahren, wenn es auch unvollständig war, als sein Mühen zu verderben, indem er es vollendete.

Schließlich hielt ihn eine Ehrlichkeit zurück: liebte er Simzerla? Welchen Platz nahm diese Frau in seinem Herzen ein, außer der Herausforderung zum Kampfe, den er sich selbst gestellt?

Hatte ihn die gefühlvolle Erregung, indem sie ins Gehirn stieg, nicht gleichgiltig gegen die Leidenschaft gemacht? Nein, denn ein tiefes Bedauern, viel höher als der Gedanke, diese Frau, welche die Männlichkeit haßte, zu besitzen, das Bedauern, einen von köstlichem Saft überschäumenden Kelch zurückgestoßen zu haben, schmerzte ihn tief. Er schätzte die Trunkenheit und erstaunte, daß er verzichtet hatte.

Endlich unterschied er unter seinen verworrenen Empfindungen die, welche ihn bewogen hatte, die Terrasse zu verlassen: es war nicht die Furcht vor einer nicht wieder gut zu machenden Niederlage als Mann. Eine Schwierigkeit, an diesen depolarisierten Organismus zu rühren, bestand nicht, da der Kuß den Beweis der sicheren Wollust gegeben; da die Gynandre, zum ersten Male ohnmächtig geworden, vibriert hatte.

Nein, seine Tugend, das entdeckte er jetzt, war das Gefühl der Unabhängigkeit: Simzerla zur wirklichen Liebe zurückgewinnen, hieß sich verpflichten! Aber die Freiheit kam für Tammuz noch vor der Güte, diese unfruchtbar machend.

Als er bei Nergal jene berühmten Verse schrieb, hatte er sich versprochen, der ergebene Bruder von allen Gynandria zu bleiben, nicht der Liebhaber von einer zu werden.

Der Liebhaber der Simzerla! Gewiß, er kümmerte sich wenig um die Meinung seiner Zeit, aber viel darum, sein Leben nicht zu verpflichten. Ohne Aufsehen zu erregen, konnte er sie nicht lieben, und sein Stolz würde nicht erlauben, daß die von ihm wiederverlassene Simzerla zur Frauenliebe zurückkehre.

Eine Erregung auszubeuten, um eine Eitelkeit zu befriedigen; einer so leidenden Seele eine flüchtige Laune zu bieten: dazu konnte sich seine innere Ehre nicht verstehen.

Seufzend entdeckte er sein Schicksal: eine irrende Seele, ein Prediger der Liebe, der es sich zur Pflicht gemacht, niemals zu lieben. Er sah die verhängnisvolle Unpersönlichkeit seiner Natur. Seraphitus Seraphita, die furchtbarste der Dichtungen von der Leidenschaft, kam ihm wieder ins Gedächtnis Balzacs Swedenborg-Roman, von Strindberg geliebt..

Die Dualität seiner Natur erschreckte ihn; seine Kraft, dem Liebestaumel zu widerstehen, erschien ihm verhaßt; der Name »Leukadia« kam ihm wie eine Warnung vor. Hatte seine Seele erduldet, was der Sprung vom leukadischen Felsen bedeutet, der vom Liebesleid heilt?

Seine zarte und sanfte Seele schwankte niemals: er war mehr geistig als leidenschaftlich, in eine Idee, nicht in eine Frau verliebt. Er gestand sich, daß weder Lilith, noch Lucia, noch Rose, noch Stella, noch Simzerla ihn fesselten, sondern das lesbische Rätsel …

Auf der Schwelle erschienen Frauen, die überrascht, fast erschrocken ausriefen:

– Tammuz!

– Tammuz!

– Tammuz? wiederholte die Stimme der Simzerla düster und ihr Blick härtete sich.

Tammuz, das war der Feind von Lesbos, und Tammuz hatte gestern abend im Schlosse von Leukadia die Kaiserin von Lesbos besiegt.


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