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4. Kapitel.
Fragen und Antworten.

Im Klubzimmer der »Epheuranke« in Littleworth fand die öffentliche Verhandlung statt, in der, wie das Gesetz es verschreibt, eine Jury die Todesursache und ihre Begleitumstände amtlich festzustellen hatte.

Zahlreiche Neugierige, zumeist Frauen, waren von weither herbeigeeilt, um ihr krankhaftes Interesse an Mord und Geheimnis zu befriedigen. In dem sonst so ruhigen Gasthaus ging es so lebhaft zu, wie bei einem Jahrmarkt.

Der Raum war so überfüllt, daß die Zeugen und Pressevertreter nur schwer Platz fanden.

Der Vorsitzende war ein selbstgefälliger, wichtigtuerischer, kleiner Mann, der ein Vergnügen darin fand, die Jury und die Zeugen anzuschnauzen. Er eröffnete die Verhandlung mit einer kurzen Beschreibung des Falles.

Frau Lake, die ebenso wie Madeline in tiefer Trauer erschienen war, identifizierte die Leiche als die ihrer Tochter Kitty.

Der Vorsitzende hatte zwar immerhin genug menschliches Gefühl, um die gramgebeugte Mutter nach Möglichkeit zu schonen, konnte sich aber doch nicht enthalten, zu fragen, ob die Verstorbene mit jemandem »gut« bekannt gewesen wäre, mit Betonung des Wortes »gut«. So weit war der Gang der Verhandlung der in solchen Fällen übliche, aber bald sollte es zu aufregenden Momenten kommen. Nachdem Kenyon und Farrar ihre Aussagen gemacht hatten, wurde Inspektor Sinclair aufgerufen.

»Was fanden Sie vor, als Sie den Schauplatz der Tat betraten?« fragte der Vorsitzende nach einigen einleitenden Fragen.

»Als ich das Arbeitszimmer betrat, sah ich den Körper auf dem Sofa liegen.«

»Und weiter?«

»Die Kehle war mit einem einzigen Schnitt durchtrennt worden.«

»Selbstmord kommt also nicht in Frage?«

»Absolut nicht.«

»Wohl nur ein starker Mann ist imstande, jemandem eine solche Wunde beizubringend«

Sinclair dachte einen Augenblick nach: »Nicht unbedingt. Das kommt darauf an.«

»Aber hören Sie! Eine derartige Verletzung –,« meinte der Vorsitzende in seiner mokanten Art.

Sinclair spürte den versteckten Zweifel und antwortete ruhig: »Ich wiederhole: Das kommt darauf an. Dieser Meinungsäußerung habe ich nichts hinzuzufügen.«

Der Vorsitzende hütete sich wohl, sich in ein dialektisches Duell mit dem gefürchteten Detektiv einzulassen. »Fahren Sie fort,« sagte er kurz.

»Die Tür war aufgebrochen worden und hing nur mehr lose in den Angeln.«

»Ein Patentschloß war nicht vorhanden.«

»Nein, es war ein ganz gewöhnliches Schloß. Es gehörte nicht besonders viel Kraft dazu, es gewaltsam zu öffnen.«

»Fiel Ihnen in dem Zimmer sonst noch etwas auf?«

»Ja. Auf dem Fußboden neben dem Klaviersessel fand ich diesen Brief in Schreibmaschinenschrift.« Er las den Brief vor und aller Augen richteten sich auf Frau Lake, die still vor sich hinweinte. »Die Nacht verbrachte ich in dem Zimmer und sorgte dafür, daß die Tür zum Wohnzimmer von dem Mörder nicht benutzt werden könne, wenn der etwa wiederkommen würde, um den Brief in Sicherheit zu bringen. Ich ordnete deshalb an, daß die drei anwesenden Herren im Wohnzimmer blieben. Die Fenstertür zum Garten ließ ich weit offen.«

»Und er kam zurück?«

»Ja.«

Erregung bemächtigte sich der Zuhörerschaft. Die Reporter schrieben fieberhaft mit. Sinclair fuhr fort: »Ich saß in einem Lehnstuhl, dem Fenster gegenüber und wartete stundenlang. Es mag etwa halb vier gewesen sein, als ich draußen ein leichtes Geräusch vernahm. Ich kroch zum Fenster und konnte mit Mühe eine schattenhafte Gestalt erkennen, die aus dem Walde kam. Es war ein Mann, der auf das Haus zukam und es sah so aus, als ob er keinen Kopf habe.«

»Keinen Kopf?« fragte der Vorsitzende.

»Oh, darin liegt nichts besonders Geheimnisvolles. Er hatte wahrscheinlich den Kopf verdeckt, damit man sein Gesicht nicht erkennen könne. Ich verhielt mich vollkommen lautlos, aber er muß plötzlich Angst bekommen haben, denn er tauchte im Dunkeln unter.«

»Sie hatten keinerlei Versuch gemacht, ihn festzunehmen?« fragte der Vorsitzende mit einem leichten Untertone von Ironie.

»Nein!« Antwortete Sinclair kurz.

»Entschuldigen Sie, wenn ich diese Frage an Sie richte. Sie sind doch eine anerkannte Autorität in Ihrem Fach. Warum verfolgten Sie ihn nicht?«

»Aus verschiedenen Gründen. Erstens wäre es in so einer dunklen Nacht vergeblich gewesen. Zweitens würde ich ihn nur gewarnt und ihn davor zurückgehalten haben, seinen Versuch zu wiederholen. Und außerdem –,« er hielt inne.

»Was außerdem, bitte?«

»Ich wußte, wer es war,« antwortete Sinclair ruhig.

Plötzliches Schweigen, hinter dem sich höchste Erregung barg, erfüllte den Raum. Alles beugte sich in Erwartung einer dramatischen Enthüllung vor.

»Nun, wer war es?« fragte der Vorsitzende ungeduldig. Er war kein Freund von Geheimnissen.

»Ich halte es für richtig, hierüber vorläufig nichts zu sagen.«

Nach einer Pause sagte der Vorsitzende: »Eine seltsame Methode. Aber wahrscheinlich wollen Sie weitere Beweise für seine Schuld sammeln.«

»Wenn Sie es gestatten, fahre ich in meiner Aussage fort. Viel habe ich allerdings nicht mehr hinzuzufügen. Wenn es mir möglich gewesen wäre, die Leiche in ihrer/ ursprünglichen Lage zu sehen, so wäre das eine bedeutende Erleichterung für die Untersuchung gewesen. Als ich kam, hatte man sie bereits auf das Sofa gelegt. Das Messer, mit dem das Verbrechen begangen wurde, fand ich auf dem Boden liegend vor.«

Er wies auf den Tisch, auf dem die verschiedenen »Beweisstücke« ausgebreitet lagen.

»Der Griff des Messers wurde bereits auf Fingerspuren hin untersucht, aber es ist klar, daß der Mörder Vorsichtsmaßregeln anwandte.«

»Er trug zum Beispiel Handschuhe,« bemerkte der Vorsitzende und wies auf den gelben Ziegenlederhandschuh, der auf dem Tisch lag.

»Vielleicht,« antwortete Sinclair.

»Soviel ich weiß, wurde dieser Handschuh im Wald aufgelesen und Ihnen gebracht, Herr Sinclair. Stimmt das?«

»Vollkommen. Möglicherweise hat der Handschuh aber mit dem Verbrechen gar nichts zu tun.«

Der Vorsitzende machte eine ungeduldige Bewegung. »Man sollte doch glauben, daß der Zusammenhang klar auf der Hand liege. Fahren Sie bitte fort.«

»Wir fanden außerhalb des Fensters Fußspuren, die zum Walde führten. Sie wurden von Sergeant Curtis und mir gemessen.«

»Wünschen Sie irgendwelche Fragen zu stellen, Herr Knight?« fragte der Verhandlungsleiter, zu dem Rechtsvertreter der Familie gewandt.

»Eine einzige. Herr Sinclair, Sie sagten soeben, daß Sie draußen Fußspuren fanden. Wann haben Sie diese bemerkt?«

»Am Morgen nach der Mordnacht.«

»Sie könnten also von dem nächtlichen Besucher herrühren?«

»Ich habe diese Frage erwartet. Es waren aber zwei Spurenpaare erkennbar und der Umstand, daß sie einander gleich waren, führt zu der Annahme, daß sie von derselben Person herrühren.«

»Noch eine Frage wegen des Briefes, den Sie eben vorlasen: er ist in Schreibmaschinenschrift?«

»Jawohl, und wir suchen ausfindig zu machen, was für eine Maschine verwendet wurde.«

»Die Maschine im Hause selbst haben Sie daraufhin wohl nicht untersucht?«

»Oh doch. Gleich zu Beginn. Der Brief wurde nicht auf der im Hause befindlichen Maschine geschrieben. Das haben wir mit Sicherheit festgestellt.«

»Ich habe keine weiteren Fragen zu stellen,« sagte der Advokat und setzte sich.

Sergeant Curtis bestätigte lediglich Sinclairs Aussagen und die Verhandlung schleppte sich eintönig fort, bis der Arzt, der die Obduktion vorgenommen hatte, aufgerufen wurde und raschen Schrittes vortrat.

»Die Todesursache wurde einwandfrei festgestellt,« entgegnete er auf eine Frage des Vorsitzenden. »Ein bestialischer Schnitt durchtrennte die Kehle. Der Tod muß augenblicklich eingetreten sein.«

»Sie sagten: Ein bestialischer Schnitt? Also wohl ein Schnitt, zu dem große Kraft erforderlich war?« Der Vorsitzende warf einen boshaften Blick auf Sinclair.

»Meiner Ansicht nach kann das Verbrechen nur ein starker Mann begangen haben.«

»Sie sind also mit Inspektor Sinclairs Anschauung, daß hierüber ein Zweifel bestehen könne, nicht einig?«

»Ich kann nur über das aussagen, was ich mit eigenen Augen gesehen habe,« entgegnete der Arzt behutsam.

»Ist an der Todeswunde sonst noch irgend etwas bemerkenswert?« fragte der Verhandlungsleiter, nachdem er einen Blick in seine Aufzeichnungen getan hatte.

»Jawohl, das Verbrechen wurde von einem Linkshänder begangen.«

Ein unterdrücktes Murmeln der Erregung ging durch die Anwesenden.

»Ein Rechtshänder würde den Schnitt naturgemäß von links nach rechts ausgeführt haben, um die höchste Kraftwirkung zu erreichen. Tatsächlich aber wurde er von rechts nach links ausgeführt. Ein Zweifel über diesen Punkt ist kaum möglich.«

Der Vorsitzende rückte unbehaglich auf seinem Sitz hin und her. »Herr Doktor, ich habe eine Frage delikater Natur an Sie zu richten, aber im Interesse der Gerechtigkeit kann ich leider auf ihre Beantwortung nicht verzichten. Sie haben das Opfer des Mordes untersucht. Haben Sie über das Ergebnis dieser Untersuchung etwas weiteres zu berichten?«

»Ja,« sagte der Arzt in klarem und bestimmtem Tone. »Die Ermordete war in anderen Umständen.«

Der Vertreter der Familie erhob sich erregt. »Ich protestiere. Das hat mit dem Mordfall nichts zu tun und ich sehe hierin nur einen Versuch, das Andenken der armen Verstorbenen in unerhörter Weise zu verunglimpfen.«

»Ich kann mich Ihrer Auffassung leider nicht anschließen, Herr Anwalt,« sagte der Vorsitzende ernst. »Wir sind vielleicht hier auf der Spur eines Mordmotivs, das uns bisher fehlte.«

Frau Lake sprang zitternd vor Empörung auf. »Das ist eine Lüge, eine abscheuliche Lüge! Sie haben nicht das Recht, so etwas zu sagen!«

»Bitte, setzen Sie sich, gnädige Frau,« sagte der Vorsitzende. »Wir alle können Ihre Gefühle verstehen, aber Sie sind hier durch Ihren Rechtsfreund vertreten und müssen ihm das Wort überlassen.«

Es dauerte geraume Zeit, bis die Ruhe wieder hergestellt und Frau Lake von ihrer Tochter aus dem Zimmer geleitet worden war.

Der nächste Zeuge war Doktor Weaver. Man merkte ihm an, daß ihm bei seinem Verhör keineswegs wohl zu Mute war. Der Vorsitzende warf einen langen Blick in seine Akten, ehe er das Wort an den Zeugen richtete.

»Wie ich höre,« sagte er, »hat Fräulein Lake Sie konsultiert. Stimmt das?«

»Bin ich verpflichtet, diese Frage zu beantworten?« Der Arzt war sichtlich nervös.

»Gewiß,« sagte der Vorsitzende. »Sie stehen unter Eid und sind verpflichtet, alles zu sagen, was Sie wissen.«

»Nun gut denn! Fräulein Lake suchte meine Sprechstunde auf, aber ich halte mich nicht für verpflichtet, Näheres über die Natur ihres Besuches auszusagen. Es handelte sich um die Angelegenheit, die heute bereits hier zur Sprache kam. Details sind wohl unnötig.«

»Sie war wegen ihres Zustandes sicherlich beunruhigt?«

»Sie frug mich um Rat und ich empfahl ihr wärmstens, sich ihrer Mutter anzuvertrauen.«

»Fräulein Lake ersuchte Sie später brieflich, sie im Hause ihres Gastgebers heimlich aufzusuchen?«

»So ist es. Ich beantwortete ihre Bitte mittels eines Schreibens, das Inspektor Sinclair gefunden hatte. Er zeigte es mir am Morgen nach der Tat.«

Der Vorsitzende setzte seine Brille auf, nahm das Schreiben vom Tisch und verlas den Inhalt:

 

Sehr geehrtes Fräulein Lake!

Ich bedaure, Ihrem Ersuchen, Sie im Hause Herrn Kenyons ohne Wissen Ihres Gastgebers und seiner Gattin zu besuchen, wohl kaum Folge leisten zu können. Als Sie zu mir kamen, gab ich Ihnen den besten Rat, den ich Ihnen der Sachlage nach geben konnte, nämlich nach Hause zu fahren und sich Ihrer Mutter anzuvertrauen. Eine weitere Besprechung kann meiner Ansicht nach zu keinem nützlichen Ergebnis führen. Wenn der Zustand Ihres Gemütes und Ihrer Nerven aber wirklich ein so verzweifelter ist, müssen Sie einen Spezialisten konsultieren. Wenn Sie unbedingt darauf bestehen, werde ich Sie in Gottes Namen aufsuchen, aber ich mache Sie schon jetzt darauf aufmerksam, daß ich nur den Ihnen bereits gegebenen Rat wiederholen kann.

Ihr ergebener H. Weaver.

 

»Haben Sie diesen Brief geschrieben?«

»Gewiß habe ich ihn geschrieben. Zur Aufklärung möchte ich folgendes bemerken: Fräulein Lake war in einem so hochgradigen Aufregungszustand, daß ich ernste Folgen fürchtete und bereit war, alles zu tun, was in meiner Macht lag und was einem Arzt zu tun erlaubt ist, um ihr zu helfen.«

»Wollen Sie sich bitte nicht etwas deutlicher ausdrücken?«

»Offen heraus gesagt: ich fürchtete, daß sie Selbstmord oder sonst einen verzweifelten Schritt tun würde.«

»Sie sind schließlich doch nicht zu ihr gegangen?«

»Nein. Ich sage das mit allem Nachdruck. Ich habe Sie nicht mehr wiedergesehen.«

»Wäre es nicht besser gewesen, wenn Sie diese Aufklärung der Polizei sofort gegeben hätten?«

»Entschuldigen Sie, wenn ich anderer Meinung bin. Inwiefern hätte meine Mitteilung neues Licht auf das Verbrechen werfen können?«

Der Vertreter der Familie hatte eine Frage zu stellen. »Sind Sie absolut überzeugt davon, Doktor Weaver, daß es sich nicht um eine eingebildete Schwangerschaft handelte, um einen Fall von Hysterie?«

»Vollkommen ausgeschlossen,« antwortete der Arzt mit ernster Entschiedenheit und begab sich auf seinen Platz zurück.

Der nächste Zeuge war Hunter, Kenyons Chauffeur, der seine Aussagen mit großer Sicherheit machte und eine Art Stolz darüber zu empfinden schien, für einen Augenblick der Mittelpunkt des Interesses zu sein.

»Sie haben also Fräulein Lake in Herrn Kenyons Wagen wiederholt geführt?« fragte der Vorsitzende.

»Jawohl, ich habe das Fräulein überall herumgefahren. Wir sind überall gewesen, wo's was Schönes zu sehen gibt.«

»Hatte sie während einer dieser Fahrten eine Begegnung?«

»Keine Spur, sie saß bloß immer neben mir und frug mich allerhand über die Gegend. Sie hat sich für alles schrecklich interessiert.«

»Einmal führten Sie sie nach Littleworth zu Doktor Weaver?«

»Das war nämlich so. Wir kamen mal eines Tages von Poolbourough und wie wir durch Littleworth durchsausen, fragte sie mich: Wissen Sie nicht, wo da ein Arzt wohnt? Grad' in dem Augenblick kommen wir bei dem Haus vorbei, wo der Doktor wohnt. Na, und dann ging sie hinein und blieb so ungefähr eine halbe Stunde drin. Wie sie herauskam, war sie ganz aufgeregt und die Tränen sind ihr nur so heruntergelaufen. Dann hat sie mir gesagt, ich soll erst mal ein bißchen herumfahren, sie wolle noch nicht nach Hause.«

»Ist das alles, was Sie uns sagen können?«

»Das ist alles.«

Auf eine Handbewegung des Verhandlungsleiters hin, zog sich der Chauffeur zurück. Die Hitze in dem Raum war beinahe unerträglich geworden und der Vorsitzende schaltete eine Pause ein. Die Zuhörer erfrischten sich je nach Neigung durch ein paar Schritte in der frischen Luft, oder durch einen stärkenden Trank im Schankzimmer.

Sinclair wurde draußen von einem Telegraphenboten angehalten, der ihm eine Depesche überreichte. Er riß sie auf und las den lakonischen Inhalt:

»Kommen Sie sofort. Dringend. Boyce.«

Da das Telegramm von einem Vorgesetzten in Scotland Yard war, suchte er sofort den Vorsitzenden in seinem Privatzimmer auf.

»Gestatten Sie mir, mich zu entfernen? Es handelt sich offenbar um eine wichtige Sache.« Er wies das Telegramm vor.

»Ich werde Sie kaum mehr brauchen,« war die etwas steife Antwort.

»Außer Sie haben mir noch etwas zu sagen, das nicht für die Öffentlichkeit bestimmt ist.«

»Nein, Herr Vorsitzender, nichts,« antwortete Sinclair ruhig.

»Die Polizei hegt also keine Vermutung über die Person des Mörders?«

»Der Fall liegt in den Händen von Sergeant Curtis. Soviel ich weiß, hat er augenblicklich nicht die Absicht, eine Verhaftung vorzunehmen.«

»Aber Sie? Ich kann das Gefühl nicht los werden, daß wir eine Ueberraschung von Ihnen zu gewärtigen haben.«

»Kaum. Wenn Sie gestatten, werde ich mich jetzt verabschieden.«

»Nun gut. Ich hoffe, daß die hiesige Polizei auch ohne Ihre wertvolle Hilfe ans Ziel gelangen wird,« knurrte der Vorsitzende.

In einem anderen Zimmer des Gasthofes fand Sinclair Frau Lake mit ihrer Tochter und George Anthony. Einen Augenblick betrachtete er die Gruppe, ehe er näher trat.

»Ich freue mich darüber, daß Sie sich der Damen annehmen,« sagte er. »Sie haben Schweres durchzumachen und ich fürchte, es steht Ihnen noch Schwereres bevor.«

»Sie meinen, wenn man den Mörder findet?«

»Ja, das meine ich.« Nach einer Pause setzte er hinzu: »Ich möchte Sie um etwas ersuchen, Herr Anthony. Verständigen Sie mich bitte sofort, wenn Sie in dieser Angelegenheit, jemals meiner Hilfe bedürfen sollten. Wollen Sie mir das versprechen?«

Anthony sah ihn überrascht an. »Gewiß. Wenn ich auch keine Ahnung habe, wo Sie damit hinaus wollen.«

»Herr Sinclair,« fiel Madeline ein, »glauben Sie, daß man den Mörder meiner Schwester finden wird?«

»Ich bin dessen beinahe sicher – und doch kommt es manchmal wie ein leiser Zweifel über mich. Ich würde viel darum geben, hierbleiben und den Fall verfolgen zu können. Aber das ist unmöglich.«

Im Garten fand Sinclair Kenyon in tiefer Niedergeschlagenheit.

»Diese ganze Sache ist entsetzlich,« sagte er. »Durch das, was wir heute gehört haben, ist sie nur noch entsetzlicher geworden. War das notwendig, Herr Sinclair? Es scheint mir so unfair, den Charakter einer Toten in den Schmutz zu zerren.«

»Ich fürchte, daß die Tatsache, von der Sie sprechen, im Interesse der Gerechtigkeit nicht verborgen bleiben dürfte.«

»Aber gehen Sie mir mit dem Interesse der Gerechtigkeit! Wenn vor Gericht etwas Häßliches oder Schmutziges ans Licht gezerrt wird, muß immer diese Phrase herhalten. Ich glaube, das macht den Herren Juristen ein ähnliches Vergnügen, wie gewissen jungen Leuten die Lektüre pornographischer Bücher.«

»Sie sind ungerecht, Herr Kenyon.«

»Möglich. Sie dürfen mir das nicht übel nehmen. Meine Nerven halten all das nicht mehr aus. Denken Sie sich nur, meine Frau ist verschwunden! Am Tage nach dem Morde suchte ich Frau Lake und Madeline in der Hoffnung auf, der Erste zu sein, der ihnen die entsetzliche Neuigkeit beibringen würde. Ich hatte meine Frau zu Hause schlafend zurückgelassen und bereits eine Krankenschwester für sie bestellt. Meinem Dienstpersonal hatte ich aufs strengste eingeschärft, meine Frau nicht aus den Augen zu lassen. Ich dachte nicht im Traum daran, daß während der kurzen Zeit meiner Abwesenheit etwas passieren könnte. Als ich zurück kam, ging ich geradewegs in ihr Zimmer. Sie war verschwunden. Ich fragte die Dienstboten aus, aber niemand hatte sie Weggehen gesehen oder wußte auch nur etwas von ihrer Absicht, sich zu entfernen. Die Sache ist ein absolutes Rätsel für mich.«

»Haben Sie irgendwelche Schritte unternommen?«

»Ich habe Scotland Yard den Fall angezeigt. Aber Sie werden verstehen, in welcher schwierigen Lage ich mich befinde. Es darf nichts in die Zeitungen kommen, wenigstens vorläufig nicht. Vielleicht klärt sich die Sache harmlos auf. Ich weiß, daß sie sich in einem Zustand großer Erregung befand und vielleicht hat sie sich nur zu Bekannten begeben, ohne mir etwas zu sagen. Und doch kann ich die würgende Angst nicht los werden, als ob etwas Ernsteres vorläge.«

»Sie glauben?«

»Man soll und darf sich so etwas gar nicht vorstellen oder auch nur daran denken. Und doch: könnte nicht ein solcher Chok einen Menschen zu plötzlichem Wahnsinn, vielleicht sogar zur Selbstvernichtung treiben?«

Trotz seiner großen Selbstbeherrschung spiegelte Kenyons Antlitz die furchtbare Angst, die sich seiner bemächtigt hatte.

»Es wird vielleicht notwendig sein, die Hilfe des Publikums anzurufen,« meinte Sinclair.

»Vielleicht, aber wenn es nur irgendwie vermieden werden könnte – Sie verstehen mich. Der Name meiner Frau ist naturgemäß im Zusammenhang mit diesem Falle bereits durch die Presse geschleift worden. Moira kann jeden Moment zurückkehren. Ich hatte so fest auf Ihre Hilfe gerechnet!«

»Ich würde Ihnen mit Vergnügen zur Verfügung stehen, aber ich muß unverzüglich nach London und dann ins Ausland, und zwar wegen eines Falles von internationaler Bedeutung, den ich unter keinen Umständen in andere Hände legen darf. Auf alle Fälle werde ich die Angelegenheit mit meinem Vorgesetzten besprechen. Ich hoffe, daß für Ihre Frau Gemahlin außer den Aufregungen, die mit dieser Mordtat verknüpft sind, keine wie immer geartete Ursache vorliegt, sich verborgen zu halten?«

»Nicht die geringste, Herr Sinclair. Aber wie Sie wissen, waren meine Frau und Kitty Lake intime Freundinnen und ich bilde mir irgendwie ein, daß sie über die Angelegenheiten der armen Kitty mehr weiß, als sie mir anvertraute.«

Sinclair wollte eine weitere Frage stellen, aber der Anblick von Kenyons gramerfülltem Antlitz hielt ihn davor zurück. Er reichte ihm nur die Hand zum Abschied. »Ich hoffe, daß Sie bald Beruhigendes erfahren werden. Bleiben Sie auf alle Fälle in Verbindung mit Scotland Yard. Auf Wiedersehen!«

Der Detektiv bahnte sich durch die Menge, die den Hof des Gasthauses erfüllte, den Weg zu seinem Auto.

Hauptmann Farrar ging in tiefe Gedanken versunken auf und ab. Als Sinclair sich ihm näherte, wandte er sich um.

»Sie reisen ab, Herr Sinclair?« fragte er beiläufig. »Eine Zigarette gefällig?«

»Danke, ich rauche nur Pfeife,« antwortete Sinclair und fügte in herzlichem Tone hinzu: »Uebrigens, Hauptmann Farrar, kennen wir uns nicht von irgendwoher? Ihr Gesicht kommt mir so bekannt vor.«

Farrar dachte einen Augenblick nach.

»Nein,« sagte er langsam, »ich kann mich nicht erinnern, Ihnen früher jemals begegnet zu sein; das ist übrigens auch nicht sehr wahrscheinlich. Ich habe den größten Teil meiner Dienstjahre in Indien verbracht.«

»Auch ich war in Indien,« sagte Sinclair langsam.

»Wahrhaftig? Interessant. Da haben wir sicher viel gemeinsame Bekannte. Schade, daß wir keine Zeit haben, ein bißchen über die alten Zeiten zu plaudern.«

Sinclair reichte dem andern die Hand, und während er des andern Hand noch in der seinen hielt, fügte er hinzu:

»Sind Sie zufällig einmal einem Offizier namens Fortescue – begegnet? – oder nein, warten Sie – ich glaube, Forester hieß er?«

»Niemals,« antwortete Farrar entschieden. Sinclair spürte aber, wie ein nervöses Zucken durch die Hand ging, die er in der seinen hielt.


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