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27. Kapitel.
Sühne.

Sinclair war gerade im Begriff, am Viktoria-Bahnhof den Zug zu besteigen, als Frau Kenyon auf ihn zukam. »Ich fahre mit Ihnen, Herr Sinclair,« sagte sie.

»Halten Sie das für klug, gnädige Frau?«

»Ich begleite Sie – klug oder nicht.« Und schon war sie eingestiegen.

Sinclair blickte in das schöne, blasse Antlitz Moiras, in das der Schmerz Furchen eingegraben hatte, die nur die Zeit mildern konnte.

»Herr Sinclair, ich kann … ich muß Ihnen jetzt gestehen, daß dieses schreckliche Ereignis nicht jenen überwältigenden Eindruck in mir hervorrief, der zu erwarten gewesen wäre.«

»Sie ahnten die Wahrheit?«

»Niemand weiß, was ich gelitten habe. Niemals hätte ich gesprochen, wenn das Ereignis nicht eingetreten wäre. Herr Sinclair, mein Gatte war ein Teufel!«

»Er war sicherlich wahnsinnig, Frau Kenyon.«

Sie lachte bitter. »Es ist schwer zu sagen, wo der Wahnsinn beginnt. Mein Leben war eine Hölle seit dem Tage der Hochzeit. Er hatte eine sadistische Freude daran, Schmerz zuzufügen, um ›Eindrücke‹ für seine Stücke zu erhalten. Er rühmte sich vor mir und allen Leuten seiner Untreue. Hinter der Maske, die er in Gesellschaft trug, verbarg er sein wahres Gesicht – das eines brutalen Wüstlings.«

»Es wundert mich, daß Sie so lange bei Ihrem Gatten ausgeharrt haben.«

»Ich bin Katholikin und meine Religion kennt keine Scheidung. Das Band der Ehe ist uns heilig, ich mußte bleiben – und dulden. Wer welche Qual bedeutete dieses Leben! Werden Sie mir glauben, wenn ich Ihnen sage, daß mir selbst die Gefangenschaft als eine willkommene Abwechslung erschien – obgleich ich in der ständigen Furcht lebte, er würde eines Tages kommen und mich ermorden.«

Ein Gedanke durchzuckte Sinclair. »Sie verdächtigten ihn des Mordes an der armen Kitty?«

» Ich wußte, daß er der Mörder war. Ich sah ihn aus dem Zimmer kommen. Er schloß die Türe, wandte sich um und erblickte mich.«

»Das also war der Grund für die Entführung. Ich hatte geglaubt, er wolle Sie nur verhindern, Anthony zu entlasten.«

»Beides. Er wußte, daß ich ihn nur verraten würde, um ein anderes Menschenleben zu retten.«

»Anderenfalls würden Sie ihn nicht angezeigt haben?«

»Er war mein Mann!«

»Was haben Sie für Zukunftspläne?«

»Das Leben hat mir nichts mehr zu bieten,« antwortete sie traurig. »Der Schatten dieses Mannes wird immer zwischen George und mir stehen. Wir können nur Freunde sein. Nur eines kann ich tun: ihm helfen, das Furchtbare, das er durchgemacht hat, zu vergessen.«

Der Zug fuhr langsam in den Bahnhof ein und sie stiegen aus.

»Ich halte es für besser, daß ich ihn allein vom Gefängnis abhole. Ich werde Sie in ein Hotel führen, wo Sie uns erwarten können.«

*

Ein hohläugiger, grauhaariger Mann verließ, auf Sinclair gestützt, das Zuchthaus.

»Wohin jetzt?« Seine Stimme klang starr und leblos.

»Man erwartet Sie, Anthony.« Er führte seinen Begleiter durch die lebhafte Hauptstraße zum Zentrum des Städtchens.

Keiner sprach. Anthony schien tief in Gedanken versunken. Es war alles so märchenhaft, so unglaubwürdig: Freie Menschen gingen ihrer Beschäftigung nach. Sorglose Kinder spielten fröhliche Spiele, ohne sich eine Vorstellung zu machen von der Hölle, die sich wenige Schritte von ihnen auftat.

»Ich habe verdient gelitten,« brach Anthony plötzlich das Schweigen. »Ich war zu eingebildet, zu hochmütig. Ich glaubte, die ganze Welt liege zu meinen Füßen. Nun weiß ich, wie nichtig der Mensch ist.«

»Sie werden wohl nach einiger Zeit wieder zum Theater zurückkehren?« fragte Sinclair, um Anthony von seinen trüben Gedanken abzulenken.

»Niemals! Ich werde ins Ausland gehen, irgendwohin, wo ich vergessen kann.«

»Wir sind angelangt,« sagte Sinclair, als sie um die Ecke bogen und das Woolpack Hotel vor ihnen lag. »Frau Kenyon erwartet Sie in diesem Zimmer, treten Sie nur ein.«

Anthony trat ein und Sinclair vernahm einen Freudenschrei. Als er in die Halle zurückging, lächelte er.

Im gleichen Augenblick hielt ein Auto vor dem Tor des Hotels. Ein Mann sprang heraus und eilte auf den Detektiv zu. »Hallo, Sir Arthur! Ich dachte mir, daß wir Sie hier finden würden!« rief Barrat, Sinclair kräftig die Hand schüttelnd. »Wir sind Ihnen hieher nachgejagt. Meine Frau ist im Auto. Wo stecken Moira und George?«

»Eins nach dem andern!« antwortete Sinclair lachend. »Die beiden sind dort drinnen. Aber warum zum Teufel nennen Sie mich Sir Arthur?«

»Was, Sie wissen noch nichts? Der Minister des Innern hat Ihren Namen auf die Adelsliste gesetzt. Fein, was?«

Sinclair lächelte ein bißchen zynisch. ›Boyce wird sich freuen‹ war sein erster Gedanke.

»Komm, Madeline,« sagte Barrat. »Sir Arthur Sinclair ist hier.«

»Aber so warten Sie doch wenigstens, bis ich offiziell ein großes Tier geworden bin!« meinte Sinclair. Freilich konnte er nicht verhehlen, daß er die Auszeichnung voll zu würdigen wußte. Er errötete wie ein junges Mädchen, als Madeline ihm gratulierte.

»Wir haben alles vorbereitet, Herr Sinclair – pardon, Sir Arthur,« sagte Madeline fröhlich. »George und Moira müssen mit uns kommen und Sie natürlich auch. Wir haben ein Häuschen in Devonshire, ein wahres Schmuckkästchen,« – sie senkte die Stimme – »wo sie die Vergangenheit vergessen können. Reden Sie ihnen auch zu, mitzukommen.«

Die Türe hinter ihnen öffnete sich und die beiden kamen heraus. Anthonys Gesicht erschien ruhig und friedvoll. Moira erhob stolz das Haupt und in ihren Augen glänzte ein Licht, das vom Himmel selbst zu kommen schien.

Wortlos begrüßten sich die vier Freunde.

»Steigt ein,« forderte sie Madeline auf. »Sie kommen zu mir, George, und Moira kann vorne sitzen. Sir Arthur wird sich schon irgendwo hineinquetschen. Zuerst nach London, um das Notwendigste zu holen und dann nach Devonshire, der Sonne entgegen!«

Die beiden, die so viel gelitten hatten, tauschten einen raschen Blick des Einverständnisses.

»Gut, wir kommen,« sagte Moira. »Wenn wir noch einmal glücklich werden, so danken wir es Euch.«

Sinclair beugte sich über Moiras Hand und küßte sie innig. »Gott gebe Ihnen endlich Frieden!« Seine Stimme zitterte ein wenig.

»Kommen Sie denn nicht mit uns?« fragte Madeline.

»Nein, ich fahre nach London zurück. Meine Arbeit ist getan. Euch allen wünsche ich eine frohe Zukunft!«

Der Wagen setzte sich in Bewegung. Lange schaute ihm Sinclair nach. Dann schritt er langsam dem Bahnhof zu.

 

Ende.

 


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