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26. Kapitel.
Erklärungen.

Die Szene, die sich im Studio der Radiogesellschaft abgespielt hatte, jagte eine Welle des Entsetzens durch das Land. Sie bildete den einzigen Gesprächsstoff in den Klubs und auf der Eisenbahn, an den Stätten der Arbeit und des Vergnügens.

Zuerst glaubte man an einen zu weit getriebenen schlechten Witz und erst als die Zeitungen die Nachricht vom Tode des Dramatikers Robert Kenyon in sensationeller Aufmachung veröffentlichten, begann die Wahrheit durchzusickern. Wer auch jetzt noch war man der Ansicht, daß der Schriftsteller plötzlich irrsinnig geworden sei und in diesem Zustande seinem Leben ein Ende gemacht habe.

Der Minister des Innern hatte Sinclair sofort zu sich bitten lassen und empfing ihn auf der Schwelle, seines Arbeitszimmers. »Treten Sie ein, Sinclair,« begrüßte ihn Sir John. »Wir erwarten Sie schon sehnsüchtig.«

»Tut mir leid, daß ich mich verspätet habe, Herr Minister,« sagte Sinclair, platznehmend. »Ich komme geradewegs von den Radioleuten.«

»Wundert mich, daß man Sie überhaupt fortgelassen hat,« meinte Sir John lächelnd. »Werden die Leute Sie verfolgen? Einen üblen Streich haben Sie ihnen schon gespielt! Uebrigens – kennen Sie Sir William Falcon, den Reichsstaatsanwalt? Er ist begierig, Ihre Geschichte zu hören.«

Die beiden Männer schüttelten sich die Hand.

»Also wie haben die Radioleute die Sache aufgenommen?« fragte der Minister des Innern.

»Es war nicht einmal so arg, als ich gefürchtet hatte. Vielleicht haben die Herrschaften sich insgeheim gedacht, daß die Sache auch eine gewaltige Reklame für die Welle 2 L O sei. Schließlich: Geschäft ist Geschäft. Am peinlichsten ist es mir, daß ich meinem Freund Nevin solche Unannehmlichkeiten bereiten mußte. Wer auch er hatte volles Verständnis dafür, daß das, was ich tat, notwendig war.«

»Es war also unbedingt notwendig?«

»Ich habe den Entschluß monatelang im Kopf hin- und hergewälzt und keine andere Möglichkeit gesehen, ein Geständnis aus dem Mörder herauszupressen.«

»Könnten wir den Fall nicht kurz rekapitulierend« fragte der Reichsstaatsanwalt. »Ich bin unerhört neugierig, zu erfahren, wie Herr Sinclair dieses Wunder vollbracht hat.«

»Sie haben recht, Sir William. Bitte Herr Sinclair, schießen Sie los!«

»Also gut. Als ich kurz nach der Tat im Mordhause ankam und die Aussage Kenyons und Farrars hörte, begann ich sofort Verdacht zu schöpfen. Hätte es sich um ein Affektverbrechen ohne vorherige Ueberlegung gehandelt, so wäre es ja weiter nicht auffallend gewesen, daß die Tat in Kenyons Arbeitszimmer vollbracht wurde. Da ich mir aber sofort darüber klar war, daß es sich um eine vorbedachte Tat handelte, so wäre es natürlich heller Wahnsinn gewesen, den Mord knapp drei Meter von zwei Zeugen entfernt auszuführen. Ich dachte sofort an die Möglichkeit eines gemeinsamen Verbrechens Kenyons und Farrars oder an die Täterschaft eines der beiden ohne Mitwissenschaft des andern. Ich legte mir die mir bekannten Tatsachen zuerst einmal zurecht. Würde ein Mörder das Mordinstrument auf dem Tatorte liegen lassen, wenn er sich vorher die Mühe gegeben hatte, Handschuhe anzuziehen, um keine Fingerabdrücke zu hinterlassen? Kenyon hatte Farrar um das Haus herumgeschickt und dieser war über eine Mähmaschine gestürzt, die ihm im Wege stand. Ich fragte den Gärtner aus. Der behauptete steif und fest, die Maschine damals, wie alle Tage, in einem Schuppen verwahrt zu haben.

Ich glaube die menschliche Natur ein wenig zu kennen und einiges Verständnis für Physiognomien zu haben, gestehe aber, daß ich Farrar eher einer solchen Tat für fähig hielt. Ich war beinahe sicher, ihm schon einmal irgendwo begegnet zu sein und hatte mich darin auch nicht getäuscht.«

Der Reichsstaatsanwalt blickte auf. »Ich unterbreche Sie nicht gerne, Herr Sinclair, aber ich möchte den Bericht, den ich hier habe, an Hand Ihrer Mitteilungen kontrollieren. Wir brauchen einen noch stärkeren Beweis von Kenyons Schuld, als sein Geständnis auf Welle 2 L O, so dramatisch es auch ist.«

»Ich bin ganz Ihrer Ansicht,« meinte der Minister. »Es ist klar, daß der Mensch vor seinem Tode wahnsinnig wurde.«

»Er war schon früher wahnsinnig,« sagte Sinclair. »Mißverstehen Sie mich nicht. Der Welt erschien er vollkommen normal, aber schon seine seltsamen Werke sind der Ausfluß einer psychopathischen Veranlagung. Seine geistige Anomalie wurde dann eben durch sein Schaffen immer wieder aufs neue genährt. Sein Gehirn brütete unablässig über furchtbaren, raffinierten Mordplänen, bis sich die Grenze zwischen Einbildung und Wirklichkeit in ihm verwischte. Soll ich in der Erzählung fortfahren?«

»Wir bitten darum,« sagte Sir William.

»Ich analysierte also den Tatbestand auf das genaueste. Kenyon ging erregt durch das Zimmer, als ob er etwas Bestimmtes erwarte. Er trug ein seidenes Taschentuch in der Hand. Dieser Punkt erschien mir einigermaßen auffällig, obgleich die Erklärung dafür natürlich jetzt sonnenklar ist.«

»Unter dem Tuch verbarg er das Messer?« fragte der Minister.

»Gewiß. Ich schaute mir dann das Schloß an der Türe zwischen den beiden Zimmern genau an. Es war ein wahres Spielzeug, das ein Mann von normaler Stärke in einer Minute aufbrechen kann. Laut Kenyons Aussage brauchte er aber drei oder vier Minuten, um die Türe zu öffnen. Er sagte aus, daß er sofort daran ging, die Türe zu öffnen und doch dauerte es geraume Zeit, bis Frau Kenyon das Geräusch hörte. Sie hatte genug Zeit, um aus der am anderen Ende des Hauses gelegenen Küche hereinzukommen, bevor er die Türe geöffnet hatte. Ich kam zu dem Schluß, daß Kenyon genug Zeit hatte, um in das Nebenzimmer zu schlüpfen, den Mord zu begehen und in das Wohnzimmer zurückzukehren.«

»Aber die Türe war doch versperrt.«

»Dafür haben wir keinen anderen Beweis als Kenyons eigene Aussage. Er rüttelte an der Türklinke und sagte, die Türe sei versperrt gewesen. Noch etwas fiel mir auf: Warum zog es Kenyon vor, mit Farrar im Wohnzimmer zu arbeiten, statt in seinem eigenen Arbeitszimmer, wo er alle Papiere bei der Hand hatte und das mit seiner großen Fenstertüre an jenem heißen Julitag auch kühler war? Während ich im Arbeitszimmer meine Nachtwache hielt, begann ich zu überlegen. Natürlich hatte ich damals noch keine Ahnung davon, daß der Unbekannte im Nebenzimmer Anthony gewesen war, aber ich ersuchte die drei Männer, im Wohnzimmer zu bleiben, weil ich voraussah, daß der Schreiber des Briefes versuchen würde, sich des Schriftstückes zu bemächtigen. Als ich sah, daß Anthony das Wohnzimmer verließ –«

»Einen Augenblick,« sagte Sir William. »Sie sahen tatsächlich, als er das Zimmer verließ, nicht erst im Garten?«

Sinclair lächelte. »Ich sagte in der Verhandlung aus, daß der Mann nur als eine dunkle Gestalt erkennbar gewesen sei und daß er den Kopf mit einem schwarzen Tuch verdeckt habe. Es war unmöglich, ihn zu erkennen.«

»Warum haben Sie diese Aussage überhaupt gemacht?«

»Die Aussage war wohl überlegt. Während meiner Aussage, daß ich wisse, wer der Mann sei, beobachtete ich Kenyons Züge. Trotz aller seiner Willensstärke konnte er seine grausame Freude nicht verbergen. Damit öffnete sich für mich eine Möglichkeit: nämlich die, daß dem Verbrechen zwei verschiedene Motive zugrunde lägen: erstens, das Mädchen aus dem Wege zu schaffen, und zweitens, den Verdacht auf Anthony zu lenken. Was hatte das zu bedeuten? Er gab nur eine Erklärung. Der Brief war gar nicht für Kitty Lake bestimmt. Was für ein Hindernis wäre der Liebe der beiden jungen Menschen wohl im Wege gestanden? So weit war ich in meinen Folgerungen gelangt, als ich abberufen wurde. Alles war damals noch so unbestimmt, daß es ein Ding der Unmöglichkeit gewesen wäre, meine Vermutungen den Behörden vor meiner Abreise zu unterbreiten. Freilich erkannte ich damals bereits, daß Anthony große Gefahr lief, wegen des Mordes in Untersuchung gezogen zu werden.«

»Sie waren von seiner Unschuld fest überzeugt? Warum das?«

»Die Frage ist schwer zu beantworten. Erstens aus den Gründen, die ich Ihnen soeben unterbreitet habe. Zweitens wegen seines Verhaltens nach dem Mord. Hierüber habe ich Ihnen bereits berichtet, Sir John!«

Der Minister nickte.

»Nachdem die Begnadigung erreicht war, setzte ich mich mit dem Problem neuerdings auseinander. Die Zeugenaussagen während des Prozesses und eine Untersuchung, die ich mit Sergeant Curtis hatte, boten mir neue Anhaltspunkte. Kenyon hatte öffentlich verlautbart, daß er weder in seinem Landhause wohnen, noch es verkaufen werde. Er suchte es mit Sergeant Curtis auf und wies in raffiniertester Weise auf Anthonys Schuld hin, indem er sagte, daß er nicht an dieselbe glauben könne. Dann war Frau Kenyons Verschwinden zu bedenken. Urplötzlich stieg in mir der Gedanke auf, daß sie vielleicht Anthony vom Mordverdachte reinigen könne und daß jemand ein Interesse daran habe, dies zu verhindern. Möglicherweise war sie sogar durch Mord aus dem Wege geräumt worden. Wir hatten wiederum nur Kenyons Aussage über ihr Verschwinden. Der Gedanke blitzte in mir auf, ob nicht der Brief an sie gerichtet sei und sie in sträflichen Beziehungen zu dem Schauspieler stünde. Und nun dämmerte mir die Wahrheit auf. Kenyon hatte erkannt, daß sich hinter seinem Rücken etwas abspiele. Was würde ein solcher Mensch in einem solchen Falle tun? Wahrscheinlich beide töten, wie in ›Pelleas und Melisande‹. Da bot sich ihm eine Gelegenheit, eine weit raffiniertere und grausamere Rache auszukosten, die seinem halbwahnsinnigen Genie viel gemäßer war.

Kitty Lake bewunderte ihn schrankenlos. Er war ihr Ideal und sie war ihm zudem sehr verpflichtet. Vielleicht liebte sie ihn nicht eigentlich, aber sie war ihm vollkommen hörig. Anfangs zog ihn wohl seine Sinnlichkeit zu ihr hin, später benutzte er sie als Werkzeug der Rache gegen seine Frau. Dann sah er sich den Folgen seines Tuns gegenüber, wie so mancher Mann vor ihm. Oeffentliche Bloßstellung, die Tortur des Scheidungsgerichtshofes mußten einem Mann seines Kalibers unerträglich sein, und außerdem würde seine Frau auf diese Weise ihre Freiheit wiedergewinnen. Er würde der schuldige Teil sein! Nie und nimmer! Dann kam seine Gelegenheit. Er las den unglücklichen Brief. Vielleicht wäre er nicht auf den Gedanken gekommen, Anthony in eine Falle zu locken. Hier aber stellte sich der Liebhaber seiner Frau seine eigene Falle. Kenyon sorgte dafür, daß das Studierzimmer leer blieb und – wer weiß – vielleicht forderte er Kitty sogar selbst auf hineinzugehen. Während all dem brannte ihn der Brief in der Tasche wie das höllische Feuer.

Anthony kam und das Mädchen flehte ihn an, von Frau Kenyon abzulassen. Vielleicht erklärte er sich einverstanden.«

»Ihre Beweiskette erscheint mir durchaus lückenlos,« meinte der Minister, »nur ein Punkt ist mir nicht klar. Wenn Kitty Lake Kenyon liebte, mußte ihr doch die Aussicht, ihn durch eine Scheidung frei von seinen Ehefesseln zu sehen, nur willkommen sein.«

»Die Gefühle einer Frau sind unerforschbar. Sie verehrte Kenyon vermutlich so grenzenlos, daß sie sich lieber geopfert, als seine Karriere geschädigt hätte. Aber das ist freilich nur ein Raten.

Frau Kenyon mußte aus dem Wege geräumt werden, oder sie würde die Wahrheit über Anthony gesagt haben, wenn sie auch nichts von dem Brief wußte. Hatte Kenyon seine Rachegelüste durch einen Mord befriedigt oder wollte er sein Weib langsam zu Tode martern? Farrar war verschwunden. Wohin? Kenyon hatte ihm zwei Monate Urlaub gegeben und hatte ihm Zahlung mittels Schecks in seinem Hause in London zugesagt. Warum zahlte er ihn nicht gleich auf dem Lande aus? Der Gedanke dämmerte in meinem Hirn, daß Kenyon Farrar als Werkzeug benutzte, um seine Frau aus dem Wege zu räumen. Den Grund würde er ihm freilich nicht sagen. Inzwischen hatte ich Farrars Vergangenheit durchleuchtet.«

»Er war in Indien vor dem Kriegsgericht gestanden, nicht wahr?« fragte Sir William.

»Er hatte Schlimmes auf dem Kerbholz. Zusammen mit Forester, von dessen Tod in Konstantinopel Sie wohl gehört haben, hatte er Morde und viele niedliche Verbrechen anderer Art auf dem Gewissen. In Indien brannte den beiden der Boden unter den Füßen. Forester hat mir alles enthüllt, da er glaubte, daß ich keine Stunde mehr zu leben habe. Farrar wollte sich nur verborgen halten, bis über die Sache mit Zania und ihrem Vater Gras gewachsen sei, um dann mit seinem Spießgesellen wieder an die Arbeit zu gehen. Forester hatte sogar die Frechheit, Farrar in Sussex zu besuchen. Eine Zeitlang glaubte ich, daß diese sauberen Vögel auch den Mord an Kitty Lake begangen hätten.«

»Einen Augenblick!« unterbrach ihn der Minister. »Wenn Ihre Auffassung des Falles richtig ist, wie erklären Sie dann, daß Kenyon unablässig daran arbeitete, Anthonys Begnadigung zu erwirken und daß er den Damen Lake in ihrer Bedrängnis wie ein wahrer Freund zur Seite stand?«

»Das ist gewiß seltsam und doch liegt die Erklärung in dem Charakter dieses Menschen. Ich zweifle nicht daran, daß er ununterbrochen von Gewissensbissen geplagt war, wie wir ja auch aus seinem Geständnis wissen. Am Abend vor der Hinrichtung traf ich ihn in seiner Wohnung weinend an. Die Tränen waren echt. Wahrscheinlich hätte die Verurteilung zu lebenslänglichem Zuchthaus seinem Rachebedürfnis genügt. Ja, diese Art Strafe erschien seinem ästhetischen Gefühl wohl ›künstlerischer‹. Anderseits diente der Eifer, Anthony zu retten, natürlich auch dazu, jeden Verdacht von ihm selbst abzulenken. Ich war an einem toten Punkt angelangt, als Hunter mir seine Beobachtungen in und bei dem Landhause erzählte. Die Lage war damals verzweifelt. Jedem der Männer war ein Mord zuzutrauen. Es gab nur eine Möglichkeit. Ein direkter Angriff auf das ›verhexte‹ Haus hätte furchtbare Gefahren für Frau Kenyon in sich geborgen. Wir hätten Farrar wahrscheinlich – tot oder lebendig – erwischt, aber hätten wir damit auch den wirklichen Verbrecher gehabt? Das ging nicht. Wenn meine Vermutungen richtig waren, wußte Kenyon, wo sich seine Frau aufhielt. Ich weihte ihn also in alles ein, wenn ich auch wußte, daß ich viel riskierte, und ließ ihn von dem Augenblick an Tag und Nacht beobachten.«

»Aus diesem Grunde verließen Sie den Staatsdienst?« fragte der Minister.

»Teilweise. Ich mußte entweder den ganzen Fall Scotland Yard übertragen oder mir die Unabhängigkeit schaffen, ganz nach meinem Kopfe vorzugehen.«

»Bitte fahren Sie fort.«

»Kenyon verließ die Stadt in einem fremden Wagen und ich folgte ihm in einem anderen Auto. An einen Wegkreuzung entwischte er mir, da ich eine Panne hatte. Ich ließ meinen Wagen ein Stück vom Landhaus entfernt stehen und pirschte mich durch den nächtlichen Wald heran. Das Resultat kennen Sie. Die beiden Männer waren Kenyon und Farrar. Es war mir damals längst klar, daß Kenyon systematisch das Gerücht verbreitet hatte, in dem Hause spuke es, so daß kein abergläubischer Bauer sich in die Nähe traute.

Am nächsten Tag traf ich Kenyon verabredungsgemäß in Littleworth. Dann begann das Duell zwischen ihm und mir. Als er darauf drängte, sofort zum Haus zu gehen, wußte ich, daß er mir entweder eine Falle gestellt oder seine Frau weggeschafft habe. Ich nahm das Risiko auf mich und wie Sie wissen, fand ich das Haus leer. Jede Spur war sorgfältig beseitigt worden, nur an eine Kleinigkeit hatten sie vergessen. Der Herd in der Küche war noch warm. Man hatte also das Haus gerade erst verlassen. Kenyon gab vor, nach London zurückzukehren und ich selbst vertiefte mich in das Problem, was nun zu tun sei. Er hatte sicherlich keine Zeit gehabt, ein anderes Versteck vorzubereiten und er hätte es nicht gewagt, sie nach London zu führen. Er mußte sie provisorisch irgendwo hingebracht haben. Das kleine Schulhaus mitten im Wald kam mir ins Gedächtnis und als ich in Erfahrung gebracht hatte, daß wegen einer Masernepidemie die Schule geschlossen sei, wußte ich, daß ich auf der richtigen Spur war. Eile tat not Ich wagte nicht, einen Wagen zu benutzen, denn die Straße war sicherlich von den beiden bewacht. Anderseits mußte ich dort sein, bevor sie Frau Kenyon weggeschleppt hatten. Mit Aufbietung aller meiner Kräfte eilte ich im Dunkel der Nacht durch den unwegsamen Wald den Hügel empor. Das Uebrige wissen Sie.«

»Bitte beenden Sie Ihre Erzählung,« sagte der Reichsstaatsanwalt.

»Als ich das Schulhaus erreichte, hörte ich sprechen. Der Wagen wartete vor dem Eingang. Ich brach die Tür zu dem Raum auf, in dem sich Frau Kenyon befand und da mir klar war, daß ich nicht ihre Stimme vernommen hatte, konnten es nur Kenyon und Farrar sein. Kenyon hörte das Geräusch und er wußte, daß ich ihm auf den Fersen sei. Er glaubte, ich habe Polizeibeamte bei mir und das Haus sei umstellt. Und nun faßte er – nehme ich an – einen jener plötzlichen, tödlichen Entschlüsse, die in seinen Stücken so oft vorkommen. Farrar mußte aus dem Wege geräumt werden. Kenyon schoß ihn nieder wie ein Tier, drückte ihm den Revolver in die Hand und floh. Wenn ich ihn entdeckt hätte, hätte er einfach gesagt, daß er genau so wie ich seine Frau gesucht habe. Es war ein Verzweiflungsmittel, aber für ihn das einzig mögliche. Da er niemand antraf, floh er nach London.

All das erscheint jetzt recht klar und einfach, aber wenn ich damals zu Ihnen gekommen wäre und Ihnen die Sache so dargestellt hätte, hätten Sie mich kurzerhand als nicht ganz gescheit hinausgeschmissen. Ich mußte unerschütterliche Beweise haben. Ein zweiter Mord belastete jetzt Kenyons Gewissen. Er war ein gejagter, gemarterter Mensch, nicht der kalte Verbrechertypus wie Farrar, sondern ein degenerierter Hysteriker.

Ich nahm mir Nevin, den Generaldirektor der Radiogesellschaft beiseite, und erzählte ihm den Fall, ohne ihn in meine eigenen Vermutungen einzuweihen. Ich ersuchte ihn, Kenyon aufzufordern, am Jahrestag des Mordes einen Monolog in das Radio zu sprechen. Kenyons maßlose Eitelkeit trieb ihn dazu anzunehmen und das Resultat kennen Sie.«

»Madeline Lake stellte also ihre verstorbene Schwester dar?«

»So ist es. Sie lehnte zuerst ab, aber als ich ihr nachwies, daß es der einzige Weg sei, Anthony zu befreien, willigte sie ein. Ich setzte alles auf eine Karte, aber ich glaube, ich habe gewonnen.«

Der Reichsstaatsanwalt warf dem Minister des Innern einen verstohlenen Blick zu.

»Was halten Sie jetzt von der Sache?« fragte er.

»Herr Sinclair hat mich vollkommen überzeugt.« Er wandte sich Sinclair lächelnd zu. »Sie haben seine Begnadigung erwirkt. Möchten Sie wohl dem Direktor des Zuchthauses in Parkston den Freilassungsbefehl für unseren Gefangenen überbringen?«

»Mit tausend Freuden!« antwortete Sinclair. »Jetzt möchte ich die Sache auch zu Ende führen.«

»Ich werde dafür Sorge tragen, daß Ihnen die Urkunde morgen zugestellt wird,« sagte der Minister.

Als Sinclair gegangen war, meinte der Reichsstaatsanwalt: »Wir haben in Sinclair einen guten Mann verloren. Es wäre bedauerlich, wenn er endgültig verloren ginge.«

»Ich habe den Namen eines meiner Beamten in die Liste der zu Adelnden einzutragen, die Seiner Majestät vorgelegt wird. Was würden Sie zu Sinclair sagen?«

»Würde Boyce nicht beleidigt sein? Er ist der Dienstältere.«

»Boyce soll meinetwegen vor Aerger platzen. Sinclair hat wunderbare Arbeit geleistet. Schon allein seine Tätigkeit in Indien würde die Verleihung des Adelsprädikates rechtfertigen.«


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