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»Ist Herr Anthony zu Hause?«
»Ich erwarte ihn jeden Augenblick.« Nach einem Moment des Zögerns sagte Curtis:
»Nun, dann möchte ich auf ihn warten.«
Der Diener machte keine Miene, ihn einzulassen. »Entschuldigen Sie die Frage, mein Herr. Sind Sie ein persönlicher Bekannter des Herrn Anthony?«
»Aber natürlich. Ich bin soeben aus dem Ausland zurückgekommen und kann es gar nicht erwarten, ihn zu sehen.«
Die Miene des Dieners hellte sich auf. »Sie müssen entschuldigen, mein Herr, aber ich glaubte zuerst, Sie seien von der Zeitung. Diese Leute wollen meinen Herrn fortwährend interviewen und er kann das nicht ausstehen.«
Er sagte das in einem Ton, als ob er von lästigem Ungeziefer spräche.
»Da haben Sie sich geirrt, lieber Freund,« sagte Curtis und trat in das Vorzimmer ein, »ich habe nicht das geringste mit der Presse zu tun.« Er gab dem Mann, der ihn in das Wohnzimmer geleitete, Hut und Stock.
Die Junggesellenwohnung des Schauspielers befand sich in einem aus dem 18. Jahrhundert stammenden Hause, weitab von dem Lärm und der Unruhe der Weltstadt. Die Zimmer waren groß und hoch, Decken und Kamine waren mit überladenen Rokokoornamenten geschmückt. Die Wohnung bestand nur aus Wohn-, Schlaf- und Badezimmer, nebst einem Raum für den Diener. Anthony liebte keine weibliche Bedienung und er pflegte im Klub zu speisen.
Das Zimmer, in das der Diener Curtis führte, war behaglich, aber nicht luxuriös eingerichtet. Die Wände waren größtenteils mit Bücherschränken bedeckt, ein paar gute alte Möbel, dem Stil des Hauses angepaßt, und eine Anzahl bequemer Ledersessel vervollständigten die Einrichtung. Curtis hatte die Zeit seines Besuches mit Vorbedacht gewählt. Er hatte in Erfahrung gebracht, daß Anthony für diese Stunde eine Verabredung hatte. Die Luft war also rein und er hatte für seine Nachforschungen genug Zeit vor sich.
Der Mann folgte ihm in das Zimmer, als ob er ihn nicht gerne allein ließe. »Kann ich Ihnen mit irgend etwas dienen, mein Herr?« fragte er. »Zigaretten vielleicht oder ein Glas Cognac. Bitte es sich nur bequem zu machen.«
»Nichts, vielen Dank, außer – haben Sie vielleicht ein Abendblatt?«
»Ich kann Ihnen ohne weiteres eines von der Straße besorgen,« antwortete der Mann.
»Ich möchte darum bitten.« Curtis drückte ihm ein größeres Geldstück in die Hand.
Sobald sich die Türe geschlossen hatte, sprang Curtis auf, ging zur andern, halb offen stehenden Türe und betrat vorsichtig das Schlafzimmer. Es war mit puritanischer Einfachheit eingerichtet, aber nicht die Einrichtung interessierte ihn, sondern die Schuhe und Stiefel, die in wohlgeordneter Reihe unter einem Toilettetisch standen. Er hob rasch einen Schuh auf und warf einen Blick auf den Namen des Erzeugers, eines bekannten Schuhmachers in Glasshouse Street. Dann zog er ein Stück Papier aus der Tasche und stellte zuerst einen, und dann einen zweiten Schuh darauf. Ein Lächeln der Befriedigung huschte über seine Züge, als er sich davon überzeugt hatte, wie genau der Stiefel mit der Zeichnung auf dem Papier übereinstimmte. Er wiederholte dasselbe Experiment mit zwei linken Schuhen. Das Ergebnis war das gleiche. Vorsichtig stellte er die Stiefel wieder auf ihren Platz und war gerade wieder in das Wohnzimmer zurückgekehrt, als der Diener mit der Zeitung eintrat.
»Danke sehr,« sagte er, »den Rest können Sie behalten.« Der Mann zeigte aber keine Neigung, das Zimmer zu verlassen.
»Herr Anthony ist wohl jetzt ständig in London?« fragte Curtis.
»Ja, mein Herr, er spielt jetzt wieder. Eine Zeitlang war er allerdings auf dem Lande. Seine jetzige Rolle hat er ganz unvorhergesehen übernommen, weil der Herr, der sie ursprünglich spielen sollte, plötzlich krank geworden ist.«
»Ich hatte geglaubt, ein Schauspieler von der Bedeutung Ihres Herrn sei überhaupt nie ohne Engagement.«
»Das stimmt. Die Direktoren laufen ihm nur so nach. Er hatte sich nur für die Hauptrolle im neuen Stück von Kenyon freigehalten. Wer vielleicht haben Sie im Ausland gar nicht von dem schrecklichen Mord gehört?«
»Ich glaube, ich habe etwas darüber in der Zeitung gelesen,« antwortete Curtis leichthin.
»Der Fall hat meinen Herrn furchtbar angegriffen. Sie müssen wissen, daß er mit der jungen Dame sehr befreundet war.«
»Ist sie jemals hier gewesen, ich meine in seiner Wohnung?«
»O nein, mein Herr. Herr Anthony empfängt niemals Damenbesuch in seiner Wohnung.« Der Diener schien über eine solche Vermutung geradezu beleidigt zu sein. »Er hat das Fräulein nur hie und da eingeladen, mit ihm im Restaurant zu speisen.«
Curtis untersuchte während der Unterhaltung unbemerkt das Zimmer. War vielleicht irgendwo eine Schreibmaschine? Richtig, auf dem kleinen Ecktisch stand eine, von einem Ledertuch verhüllt. Da keine Aussicht bestand, den Mann los zu werden, beschloß er, energisch zu handeln.
»Ich glaube, es hat wenig Wert, länger zu warten,« sagte er. »Ich werde ein paar Zeilen für ihn zurücklassen.«
»Bitte sehr,« es war offenbar eine Erleichterung für den Diener, den Gast loszuwerden. Er begegnete Leuten, die er nicht kannte, prinzipiell mit Mißtrauen. »Sie finden Papier und Umschläge auf dem Schreibtisch.« Er wandte sich um und verließ das Zimmer.
Curtis war mit einem Sprung bei dem Tischchen und hob die Hülle von der Maschine, nahm ein Stück Papier vom Schreibtisch, schrieb auf der Maschine das ganze Alphabet nieder und entnahm dem Ständer mehrere Muster des Schreibpapiers. In aller Eile kritzelte er sodann ein paar Zeilen in unleserlicher Schrift und läutete.
»Bitte geben Sie das Herrn Anthony, wenn er kommt,« sagte er zu dem Diener, der ihm Hut und Stock übergab.
Im Vorzimmer bemerkte er Anthonys Golfstöcke, die im Schirmständer standen und ein plötzlicher Gedanke durchzuckte ihn. Er nahm einen der Stöcke heraus, scheinbar aus sportlichem Interesse. Es war ein Linkshänderstock und im Nu überzeugte er sich davon, daß alle Stöcke für die linke Hand gearbeitet waren.
»Wie ich sehe, ist Herr Anthony ein leidenschaftlicher Golfspieler?«
»Allerdings. Und ein sehr guter dazu.«
»Es ist eigentlich ein Vorteil, Linkshänder zu sein, wenigstens bei manchen Sportarten.«
»Vielleicht. Aber Herr Anthony gewöhnte es sich ab, weil er fand, daß es ihn lächerlich mache.«
Curtis verließ die Wohnung mit einer Art Schuldbewußtsein. Spionieren gehörte wohl zu seinem Beruf, aber als Einbrecher hatte er sich heute zum ersten Male betätigt. Doch schließlich, Pflicht war Pflicht.
Er ging geradewegs zur Polizeidirektion und ließ sich bei Boyce melden. Ein paar Minuten später saß er dem großen Mann gegenüber.
»Sie wollen mich in Sachen des Mordfalles Kitty Lake sprechen.«
»Jawohl, Herr Polizeirat, ich hätte mich an Herrn Sinclair gewandt, aber ich höre, daß er im Ausland ist.«
»Haben Sie mir etwas zu berichten?« fragte Boyce eifrig. Es machte ihm immer besonderes Vergnügen, die geistige Arbeit anderer für seine Zwecke zu nützen.
»Ich habe Mitteilungen von zweifelloser Wichtigkeit zu machen. Zuerst möchte ich Sie bitten, einen Blick auf diesen Brief zu werfen, der, wie Sie sich erinnern werden, auf dem Schauplatz der Tat gefunden wurde. Er ist in Maschinenschrift.«
Boyce untersuchte mit dem Ausdruck höchster Ueberlegenheit den Brief.
»Und hier habe ich ein Alphabet in Schreibmaschinenschrift. Könnte man feststellen, ob beide Schriften von derselben Maschine herstammen?«
Boyce läutete und wies den eintretenden Beamten an, Herrn Thomas, den Schreibmaschinenexperten, hereinzurufen.
»Diese Umrißskizze«, fuhr Curtis fort, als der Beamte gegangen war, »wurde von Herrn Sinclair und mir nach den Fußspuren des Mörders angefertigt und stimmt genau mit den Umrissen der Schuhe des Herrn George Anthony überein.«
Boyce schaute überrascht auf. »Was, Sie glauben also …«
»Ich glaube, Herr Oberinspektor, daß Grund für Verdacht vorhanden ist.«
Die Türe öffnete sich und Herr Thomas trat ein.
»Schauen Sie her, Thomas,« redete ihn Boyce an, »das schlägt in Ihr Fach. Können Sie mir sagen, ob diese beiden Schriftstücke mit ein und derselben Maschine geschrieben sind?«
Nach sorgfältiger Untersuchung meinte Thomas: »Es hat den Anschein, als ob die beiden Schriften zumindest von Maschinen der gleichen Marke herstammten, aber es bedarf einer mikroskopischen Untersuchung, um festzustellen, ob sie wirklich mit der gleichen Maschine geschrieben wurden. Der Abnützungsgrad der einzelnen Typen gibt die beste Handhabe dazu. Wenn ich diese Papiere mit mir nehmen darf, kann ich Ihnen einen zuverlässigen Bericht darüber geben.«
»Bitte tun Sie das. Es handelt sich um eine Sache von größter Wichtigkeit. – So, Curtis,« sagte Boyce, nachdem dieser seine Geschichte zu Ende erzählt hatte, »überlassen Sie jetzt das Weitere mir. Sie haben ausgezeichnet gearbeitet und ich werde dafür sorgen, daß Ihnen für Ihre Bemühungen entsprechende Anerkennung zuteil wird, aber die weiteren Erhebungen werden jetzt wir pflegen. Die Sache wächst sich zu einer Sensation aus.« Er rieb sich vergnügt die fetten Hände.
Curtis konnte seine Enttäuschung nicht verbergen. »Ich soll also nicht mehr in London bleiben?«
»Nein, mein Sohn, fahren Sie nur beruhigt wieder nach Hause. Ich werde Sie über den Verlauf der Sache auf dem laufenden halten. Und vor allem: redet Sie mit niemandem ein Wort darüber.«
Es klopfte und ein Schreiber trat ein. »Ein Herr wünscht Sie zu sprechen, Herr Polizeirat,« sagte er und überreichte Boyce eine Visitenkarte.
»Ich lasse bitten.« Boyce gab Curtis mit einem gnädigen Kopfnicken zu verstehen, daß die Unterredung zu Ende sei.
Boyce erhob sich von seinem Sessel, um den berühmten Schriftsteller Robert Kenyon zu begrüßen. Wie alle Menschen seiner Art, war er gegen Untergebene großschnauzig, aber den Großen und Erfolgreichen gegenüber von devoter Höflichkeit. Nichts machte ihm mehr Vergnügen, als in seinem Klub sagen zu können: »General Ypsilon hat mir heute morgen erzählt … Sie wissen doch, der berühmte Heerführer, – übrigens ein intimer Freund von mir …«
»Womit kann ich Ihnen dienen, Herr Kenyon? Wollen Sie nicht Platz nehmen?«
Kenyons markantes Gesicht war fahl und abgespannt, von tiefen Furchen durchzogen, sein Haar eine Nuance mehr ergraut. Er sah um Jahre älter aus, als am Tage des Mordes und müde nahm er in einem Sessel Platz.
»Ich bin gekommen, Herr Boyce, um Sie zu fragen, ob Sie irgendwelche Nachrichten über den Verbleib meiner Frau haben.«
»Ich bedauere, bedauere unendlich, Herr Kenyon. Meine besten Leute habe ich mit den Nachforschungen betraut und auch auf die hohe Belohnung hingewiesen, die Sie ausgesetzt haben. Bisher war leider alles vergeblich.«
»Ich halte es nicht mehr aus,« Kenyon fuhr sich mit seiner mageren, nervösen Hand über die Stirne. »Sie ist spurlos verschwunden. Anfangs war ich nicht eigentlich beunruhigt, – ich glaubte, sie sei zu Bekannten gegangen, vielleicht etwas aus dem seelischen Gleichgewicht gebracht durch die Katastrophe – jetzt aber bin ich auf das Schlimmste gefaßt –«
»Sie glauben, daß sie sich vielleicht – –« Boyce wagte es nicht, seine Vermutung auszusprechen.
»Ich weiß es nicht. Nichts in ihrem Verhalten läßt darauf schließen. Sie ist allerdings impulsiv wie alle Irländerinnen, und doch, ich kann es nicht glauben – nein, ich bin gewiß, daß sie so etwas nicht tun würde.«
»Sie glauben also an andere Möglichkeiten?«
»Ich will ganz offen reden, Herr Boyce. Meine Frau und Kitty Lake waren intime Freundinnen und vertrauten einander alles an. Wäre es nicht möglich, daß die gleiche Hand einen zweiten Mord begangen hätte, um den ersten zu verbergen? Vielleicht gibt mir nur meine gepeinigte Phantasie eine solche Möglichkeit ein, aber –«
Boyce reckte sich in seinem Sessel straff auf. »Nein, nein, Herr Kenyon. Das kann ich nicht glauben. Vielleicht hat sie das Gedächtnis verloren und wandert ziellos umher. Sie erinnern sich wohl an einen berühmt gewordenen Fall dieser Art?«
»Ich weiß, ich weiß, und ich versuche mir einzureden, daß der Fall eine verhältnismäßig harmlose Lösung finden wird. Und doch bin ich überzeugt davon, daß nur ein Wahnsinniger Kitty Lake ermordet haben kann und daß er meine Frau unter irgendeinem Vorwand weggelockt hat. Ihre Leute haben mehr als ihre Pflicht getan. Sie haben jeden Winkel meines Hauses durchstöbert, um auf eine Spur zu kommen, aber vollkommen ergebnislos.«
»Es gibt eine Möglichkeit, aber ich wage es kaum, sie auszusprechen.«
Boyce vermied es, seinem Gegenüber ins Gesicht zu schauen und machte sich nervös mit seinem Papiermesser zu schaffen.
»Sprechen Sie, wir müssen jede Möglichkeit in Betracht ziehen.«
»Nun denn, verzeihen Sie mir, Herr Kenyon –. Es ist wohl ganz ausgeschlossen, daß sie freiwillig fortgegangen ist … ich meine … nicht allein?«
Kenyon umklammerte die Lehne seines Stuhles mit solcher Gewalt, daß seine Knöchel weiß wurden.
»Großer Gott, Mann, setzen Sie mir den Gedanken nicht in den Kopf. Habe ich mir diese Frage nicht selbst Tag und Nacht vorgelegt? Die Möglichkeit liegt wie ein Alpdruck auf mir. Aber mit wem? Mit wem nur? Sie ist die treueste und ehrlichste Natur in der Welt und niemals ist mir auch nur eine Sekunde lang der Gedanke aufgestiegen, sie liebe mich nicht mehr. Gewiß, ich bin wesentlich älter als meine Frau und Eifersucht ist wohl keinem Mann, der liebt, ganz fremd, aber – nein, ich bin überzeugt davon, daß Sie sich irren.«
Boyce kämpfte schwer mit diesem Verdacht, den er im Grunde seines Herzens für gerechtfertigt hielt.
»Es bleibt uns nur ein Weg. Wir müssen eine Mitteilung an die Presse gelangen lassen und ihre Hilfe anrufen. Es wird sich empfehlen, öffentlich eine Belohnung auszuschreiben und durch das Radio das Publikum um Unterstützung unserer Nachforschungen anzugehen.«
Kenyon ächzte. »Sie haben recht, so furchtbar mir auch der Gedanke ist, mein Familienleben durch die Gasse geschleift zu sehen. In den Klubs wird man die Achseln zucken und sagen: Armer Kenyon! Ich vertrage alles, nur kein Mitleid … aber wenn es keine andere Möglichkeit gibt, müssen wir eben diese ergreifen. Ich würde es mir niemals verzeihen, das geringste verabsäumt zu haben.«
»Also gut. Ich werde sofort das Nötige veranlassen.«
»Ich vermute,« sagte Kenyon aufstehend, »daß Sie der Aufklärung des Mordes noch nicht näher gekommen sind. Es sieht so aus, als sollte dieses Geheimnis ewig dunkel bleiben.«
»Der Ansicht bin ich nicht.« Boyce blähte sich förmlich vor Wichtigkeit. »Das Geheimnis wird nicht unaufgeklärt bleiben.«
»Sie sind also dem Mörder auf der Spur?«
»Wir dürften in allerkürzester Zeit in der Lage sein, einen entscheidenden Schritt zu tun. Ich habe dem Fall meine persönliche Aufmerksamkeit geschenkt. Heute kann ich Ihnen nur das eine sagen: Es steht etwas bevor.«
»Freut mich, das zu hören. Dieses Warten ist unerträglich. Also Sie haben eine sichere Spur? Mir ist die Sache so dunkel wie am ersten Tag, obgleich ich mich doch seit Jahren mit Kriminologie befasse. Allerdings haben Sie ja sicher Informationen, die mir fehlen. Das ist ein gewaltiger Unterschied.«