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VII.
Lesbos auf Kythera

Ganz Paris ärgert sich heute abend und schilt: es findet ein Fest statt, ein seltsames Fest, das seinesgleichen nicht sah, und ganz Paris ist nicht dabei.

»Lesbos soupiert heute abend auf Lesbos,« so begannen die schmutzigen Chroniken des Boulevards an diesem Morgen. Nergal hatte gesagt, ohne daß man ihm glaubte: »Lesbos soupiert heute abend auf Kythera.«

Als der Romancier in das Haus der Goulaine eindringt, empfängt ihn diese im antiken Gewände, wie die Einladung anzeigt, mit der Purpurbinde um die Stirn; eine Pompejanerin setzt ihm den Rosenkranz des griechischen Lebemannes aufs Haupt; und Tammuz, mit nackten Armen, nackten Beinen, in Chlamys und schwarzem mit Gold durchwirkten Mantel, begrüßt ihn also:

– Freund, der Morgen wird mich nicht mehr sehen, weder in Lesbos noch in Paris: da Sie meinen Plan entstehen sahen, seien Sie auch Zeuge, wie ich ihn verwirkliche: Sie sind mein ganzes Publikum. Und zuerst Ihre Rolle: verlassen Sie Rose von Faventine nicht: führen Sie sie in Ihr Biklinium und lassen Sie sich lieben; ich wünsche es!

Mit seinem schlanken und weißen Arm einen Vorhang hebend, zeigte er dem erstaunten Nergal:

– Ganz Lesbos, aber ganz Lesbos in normalem Flirt: Royal Maupin und Orchideen, Pentapolis wie Leukadia.

– Es fehlen nur die Prinzessin Simzerla und die Fliegende Gräfin, sagte Nergal.

– Ich habe deren männliche Ergänzung nicht gefunden.

– Sie!

– Ich? Ich bin nur eine Idee.

– Und Sie hoffen, daß diese Marivaudages über das eingewurzelte Laster siegreich sein werden?

– Ich hoffe nichts … Wie jener Eroberer, der nicht verweilen konnte, eine Siegessäule errichtet und weiterzieht, so stelle ich heute abend den Ruhm von Eros wieder her: morgen gehört mir nicht.

– Ich bewundere Sie.

– Nein, denn Sie sehen noch nichts als meine Kühnheit, statt die unerbittliche Gerechtigkeit meiner Seelenheilung abzuwarten. Von allen Gewändern vermischt die Antike am besten die entgegengesetzten Geschlechter, und meine Gynandres haben geglaubt, ein Zugeständnis von mir zu erlangen, wenn sie die kurze Tunika des Junglings anlegten, statt des Gewandes mit langen Falten. Die Männer sind enthaart, parfümiert, gepudert, und die Gynandres scheinen deren jüngere Brüder zu sein. Sogleich wird sich das Tier mit zwei Rücken in ebenso viel Paaren vervielfältigen … Phantasie eines Schülers, langsame und lange Entnervung: das ist das ganze Lesbos! Ich habe meinen Schülern ein Maskenfest gegeben; ich habe meinen krankhaften Wollüstigen sprechende, schmeichelnde und zarte Männer gegeben … Immer das Ei des Kolumbus: bewundern Sie mich, weil meine Diagnose klar ist. Ich habe in Person Krieg geführt, ich habe allen die Stirn geboten: nicht eine gibt es, die nicht ihr Laster aufgeben würde, um Tammuz zu lieben. Ich habe mich vervielfacht in etwa fünfzig Doppelgängern, die zwar unvollkommen sind, aber genügen. Wenn in einigen Stunden die fünfzig Tammuz die fünfzig Gynandres besitzen werden, habe ich das Rätsel erraten, das Ungeheuer besiegt und kann bis in den Himmel rufen, daß ich den Tod des Orpheus nach dem Maße meiner Kraft gerächt habe.

– Sie erschrecken mich, Tammuz: sollten Sie ein Dämon sein?

– Ich bin ein Dämon, das heißt, bald Licht bald Schatten. Was Sie für einen unsinnigen Stolz halten, mein Bruder, ist der Geist, der mich besitzt, mich treibt und mich erhöht: in diesem Augenblick ziehe ich meinem Herzen, meinen Sinnen eine Idee vor; ich bin der Hierophant, der depolarisierte Seelen ins Gleichgewicht bringt: in diesem Augenblick, Nergal, bin ich Priester und beschwöre Besessene … Ach, ich weiß sehr wohl, die heiligen Engel, wie die Frommen sie sich vorstellen, würden vor meinem Werk der Wollust das Antlitz mit ihren weißen Flügeln verhüllen. Und doch schlagen mir diese fünfzig Männer, die mein Amt erfüllen werden, fünfzig Wunden: sie werden diese armen Frauen, die ich geliebt habe, küssen und kosen. Ja, Nergal, geliebt, so geliebt, daß ich sie heilen, daß ich sie retten will. Ich gestehe, daß ich für diese zwiespältigen Wesen, die kindlich und traurig sind, die von der Frau nur das Absurde, vom Manne nur das Lächerliche haben, eine große Zärtlichkeit empfinde. Für die Zuversicht, daß ihr Laster getilgt und Lesbos geschleift wird; für die Zuversicht, daß künftig alle diese Frauen, über die ich mich in zärtlicher Forschung gebeugt habe, gerettet sein werden; für diese Zuversicht, Nergal, gebe ich mein Leben, sofort und ohne Bedauern.

– Zu welcher unsagbaren Mission sind Sie bestimmt, Tammuz? Jedes Ihrer Worte vergrößert Sie in meinen Augen!

– Meine Worte enthalten das Wesen der höchsten Schönheit, meine Worte sind Barmherzigkeit. Ich liebe das Ideal mehr als mich selbst und meinen Nächsten im Verhältnis zum Ideal. Ich gehorche meinem geheimnisvollen Namen des Adonis vom Euphrat. Wenn ich an ein früheres Leben glaubte …

– Ich sehe Sie, Psychurge, in Babylon oder Ninive gegen die Auflösung der Sitten kämpfen.

– Nein, ich bin vielleicht ein gefallener Engel von jenem Gestirn, Mond genannt, dessen Menschheit unterging, für ein geheimnisvolles Verbrechen verdammt.

– Heute abend wird Sodom besiegt werden, lieber Wundertäter.

– Sie sagen leider richtig: heute abend! Aber wird morgen diese Nacht nicht eine Wollust mehr sein, ohne ihren Seelen zu nützen? Von sich etwas opfern und sich ganz opfern, oh, das ist leicht, weil es schön und christlich ist! Aber denken, daß die Aufopferung vergeblich ist! Ja, die Melancholie, die auf die letzten Lateiner fallen wird, hat nicht ihresgleichen in der Vergangenheit. Einst ging die Herrschaft von Theben auf Memphis, von Babylon auf Ninive, von Athen auf Rom über! Das war nur die Wirkung davon, daß die Zivilisation den Ort wechselte. Heute liegt ein Niveau des Nichts auf dem Abendland: der Engländer und sein Sohn, der Amerikaner, der Slawe und der Germane, sind einander wert: die Barbarei, die in Rußland noch als Naturtrieb erscheint, entwickelt sich anderswo unter der Yankeeform und erfaßt uns wieder, um uns zu verdummen … Die Lateiner haben nicht die Götter gewechselt, sie haben das Göttliche verjagt, unter den nationalen Formeln. Im Namen des französischen Volkes gibt Frankreich Gesetze: Frankreich muß untergehen, weil ein Ameisenhaufen von sechsunddreißig Millionen menschlicher Insekten sich nicht auf sich selbst beruft. Man verwirft das Göttliche und das Normale verschwindet. Im gottlosen Lande perverse Sitten: wie kann es anders sein? Wird die höchste Offenbarung geleugnet, was bedeuten da die andern Vergehen? … Ich fühle es, Nergal, etwas stirbt in der Menschheit, was seit siebentausend Jahren alles überlebte; wir nähern uns diesen nicht erwarteten Zeiten, in denen das Gute, das Schöne, das Wahre unmöglich sein werden. Im zwanzigsten Jahrhundert, seit Christus erschien, ist kein Platz mehr für einen Messias. Die bis zum Sumpfe verdorbenen Wege entziehen sich den Schritten der Theurgen: die Seele der Welt ist verdammt!

– Doch handeln Sie, als sei noch etwas zu retten.

– Ja, zwischen zwei Ungewißheiten, der Vergeblichkeit und der Größe eines Strebens, zögere ich nicht, sondern handle und schaffe: das ist nicht sicherer, aber schön und entspricht dem göttlichen Licht.

Stella von Senanques, im Peplos prächtig aussehend, hob den Vorhang.

– Ah, rief sie, ich war unruhig um Sie! Hier sind zwei Briefe, die beide die Aufschrift tragen: »Tammuz um Mitternacht am 10. März zu überreichen«.

Er ahnte, wer sie geschrieben, und nahm zuerst den mit dem Stempel der Bretagne:

»Ade, Tammuz! Ich bin ein Kolonist, ich fahre nach Südamerika, um in meinem Walde zu jagen, den Burggrafen zu spielen, das Wasser meines Flusses zu trinken und Paris mit seinen Gemeinheiten und Traurigkeiten zu vergessen.

»Mein letzter Gedanke, bevor ich diese alte Welt verlasse, um in die frische Natur zu ziehen, eilt zu Ihnen. Und wenn Sie immer der Tröster bleiben, den ich gekannt, den ich geliebt habe, suchen Sie kein anderes Heilmittel für die Verderbnis der Gynandres, als eine Generation von lauter Tammuz zu formen: die würden die Liebe retten, die in mir stirbt, die überall stirbt, so weit ich sehen kann.

»Noch ein Mal ade!«

– Armes Kind, sagte Tammuz.

Sein Bedauern wurde gerührt: träumend vergaß er den andern Brief.

– Die Prinzessin Simzerla tut der Fliegenden Gräfin Unrecht in Ihrem Herzen, bemerkte Stella.

Da las er:

 

»Sie laden mich zu einem Fest ein, auf dem ich nur Ihren Arm nehmen würde, und Ihr Arm muß diesen Abend wie stets frei bleiben, damit sich andere, viele andere darauf stützen.

»Ich verlasse für immer die Meere des Abendlandes; als Forscherin werde ich ohne Zweifel unter dem Zahn eines Menschenfressers enden, und das ist das Kielwasser, das Sie zurückgelassen haben!

»Ihnen verdanke ich meine schönsten Erregungen und Ihr Name wird das letzte Wort auf meinen Lippen sein. Vergessen Sie nicht die Gynandre, die weder zu befehlen noch zu gehorchen verstand, deren Seele bis zu ihrem Tode eine Beute für das männliche ›Stampfen‹ und das weibliche ›Schlingen‹ sein wird.

Die Gynandre des Meeres
Gräfin Limerick.

 

– Armes Geschöpf! sagte Tammuz.

Er verband die beiden Gestalten in demselben Gedanken, in dem sich Liebe und Mitleid vermischten, und weinte.

Stella berührte seine Schulter.

– Lesbos hat seine beiden Führerinnen verloren: mit diesen Briefen übergeben die Gynandres ihre Festung.

– Ach, sagte er, deren Unglück quält mich! Ich bin dieser erhöhte Impuls gewesen, der zum äußersten Schicksal treibt: jene schwören Lesbos ab, aber ich habe nicht verstanden, ihnen eine neue Seele zu geben. Ich bin nur vom Ideal verführt worden: ich kann nicht leiten, nicht retten. Ich habe mit mir selbst Mitleid: Stella, weinen Sie über mich.

– Nähere Interessen fordern Sie, Tammuz: Goulaine denkt an Sie und sträubt sich, den Marquis von Charbonnières zu erhören, der doch ein Ideal an Kraft und Kühnheit ist. Lilith raucht in einer Ecke und schmollt.

– Und Sie, Stella, fragte Tammuz.

– Ich, ich habe eine Verwendung für meinen Stolz gefunden, indem ich mich zu Ihrer Gehilfin mache.

– Und der Chevalier?

– Rose ist ruhig, erstaunlich ruhig, kraft eines gewissen Hintergedankens, den ich nicht durchdringe.

– Bald Mitternacht, sagte Nergal, der in den erleuchteten und bemalten Fechtsaal eintrat.

Tammuz sprach:

– Nichts ist versäumt worden, Stella. Denken Sie an diesen Myrtenwein, den Sie und Goulaine den sich sträubenden Gynandres eingießen sollen; Lilith und Rose sollen nicht vergessen, über alle Männer die anziehende Pflanze des van Helmont zu stäuben. Und jetzt kann Mitternacht läuten, Eros wird sein Opfer erhalten, ich werde mein Wort erfüllen:

Tammuz führt zurück zum verzeihenden Eros
die edlen Scharen der Sappho, die schied.

Mitten in der Reitbahn, die in einen antiken Saal verwandelt, deren Wände in halber Höhe mit Mennig bemalt, mit Laubgirlanden bekleidet und mit schönen Abgüssen nach der Antike geschmückt waren – erhob sich die verhüllte Form eines Obelisken von duftenden Dreifüßen flankiert.

Fünfzig Doppelsofas waren im Halbkreis aufgestellt, alle grün mit roten Kissen; ein schmaler und langer Tisch trug die Flaschen und die Gläser, die Früchte und die Fische eines feinen Abendessens, das dekorativ geordnet war.

Bei den Klängen des Hochzeitmarsches aus »Lohengrin«, den ein unsichtbares Orchester spielte, zogen die fünfzig Gynandres ein, Hand in Hand mit ihren fünfzig männlichen Ergänzungen, und legten sich, Paar nach Paar, auf die Doppelsofas.

Als sie, diesem Zwange der leblosen Formen gehorchend, die edle Haltung gefunden, sahen alle mit freudigem Staunen, daß sie die Wirklichkeit verlassen hatten, und klatschten in die Hände.

Tammuz erschien in Tunika und schwarzem mit Gold durchwirkten Mantel; hinter ihm kamen Rose, Stella, Lucia und Lilith, die einen die Zerstäuber, die andern die Amphoren tragend.

Vor der verschleierten Form des Obelisken machte Tammuz Halt, in die Dreifüße wohlriechende Gewürze werfend, deren duftender Rauch ihn umhüllte.

 

HYMNE AN DEN PHALLUS

Geister der heidnischen Zeiten, Genien der Natur, Dämonen!

Aus der Vergessenheit und der Verdammnis kommt hervor: ich gebe euch für einen Abend eure alte Macht wieder. Ich liefere euch diese Herzen, ich liefere euch diese Körper: herrschet wieder, möge der Trieb über das Laster triumphieren!

Und du, großer Pan, erscheine, befiehl, sprich dein Orakel, in diesem Tempel, der für deine Gottheit erbaut wurde.

 

Dann sprach er mit dumpfer Stimme, wie ein stilles Gebet.

 

Deinen Namen auszusprechen, dein Zeichen unter der nahen Wollust zu machen, mein göttlicher Erlöser, das würde ich nicht wagen.

Du hast verboten, daß man das Böse dem Schlimmeren gegenüber stellt, daß man die Sünde durch die Sünde heilt! Zu deinen vollkommenen Werken braucht man fleckenlose Hände; um deine Wege zu erleuchten, braucht man reine Strahlen.

Da aber die Ohnmacht des Priesters in diese Versündigung ausbricht, erhebe ich hier als Dichter und Musiker die Leier, die zuerst den Menschen die Sanftmut offenbarte. Im Namen der Harmonie, im Namen der Natur komme ich und versöhne die ionische Weise mit dem dorischen Männlichen: ich stimme das Liebesinstrument, das verstimmt war. Deine Gnade wird dann, wenn sie geruht, auf ein getöntes Klavier wirken, nach dem erhabenen Gesetz des Ursprungs.

 

Jetzt erhob er die Stimme.

 

Richte dich auf in deiner Scham und deiner Erhabenheit, Symbol der Sünde, Symbol von Gott selbst, Form, welche die Form schafft! O Zeichen des Lebens, o Mittel der Lust, Zepter der Natur, erste Macht des Werdens! O ursprüngliche Gebärde, verzückte Gebärde von allem, was atmet! Schlüssel des Seins, Schlüssel der Liebe, öffne den Frauen, die dich verleugnet, dich verkannt haben, wieder das ruhige Paradies der heiteren Wollüste! Unterwirf, göttliche Zahl, die Zweiheit deinem Gesetz!

O Phallus, du mächtiger Gott!

 

Er nähert einem Dreifuß die Bahn des Schleiers: die Flamme läuft, klettert und entblößt den Phallus, der jetzt sichtbar wird.

Auf den Doppelsofas entsteht eine Bewegung, die protestiert. Die Seltsamkeit der Szene hatte bisher den geheimen Plan verborgen; aber die Enthüllung des Symbols erweckt wieder den alten lesbischen Eigensinn.

Auf ein Zeichen von Tammuz beginnt die göttliche Frühlingsszene der Walküre.

Während Rose und Stella von einem Biklinium zum andern gehen, um die Gläser der Gynandres zu füllen, zerstäuben Lucia und Lilith den Liquor des van Helmont auf die Männer.

Als dieser Ritus erfüllt ist, wird die Beleuchtung schwächer und ein Halbschatten senkt sich herab.

Es regnet wohlriechende Düfte in kleinen Tropfen.

Angesichts des Phallus ist Tammuz unbeweglich geblieben: jetzt verläßt er den Saal und scheint zu verschwinden. Die vier Weinträgerinnen folgen ihm.

Das Orchester vollendet die erhabene Liebe zwischen Siegmund und Sieglinde. Schon stimmen die Nerven zu einander, schon fühlt man die Versöhnung der Geschlechter nahen.


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