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VIII.
Eine widerlegte Theorie

– Hört, meine Schwestern, die Worte unserer Schutzherrin Sappho! Sie hat sich mir Unwürdigen kundgegeben, um euch besser zu überzeugen.

»Die Sterblichen haben nur zwei Ausdrücke, um zu bezeichnen, was man fliehen und aufsuchen muß: das Böse und das Gute. Aber wie erkennen, ob eine Sache gut oder böse ist? Der geringste Sophist wird es übernehmen, uns bald von dem Verbrechen, bald von dem Recht derselben Handlung zu überzeugen.

»Das Mittel der Unterscheidung, das die Unsterblichen in uns gelegt haben, ist nicht diese fast immer falsche Wage, die man Gewissen nennt, sondern dieser Trieb, den man die Liebe zum Schönen nennt.

»Beschwört einen Undankbaren, einen Geizigen, einen Mörder: das Bild, das euer Geist erfaßt, wird immer häßlich, widrig sein. Stellt euch einen Helden, einen großmütigen Menschen vor, einen, der sich aufopfert: eure Einbildungskraft wird durch Gestalten mit edlen Zügen gerührt werden.

»Wendet diese Art Kritik auf die Knabenschändung an: alsbald wird eine lächerliche Szene euch ärgern, die ihr mit Ekel verjagt.

»Wenn ihr dagegen in euerm Geiste ein lesbisches Paar hervorruft: die weibliche Anmut zeigt sich zwei Male: ihr könnt sie als Kamee darstellen.

»Sollte der Anblick, der schön ist, strafbar sein? Habe ich gut gesprochen, o meine Schwestern?

Tammuz zuckte die Achseln.

– Ein Satz von Platon, getrennt von dem, was ihm vorangeht, und dem, was ihm folgt, erlaubt Ihnen, dem schlechten Triebe der Anwesenden zu schmeicheln.

»Der göttliche Philosoph gibt in seinem »Symposion« eine Askese, das heißt, ein abgestuftes Streben nach der Nichtliebe.

»Nur das Schöne lieben, das ist der erste Schritt. Diese einzige Forderung macht die Liebe selten, weil man wählen muß und weil man Umstände abwartet, die nicht häßlich sind. Nach meiner Ansicht begeht das Paar, mag es noch so hübsch sein, etwas Häßliches an jenem banalen Orte, der »chambre séparée genannt wird.

»Nur die doppelte Schönheit lieben, das heißt, die Verbindung der schönen Seele mit dem schönen Körper: dieses zweite Gesetz macht die Gelegenheit zu lieben noch seltener. Sie wissen, wie selten gleich edle Formen und Gefühle sich zusammenfinden.

»Weder den Körper noch die Seele lieben, sondern in allen das Ideal selbst, auf alle verteilt: das ist die dritte Stufe der Vollendung.

»Wenn die lesbischen Liebkosungen mehr dekorativ bleiben, was man bestreiten kann, denn die plastische Liebkosung liegt im Kuß allein – und ich erbiete mich, ihn ebenso hübsch zu geben, wie eine von Ihnen – sind die Liebkosungen doch nur der niedrige und sinnliche Teil der Liebe.

»Selbst das Suchen nach schönen Formen bildet nur dann eine Idealität, wenn man es betrachtend ausübt: sonst handelt es sich um mehr oder weniger verfeinerte Wollust, und das ist sehr wenig.

»Aber bei der Frau fällt die Seele beim geringsten Kitzel in die Nerven, und deshalb beschmutzt sie nicht nur ihren Körper.

»Wer dahin gelangt, Sinne außerhalb der Liebe zu haben; wer begehrt, ohne zu lieben; kurz wer Unzucht treibt: ist keine Frau mehr, und da sie nie ein Mann werden kann, nenne ich sie »Gynandre«.

Seine Sprache wurde lebhaft.

– Ihr seid die kleinen Männer: ihr tragt den Smoking, die kurzen Handschuhe, das Monokel und den flachen Absatz. Ihr seid die kleinen Männer: ihr raucht, trinkt Liköre, lebt nachts, verbringt den Tag im Stall oder Waffensaal. Ihr seid die kleinen Männer: ihr macht des Abends dem Handlungsreisenden die Dirne um ein Goldstück streitig, ihr wälzt euch in den Vergnügungen der Garnison! Das ist euer Ehrgeiz: den eleganten Kretin zu spielen. Und euer Vorbild, dem ihr nachahmt, euer Mannesideal nannte sich vor zwanzig Jahren »Geck«: heute kenne ich seinen Namen nicht.

– Hüten Sie sich, Tammuz, sagte Stella; es gibt irgendwo im Keller der Bibliotheken ein Buch über den Nutzen der Geißelung in den Freuden der Liebe. Sollte das nicht von der seelischen Geißelung gemeint sein? Ihr Zorn betont und belebt unsere …

Tammuz zuckte wieder die Achseln.

– Suchen Sie nicht das Wort, Stella; Sie sind weder, noch werden jemals Lesbierin: Sie sind zu intelligent!

– Ei, es sind Leute hier, rief Lilith; werfen Sie nicht mit Steinen.

– Und nehmen Sie Ihren platonischen Vortrag wieder auf, das ist mehr wert, schloß Goulaine.

– Wollust mit gleichgeschlechtlichen Nervenkräften treiben, ist möglich; um Liebe zu erzeugen, dazu sind entgegengesetzte Seelenkräfte nötig … Nein? Die Probe ist eure Sodomie …

– Oh, Tammuz!

– Ich will gern schweigen.

– Nein, seien Sie höflich!

– Ich bin genau. Die Sodomie verwirklicht sich, wenn die Geschlechtlichkeit der einen oder der andern Art schwindet. Was ist eine schwindende Weiblichkeit anders als eine unheilbare Knabenhaftigkeit. Das Royal Maupin, das die positive Eigenschaft verwirklicht, besteht aus Gymnasiasten. Jedes Mal, wenn ich euch wiedersehe, erhalte ich den Eindruck von Schülern, die Ferien haben, von Schülern, die zugleich frühreif wie verlebt sind.

– Was haben Sie heute? Kehren wir zu Platon zurück.

– Die Gynandre, die nicht mehr Verstand und Gehirn hat als ein Kind von dreizehn Jahren, wird neben einer Frau sein wie ein Narr, mit einer Närrin vereinigt: niemals wird Erhöhung noch Verbesserung aus diesen abscheulichen Mischungen herauskommen. Sie wissen es sehr gut, daß man von Weib zu Weib schamloser ist als von Weib zu Mann. Ah, wie ihr Frauen, in den Augenblicken der Offenheit, die Frauen richtet! Wie ihr sie verachtet, eure Schwestern! In diesem Punkte hat das Leben die Ansicht des Theodor von Serannes Gautier, Mlle. De Maupin reformiert: niemals glaubt ihr. Ei, glauben: zu welchem Zweck? Einmal Gynandre, wird das Leiden vielleicht das Genießen?

– Und die Frauen, die zur dritten Stufe gelangen?

– Dahin gelangt niemals eine. Für euch ist das Ideal ein Wesen des Stelldicheins, der »chambre séparée« oder des Bettes: euer Ideal ist der Kitzel! Wenn ihr vom Theater sprecht, beurteilt ihr niemals das Stück. Ihr geht nicht dahin, um ein Werk zu bewundern, sondern um eine Schauspielerin zu begehren. Als würdige Nacheiferin des Parisers, betrachtet ihr die große Materna: ihr hört sie mit dem Gedanken an Beischlaf; die edle Künstlerin, die Brunhilde singt, vernehmt ihr kaum: eure Ohren sind in euern Lenden. In der Kunst ist euer ganzer Geschmack die kleine Frau, das heißt, die Nervensache. Eine Theorie von Lesbos? Es gibt keine Theorie ohne Gedanken, und es gibt keinen Gedanken bei der Frau.

– Welchen Prediger haben wir an unserm Busen gewärmt?

– Tammuz, Sie werden sühnen!

– Tammuz, Sie werden widerrufen!

– Tammuz, Sie werden lieben!

– Ach, sicher nicht! Ihr seid anständige und oft ritterliche Jünglinge, aber ihr seid Jünglinge … von dreizehn Jahren.

Stella von Senanques erhob die Arme ironisch als Beterin.

– Du, die ihren Namen unserm lieben Kummer gibt, freundliche und edle Insel, Hüterin von Orpheus' Leier und Haupt, Lesbos, ich rufe dich an! Und du, Sappho, Priesterin unserer Herzen, eile herbei und beschäme den Verächter.

– Stella, warum spielen Sie die Chorführerin, wenn Sie sich über den Chor lustig machen?

– Weil ich Ihre Moral ebenso töricht finde wie deren Marotte: man widersetzt sich nicht einem Wahnsinn.

– Sie geben vor, über deren Verirrung zu schweben: wer sind Sie?

Sie legte ihm die Hand auf den Mund und sprach ernst:

– Schweigen Sie, Tammuz! Wenn Sie mich definieren, würden Sie so viel bekennen, daß ich Sie stumm wünsche, im Namen der Scham von uns beiden.


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