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2. Kapitel.
Am nächsten Morgen.

Man sagt, daß die Eingeborenen Südafrikas unbegreifliche Mittel und Wege haben, um Nachrichten mit der Geschwindigkeit telegraphischer Uebertragung weiterzubefördern, aber die Raschheit, mit der sich die Nachricht von einem Mord ausbreitet, ist nicht weniger erstaunlich.

Vielleicht hatte das Dienstmädchen geschwätzt oder ein Polizist konnte nicht reinen Mund halten; wer weiß? Jedenfalls war die Tatsache nicht wegzuleugnen, daß in aller Frühe bereits eine aufgeregte ländliche Menschenmenge das Haus umstand, wie Sinclair es vorausgesagt hatte. Es was eine wahre Erleichterung, daß endlich das Polizeiauto erschien, dem Sergeant Curtis und drei Polizisten entstiegen und sofort Anstalten trafen, die Neugierigen vom Hause fernzuhalten.

Es war ein schöner Morgen, ein leichter Wind wehte, der Garten war erfüllt von dem schweren Duft der Sommerblumen. Man konnte es kaum für möglich halten, daß dieser liebliche Fleck Erde vor wenigen Stunden der Schauplatz eines grauenerregenden Verbrechens gewesen war.

Sinclair stand bei der Türe und genoß den schönen Morgen in vollen Zügen; er war zu abgehärtet, um das Unheimliche zu empfinden, das auf den anderen lastete.

Moira war schon auf den Beinen, bleich, mit dunklen Ringen unter den Augen, und machte sich in der Küche tapfer an die Arbeit, denn schließlich – Männer wollen essen, Mord oder nicht Mord.

Die drei Herren im Wohnzimmer waren noch nicht aus ihrem unruhigen Schlummer erwacht und Sinclair studierte als erfahrener Physiognomiker ihre Gesichter.

Niemand sieht besonders vorteilhaft aus, wenn er in den Kleidern und ungewaschen in einem Armsessel schläft, und Sinclair fuhr sich auch selber mit einem gewissen Gefühl des Unbehagens um das unrasierte Kinn.

Die drei Männer stellten drei vollkommen verschiedene, sehr ausgeprägte Typen dar. Der Dramatiker machte mit seinem kraftvoll energischen Gesicht trotz seiner wohlgezählten vierzig Jahre einen durchaus jugendlichen Eindruck. Sein Haar war ein wenig angegraut, aber die Gesichtsfarbe frisch und unverbraucht; seine Züge waren die eines Mannes, der zu befehlen gewohnt ist.

Anthony war ein ganz anderer Typ. Er hatte ein schöngeschnittenes sensitives Knabengesicht, ein Gesicht, das vielleicht ein wenig zu sehr an ein Ansichtskartenportrait gemahnte, und dichtes, lockiges, für einen strengen Geschmack etwas zu langes Haar. Seine schlanken, zarten Finger waren die eines Künstlers und selbst der Schlaf konnte dem etwas weiblichen Reiz seiner Züge nichts anhaben.

Farrar wiederum war der vollkommene Typ des Soldaten; sein energischer Mund drückte eine gewisse Rücksichtslosigkeit aus. Sinclair warf einen prüfenden Blick auf ihn, als ob er sich etwas, das er vergessen hatte, in die Erinnerung zurückrufen wolle.

Das Eintreten Sergeant Curtis' weckte die Schlafenden. Kenyon dehnte und reckte sich und gähnte einigemale herzhaft, dann ging ein Schauer durch seinen Körper, als wenn ihm plötzlich die schrecklichen Ereignisse wieder zum Bewußtsein gekommen wären. Sein starker Intellekt erfaßte aber die Situation sofort und er hatte sich gleich wieder in der Gewalt. Anthony sprang mit einem Ruck auf, bedeckte sein Gesicht mit den Händen und stöhnte in Erinnerung an die furchtbaren Eindrücke des Vortages.

Farrar war im Augenblick, in dem er die Augen öffnete, auch bereits vollkommen wach, eine Eigenschaft, die man in langem Schützengrabendienst erwirbt. Er begrüßte Sinclair mit einem Lächeln und fragte beiläufig, ob sich in der Nacht irgend etwas ereignet habe. Dann schenkte er sich aus der neben ihm stehenden Karaffe einen Whisky ein und schüttete ihn unvermischt herunter.

»Eine ganze Menge Zeitungsphotographen belagern das Haus,« berichtete Curtis.

»Halten Sie sie draußen,« sagte Sinclair kurz.

»Das versuche ich natürlich, aber fortwährend kommen neue Wagen an, und jeder bringt einen Journalisten mit einem riesigen Notizbuch. Die besonders schlauen machen Umgehungsversuche und suchen von hinten durch den Garten einzudringen.«

»Postieren Sie einen Mann im Garten. Es ist äußerst wichtig, daß niemand hereinkommt, denn ich habe noch keine genaue Untersuchung vornehmen können.«

»In Ordnung!« sagte Curtis und ging, um das Nötige vorzukehren.

Frau Kenyon hatte inzwischen das Frühstück auftragen lassen und lud die Herren ein, sich zu bedienen. Sinclair begnügte sich mit einer Tasse Kaffee, bedankte sich bei der Hausfrau und forderte Curtis auf, ihm in das Arbeitszimmer zu folgen.

Hell und freundlich schien die Morgensonne durch das offene Fenster in den Raum, aber die häßlichen Flecken auf dem Teppich sprachen nur allzu beredt von dem furchtbaren Verbrechen des Vortages.

»Hören Sie aufmerksam zu, Curtis. Während man drinnen frühstückt, will ich Ihnen alles sagen, was ich weiß, denn schließlich geht die Sache in erster Linie Sie an und ich kann ganz plötzlich in einem wichtigen Fall, mit dem ich mich beschäftige, abberufen werden.«

»Ich freue mich jedenfalls darüber, daß der Zufall Sie hergeführt hat,« sagte Curtis herzlich.

»Zunächst die Aussagen von gestern Abend. Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit darauf lenken, daß Fräulein Lake aus freiem Willen dieses Zimmer betreten hat, und daß sie sogleich begann, Klavier zu spielen. Das kann natürlich Zufall sein, aber anderseits ist das Klavierspiel ein uralter Trick, um die Aufmerksamkeit von irgend etwas abzulenken. Die Ermordete ließ das Fenster offen, verriegelte aber die Türe. Das sieht sehr stark nach einer Verabredung aus. Soweit ist alles klar. Aber ich bin in der Lage, Ihnen von einem neuen Faktum Mitteilung zu machen.«

Curtis lehnte sich ein wenig vor, um kein Wort zu verlieren.

»Bevor die Leiche weggeschafft wurde, hatte ich nur einen Augenblick Zeit, um eine Untersuchung vorzunehmen. Das Messer, mit dem das Verbrechen begangen wurde, lag auf dem Boden, eine sehr scharfe Klinge mit Holzgriff, beinahe ein Dolch, wie er im Schützengraben vielfach verwendet wurde. Ich werde die Waffe auf Fingerabdrücke untersuchen lassen, aber ich bin ziemlich überzeugt davon, daß der Täter Handschuhe trug, oder – nun, man wird ja sehen,« Sinclair dachte einen Augenblick nach und fuhr dann fort: »Als ich den Raum genauer durchsuchte, fand ich dies hier.« Er zog ein zerknittertes Stück Papier aus der Tasche.

»Diesen Brief in Maschinenschrift muß das Mädchen unmittelbar vor ihrer Ermordung fallen gelassen haben. Er lag in der Nähe des Klaviersessels.« Er glättete den Brief, dessen Inhalt der folgende war:

»Liebling! Es nützt nichts, ich kann nicht weggehen, ohne Dich wenigstens noch ein letztes Mal gesehen zu haben. Du verlangst zuviel von mir. Unsere Liebe ist nichts Häßliches, nichts Niedriges, und wir können der Welt offen gegenübertreten, wenn es nötig ist. Aber Du brauchst nur ein Wort zu sagen, und ich gehe für immer aus Deinem Leben, auch wenn das das Ende meiner Karriere bedeutet. Ich komme morgen, in der Hoffnung, Dich zu sehen. Versuche einige Minuten im Arbeitszimmer allein zu bleiben. Ich kann nicht mehr sagen, aber Du weißt es; mein Herz ruht in Deinen Händen. Ich liebe Dich.« Das war alles.

»Was schließen Sie daraus?« fragte Curtis. »Mir scheint aus dem Brief klar hervorzugehen, daß jemand sich ansagte, und daß er kam – mit dem schrecklichen Ergebnis, das wir kennen.«

»Möglich,« sagte Sinclair. »Aber ein Brief in Maschinenschrift ist immer verdächtig. Er kann einen Versuch bedeuten, uns auf eine falsche Fährte zu locken.«

»Was haben Sie unternommen?«

»Ich untersuchte den Fußboden so genau als möglich, aber resultatlos, da so viele Personen das Zimmer betreten haben. Draußen auf dem Rasen sind deutliche Fußspuren, die uns vielleicht irgend etwas verraten können. Wir sollten sie uns anschauen, solange sie noch frisch sind.«

Die beiden Männer stiegen durch die Fenstertüre. Der finstere Wald reichte hier beinahe bis an das Haus. Für den Laien kaum erkennbare Merkmale wiesen dem geschulten Auge Sinclairs sogleich die Fußspuren, die Farrar hinterlassen hatte, als er um das Haus herumgeeilt war. Auch die bei der Verfolgung des Täters entstandenen Eindrücke von Kenyons und Farrars Füßen waren deutlich zu erkennen. Aber noch etwas fand der Detektiv: zwei deutliche Spurenpaare bewiesen, daß jemand aus dem Wald zum Fenster und fast den gleichen Weg wieder zurückgegangen war. Sie verloren sich im Walde, aber geknickte Zweige und niedergetretenes Farnkraut zeigten den weiteren Weg des Mannes. Sinclair nahm genaue Messungen dieser Spuren vor und machte sich Notizen, die möglicherweise in der Folge einen Menschen an den Galgen bringen sollten.

Sie waren kaum wieder im Zimmer zurück, als sie einen Mann gewahr wurden, der wie ein Verrückter schreiend und gestikulierend atemlos aus dem Wald gelaufen kam. Der diensttuende Polizist hielt ihn auf und führte ihn zum Fenster des Arbeitszimmers.

»Wer ist denn das?« fragte Sinclair scharf.

»Gestatten Sie, daß ich mich vorstelle – ich vertrete den »Sunday Imperial«, und ich habe etwas gefunden, das von größter Wichtigkeit bei Ihrer Untersuchung sein kann.«

Der junge Mann, der kaum über zwanzig war, übergab Sinclair mit einer großartigen Geste seine Karte und zündete sich eine Zigarette an.

Der Detektiv lächelte innerlich. Er kannte diesen Typ und bewunderte ihn wegen seiner Energie und seines Draufgängertums, aber äußerlich ließ er sich nichts merken und fragte kurz: »Das wäre?«

»Herr Sinclair, ich habe den Wald durchsucht und diesen Handschuh gefunden. Ich hätte ihn natürlich meiner Zeitung bringen und einen fabelhaften Artikel daraus machen können, aber ich habe ihn statt dessen Ihnen gebracht. Selbstlos, was?«

Er übergab Sinclair den Handschuh, zog ein Notizbuch aus der Tasche und machte sich ohne viel Federlesens daran, eine Skizze des Zimmers zu zeichnen.

»Adieu, junger Mann,« sagte Sinclair. »Ich danke Ihnen für den Handschuh, der möglicherweise sehr nützlich sein kann, aber nichtsdestoweniger müssen Sie von hier verschwinden. Ich kann einem Journalisten nicht erlauben, was ich den anderen verweigere.«

»Gemacht, Herr Sinclair,« sagte der Jüngling grinsend. »Nur so ganz nebenbei, haben Sie zufällig schon eine Ahnung, wer der Mörder ist?«

»Machen Sie, daß Sie rauskommen, Verehrtester!« rief Sinclair, wider Willen lachend.

Der Handschuh gehörte zu einer linken Hand und war aus Ziegenleder. Sinclair untersuchte ihn rasch und übergab ihn dann Curtis. »Da haben Sie ihn, aber messen Sie ihm nicht allzu viel Bedeutung bei. Uebrigens habe ich Ihnen noch eine Mitteilung zu machen. Wie Sie wissen, habe ich die Nacht in diesem Zimmer zugebracht? ich hatte so eine Ahnung, als ob der Täter zurückkommen werde, – wegen des Briefes.«

»Nun, und kam er?«

»Ja. Das heißt, er versuchte es. Ich hatte das Fenster offen gelassen. Er kroch durch den Garten und ich erwartete ihn, aber er schöpfte offenbar Argwohn und wagte nicht, nahe heranzukommen. Es war stockdunkel und plötzlich war er verschwunden. Eine Verfolgung wäre aussichtslos gewesen und hätte ihn nur gewarnt.«

»Sie glauben, daß er nochmals versuchen wird …?«

»Möglich, aber unwahrscheinlich,« meinte Sinclair mit einem Gesichtsausdruck, den der andere nicht zu enträtseln vermochte.

»Nur noch eine Frage, Herr Sinclair. Haben Sie irgend einen Verdacht? Ich weiß, daß Sie eine wundervolle Intuition haben.«

»Es wäre mir lieber, wenn Sie die Untersuchung ganz unbeeinflußt von mir durchführen würden.«

Sie kehrten in das Wohnzimmer zurück, wo die anderen in einer gedrückten Gruppe beisammenstanden und sich im Flüsterton unterhielten.

Der Arzt war angekommen und erwartete Sinclairs Instruktionen. Kenyon näherte sich dem Detektiv, Ergriffenheit in den Zügen. »Sollen wir noch hierbleiben, Herr Sinclair, oder können wir gehen? Dieser Ort ist mir verhaßt geworden, und ich würde gerne meine Frau von hier fortnehmen. Sie ist entsetzlich aufgeregt und ich fürchte, daß sie mir zusammenbricht.«

»Es ist absolut nicht notwendig, daß Sie noch hierbleiben. Im Gegenteil, es ist besser, wenn Sie das Haus der Polizei übergeben.«

»Danke, dann fahren wir nach London zurück. In dieser Umgebung ist es mir vollkommen unmöglich, eine Zeile zu schreiben oder auch nur eines meiner Stücke durchzulesen. Es ist merkwürdig,« fügte er mit einem matten Lächeln bei, »daß ich, der ich mir als Autor gruseliger Stücke einen Namen gemacht habe, in solch eine entsetzliche Geschichte verwickelt worden bin. Anthony, kommen Sie mit uns in die Stadt?«

Anthony fuhr aus seinen Gedanken auf.

»Ja, es wird das beste sein.« Seine Stimme klang wie erstorben. »Ich muß nur meinen Handkoffer vom Gasthaus holen. Bei der Verhandlung über die Todesursache werden wir ja alle anwesend sein müssen, nicht wahr?«

»Gewiß,« sagte Sinclair. »Aber der Fall liegt nunmehr in den Händen von Sergeant Curtis. Vielleicht lassen Sie ihm Ihre Adresse zurück.«

»Schön,« stimmte Kenyon zu. »Farrar, wollen Sie bitte den Wagen bestellen? Uebrigens gebe ich Ihnen zwei Monate Urlaub,« fügte er kalt hinzu. »Ich brauche selbst Erholung nach diesem entsetzlichen Vorfall.«

Der Sekretär schaute ihn erstaunt an. »Sie können mich doch nachher hoffentlich wieder brauchen?« fragte er.

»Ich glaube wohl. Gegenwärtig will ich aber aus all dem heraus. Ich werde Ihnen Ihren Gehalt mittels Scheck auszahlen. Kommen Sie in mein Londoner Haus, um weitere Instruktionen zu empfangen. Sie kennen meine Londoner Adresse, Herr Sinclair?« Sinclair nickte. »Das wäre also so weit in Ordnung. Ich werde meiner Frau sagen, sie möge sich fertig machen.«

»Brauchen Sie etwas von mir, Herr Sinclair?« fragte Dr. Weaver, als die anderen gegangen waren.

»Ja, ich möchte ein paar Worte mit Ihnen sprechen.«

»Ich stehe zu Ihrer Verfügung.«

»Wann haben Sie Fräulein Lake zum letzten Mal gesehen?«

Der Arzt wurde kreidebleich. »Was meinen Sie damit?« stammelte er.

»Sagen Sie mir die Wahrheit. Fräulein Lake hat Sie in Littleworth besucht. Wie oft?«

»Ein einziges Mal. Meine ärztliche Schweigepflicht verbot mir bisher, die Tatsache zu erwähnen.«

»Wie kam sie?«

»Per Auto. Hunter, Herrn Kenyons Chauffeur, brachte sie zu mir.«

»Zu welchem Zweck?«

»Darüber verweigere ich die Aussage.«

»Schön, lassen wir das vorläufig. Im Laufe der Untersuchung werden Sie jedenfalls aussagen müssen. Sie hatten die Absicht, sie in diesem Haus zu besuchen.«

»Woher wissen Sie das?«

Sinclair zog einen Brief aus der Tasche, den er dem unglücklichen Doktor reichte.

»Ich fand dieses Schreiben in Fräulein Lakes Handtasche. Ist Ihre Schrift, wenn ich nicht irre.«

»Es ist meine Schrift,« gestand der Arzt mit zitternder Stimme.

»Dieser Brief wird bei der Verhandlung über die Todesursache vorgelegt werden. Ich meinerseits möchte nur eine Frage an Sie richten, die zu beantworten Ihr freier Wille ist. Haben Sie die Verabredung eingehalten?«

»Nein. Ich sage das mit allem Nachdruck. Uebrigens kann ich einwandfrei nachweisen, daß diese Zusammenkunft nicht stattfand.«

»Gut. Das ist alles, was ich Sie zu fragen hatte. Sie können jetzt gehen, Herr Doktor.«

Der Arzt schlich ohne ein Wort aus dem Zimmer, während Sinclair sich in einen Armsessel warf und seine Pfeife anzündete.


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