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11. Kapitel.
Die Verhandlung.

Der Schwurgerichtshof war zum Ueberströmen voll. Neben dem Stammpublikum bei solchen Fällen und den üblichen sensationslüsternen Damen der Gesellschaft hatte der Mordprozeß gegen George Anthony auch zahlreiche führende Literaten und Schauspieler angezogen. Die exponierte gesellschaftliche Stellung der Beteiligten kam in der Zusammensetzung der Zuhörerschaft voll und ganz zum Ausdruck.

Die angeregte Unterhaltung im Saale hörte mit einem Schlage auf, als der Richter eintrat und sich dreimal förmlich verneigte, vor den Anwälten, vor den Geschworenen und vor dem Publikum. Alle Anwesenden hatten sich beim Eintritt des Richters erhoben.

Nach den üblichen Formalitäten führten zwei riesige Polizisten den Angeklagten herein. Er war totenbleich und schien furchtbar gealtert. Der wuchtende seelische Druck der letzten Wochen hatte der empfindsamen Natur des Schauspielers in furchtbarer Weise zugesetzt. Beim Betreten des Saales schien es ihm, als starrten ihn Millionen blutdürstige Fratzen an. Er kam sich vor, wie sich ein römischer Gladiator vorgekommen sein mag, als die elegante Welt mit dem Gefühl angenehmen Nervenkitzels auf den Anblick seiner zerfleischten Glieder und seiner im Sand verstreuten, dampfenden Eingeweide wartete.

Fast gleichzeitig aber kam ihm sein Stolz zu Hilfe und er nahm alle seine Kraft zusammen, um für die ihm bevorstehende Tortur gewappnet zu sein. Er hörte, wie die Anklage, die auf gemeinen Mord lautete, verlesen wurde. Auf die Frage, ob er sich schuldig bekenne, antwortete er: »Nicht schuldig!« und zwar, wie die Zeitungsberichte feststellten, »mit fester Stimme«, obgleich er selbst den Klang seiner Stimme überhaupt nicht vernahm.

Der Kronanwalt, der die Anklage gegen ihn führte, war eine scheußliche, bebrillte, kleine Kreatur, namens Kapsley Smidt. Er erhob sich, blickte sich nach allen Seiten um, als ob er auf Beifall warte und rückte seine Brille zurecht.

»Herr Richter, meine Herren Geschworenen!« (Anthony dankte Gott dafür, daß auf der Geschworenenbank keine Frau saß.) »Niemals während meiner ganzen langjährigen Tätigkeit ist mir ein traurigerer Fall vorgekommen, als der heutige. Das ermordete Mädchen war jung und schön und stand auf der Schwelle einer großen Bühnenlaufbahn. Hell und strahlend lag die Zukunft vor ihr. Auch der Angeklagte, den Sie hier vor sich sehen, ist ein Mann von hohen Gaben, berufen zu den höchsten künstlerischen Zielen. Zudem ein Mann, der sich eines fleckenlosen Rufes erfreute, was um so höher zu werten ist, als die Lebensführung der Angehörigen seines Berufes stets dem Scheinwerferlicht des öffentlichen Interesses ausgesetzt ist.«

Jeder fühlte, daß der Kronanwalt eindrucksvoll begonnen hatte.

»Man ist vielfach der Ansicht, daß ein Indizienbeweis für ein Verbrechen immer eine gefährliche Sache sei, und doch ist das indirekte Beweisverfahren, wenn es nur lückenlos ist, verläßlicher als das direkte. Im vorliegenden Falle hoffe ich, die Herren Geschworenen davon zu überzeugen, daß die Kette von Beweisen, die sich um den Angeklagten schlingt, unzerreißbar ist und daß er trotz seines Aussehens und seines Rufes eines Verbrechens schuldig ist, wie es sich scheußlicher die wildeste Phantasie nicht ausmalen kann. Nicht einmal mildernde Umstände können von der Verteidigung vorgebracht werden, denn wenn die Beweise für seine Schuld glaubwürdig erscheinen, so wurde das ganze teuflische Verbrechen mit äußerster Tücke und Kaltblütigkeit vorbereitet.

Was wissen wir bisher an unbestreitbaren Tatsachen über diesen Fall? Am 10. Juni dieses Jahres bewohnte Herr Kenyon, der bekannte Bühnenschriftsteller, mit seiner Gattin und seinem Sekretär sein kleines Landhaus, nahe bei Littleworth. Fräulein Kitty Lake war auf einige Tage zu Besuch gekommen. Genauer gesagt, war sie seit sieben Tagen dort, als sich der tragische Vorfall ereignete. Wollen Sie sich dieses Detail bitte sorgfältig merken. Am Nachmittag des genannten Tages zog sie sich aus freiem Willen in das Studierzimmer zurück und schloß die Türe ab, ließ aber die Fenster offen. Das Zimmer hat eine Fenstertür, die direkt in den Garten führt. Bitte, meine Herren Geschworenen, wollen Sie sich diesen Plan des Hauses ansehen.«

Einer der Geschworenen nach dem anderen studierte den Plan auf das genaueste.

»Herr Kenyon und Hauptmann Farrar waren damit beschäftigt, ein neues Stück zu besprechen, als sie im Nebenzimmer reden hörten. Die eine Stimme gehörte einem Manne an, die andere Fräulein Lake, die sich offenbar in großer Erregung befand. Sie gebrauchte die Worte: ›Gehen Sie weg, das kann zu nichts Gutem führen.‹ Hauptmann Farrar lief um das Haus herum zum Garteneingang, um festzustellen, wer der Mann wohl sein könne. Herr Kenyon versuchte die Türe einzubrechen. Als sie den Raum betraten, war der Mörder schon weg und das Mädchen lag mit durchschnittener Kehle auf dem Boden. Der Tod muß sofort eingetreten sein.

Das ärztliche Gutachten wird Ihnen dartun, daß Fräulein Lake in anderen Umständen war, eine Tatsache, aus der mit großer Wahrscheinlichkeit das Motiv des Täters abgeleitet werden kann.

Ich werde ferner nachweisen, daß der Angeklagte mit Fräulein Lake nicht nur zusammen in Stücken des Herrn Kenyon die Hauptrolle gespielt hat, sondern, daß er auch persönlich viel mit ihr verkehrt hat. Es wäre also aus den Umständen heraus durchaus erklärlich, wenn Anthony in Leidenschaft für die reizvolle junge Kollegin entflammt wäre.

Sie müssen nunmehr alle Schritte des Angeklagten genau verfolgen. Er kam drei Tage vor dem Verbrechen in Littleworth an, ohne Herrn oder Frau Kenyon von seinem Aufenthalt zu sagen. In der Voruntersuchung gab er als Grund hiefür an, daß er nicht den Anschein erwecken wolle, als ob er sich in aufdringlicher Weise um die Hauptrolle in Herren Kenyons neuem Stück bewerbe. Wenn Sie bedenken, daß er in den drei letzten Werken dieses Schriftstellers die tragende Rolle gespielt hat, werden Sie ungefähr wissen, welches Gewicht Sie auf diese Aussage des Angeklagten zu legen haben.

An dem verhängnisvollen Nachmittag macht er einen Spaziergang und die Zeit seiner Abwesenheit stimmt genau mit der Zeit überein, die nötig gewesen wäre, um zum Mordhause und zurück zu gehen. Er kann keinerlei Aufklärung darüber geben, wohin er ging, ebensowenig traf er jemand, der seine Behauptung bestätigen könnte. Ich werde den Beweis dafür liefern, daß im Wald, in unmittelbarer Nähe von Herrn Kenyons Garten, ein Handschuh gefunden wurde, der dem Angeklagten gehört. Den dazugehörigen hat er im Gasthaus ›Zur Epheuranke‹ zurückgelassen. Der Fabrikant der Handschuhe hat bestätigt, daß die beiden Handschuhe ohne jeden Zweifel ein Paar bilden.

Wir kommen jetzt zur Aussage des Hausmädchens Sarah Middleton. Ich verlange von Ihnen nicht, dieser Aussage allzu viel Gewicht beizulegen, denn das Mädchen erscheint, wenn auch nicht gerade schwachsinnig, so doch einigermaßen beschränkt. Sie sagt aus, daß sie am Tage vor dem Mord im Walde ein Mann ansprach und ihr ein versiegeltes Couvert mit dem Auftrag übergab, es der jungen Dame zu übergeben. Auf dem Couvert befand sich keine Adresse. Das Mädchen erinnert sich an den Vorfall um so genauer, als der Mann ihr ein unverhältnismäßig hohes Trinkgeld gab. Die Zeugin hat den Mann, der ihr den Brief übergab, mit absoluter Sicherheit in dem Angeklagten wiedererkannt. Sie händigte den Brief Fräulein Lake aus, die ihn entgegennahm, ohne eine Bemerkung zu machen. Der Inhalt des Schreibens war folgender:«

Hier las Smidt das Schriftstück vor.

»Der Brief war mit Maschine geschrieben, und zwar auf der Maschine, die sich in der Wohnung des Angeklagten befand. Ich werde Sachverständigenurteile darüber beibringen, daß dies aus Besonderheiten gewisser Typen mit Bestimmtheit hervorgeht. Wenn noch der geringste Zweifel über diesen Punkt bestände, so müßte er durch den Umstand zerstreut werden, daß das Papier, das ein ziemlich ungewohntes Format aufweist, genau mit dem übereinstimmt, das auf dem Schreibtisch des Angeklagten gefunden wurde.

Am Morgen nach dem Verbrechen nahm Inspektor Sinclair von Scotland Yard zusammen mit Sergeant Curtis von der Ortspolizei die Fußspuren außerhalb des Fensters auf. Zwei Paar Fußspuren stimmen genau mit den Umrissen der Stiefelsohlen des Angeklagten überein. Die polizeilichen Untersuchungen machten es zur Gewißheit, daß sie von den Schuhen hervorgebracht wurden, die der Angeklagte am Tage der Tat trug.

Ich komme nunmehr zu einem sehr bemerkenswerten Umstand und gestehe gerne ein, daß es sich hier um einen Punkt handelt, der der Verteidigung von größerem Nutzen ist als der Anklage. Die Nacht, die dem Verbrechen folgte, brachte Inspektor Sinclair in dem Zimmer zu, in dem die Tat begangen worden war. Er sagte aus, daß der Mörder während der Nacht zurückkehrte, wahrscheinlich, um den Brief wieder an sich zu bringen, falls er noch nicht gefunden worden sei. Der Angeklagte verbrachte ebenso wie Herr Kenyon und Hauptmann Farrar die Nacht im Wohnzimmer des Mordhauses, und zwar auf Inspektor Sinclairs besonderen Wunsch. Wenn, wie die Anklage behauptet, der Angeklagte sich aus dem Zimmer schlich und versuchte, durch das Fenster in das Arbeitszimmer zu gelangen, während die beiden anderen schliefen, so ist es nicht recht mit dem Pflichtbewußtsein eines Mannes wie Sinclair zu vereinbaren, daß er sagte, er wisse, wer der Mörder sei, und dennoch seine Identität verschwieg.«

Sir James Duncan erhob sich.

»Entschuldigen Sie die Unterbrechung, aber ich habe das Protokoll von Sinclairs Aussage vor mir. Er sagte nicht, daß er wisse, wer der Mörder sei, sondern nur, daß er wisse, wer der Mann gewesen sei, der in der Nacht erschien.«

Smidt blickte den Verteidiger kalt an.

»Meiner Ansicht nach kommt das auf dasselbe heraus, aber der Herr Verteidiger ist natürlich dazu berechtigt, auf diesen feinen Unterschied hinzuweisen. Ich fahre fort. Wir haben versucht, uns mit Sinclair, der in einer Angelegenheit von äußerster Wichtigkeit ins Ausland abberufen wurde, in Verbindung zu setzen, aber wir erhielten soeben ein Telegramm, demzufolge er spurlos verschwunden ist.«

Diese Mitteilung erregte im Publikum gelinde Aufregung.

»Handelte es sich um einen gewöhnlichen Menschen, so würde dies sicher Anlaß zu Besorgnis geben, aber da der Beamte eine ungemein heikle Aufgabe zu lösen hat, so wünscht er möglicherweise nicht, daß sein Aufenthalt bekannt wird. Die Polizei zumindest ist dieser Anschauung.

Wir kommen nunmehr zu einem Beweisstück von größter Bedeutung, das erst in den letzten Tagen bekannt geworden ist. Natürlich habe ich die Verteidigung gebührend davon unterrichtet.

Das Verbrechen wurde mit einem sehr scharfen Messer mit Holzgriff verübt. Es ist nunmehr erwiesen, daß dieses Messer Eigentum des Angeklagten ist.«

Er machte eine Pause und aller Blicke waren auf den unglücklichen Angeklagten gerichtet.

Smidt nippte langsam an seinem Wasserglas und wartete, bis sich dieses sensationelle Beweisstück voll ausgewirkt hatte.

»Sie haben bereits gehört, daß ein linker Ziegenlederhandschuh im Wald gefunden wurde, während der dazugehörige rechte im Zimmer des Angeklagten im Gasthof gefunden wurde. Zeugenaussagen werden Ihnen beweisen, daß die Tat von einem Linkshänder begangen wurde und der Diener des Angeklagten wird Ihnen bestätigen, daß sein Herr Linkshänder ist. Daß keine Fingereindrücke gefunden wurden, ist eben zweifelsohne darauf zurückzuführen, daß der Angeklagte einen Handschuh trug.

Dies sind die Beweise, auf die sich meine Anklage stützt und ich glaube, daß es Ihnen nicht schwer fallen wird, zu dem Schluß zu kommen, daß der Angeklagte dieses grausame Verbrechen an einem harmlosen jungen Mädchen begangen hat, und daß er die Tat genau geplant und mit erbarmungsloser Kaltblütigkeit durchgeführt hat.

Es ist nicht schwer, die Art und Weise, mit der der Täter zu Werke gegangen ist, zu rekonstruieren. Das tägliche Beisammensein mit der schönen jungen Künstlerin führte zu intimen Beziehungen. Es handelte sich entweder um eine vorübergehende Leidenschaft oder ein dauerndes Verhältnis. Dann tritt ein Ereignis ein, das vielleicht nie aufgeklärt werden wird. Seine Leidenschaft erkaltete oder eine andere Frau erscheint auf der Bildfläche. Jedenfalls taucht der Wunsch in ihm auf, das Mädchen, das er ins Unglück gestürzt hat, loszuwerden. Vielleicht hatte sie damit gedroht, ihn vor ihrem Gastgeber und seiner Gattin bloßzustellen – wer weiß? Jedenfalls führte er eine Zusammenkunft herbei und erscheint mit der tödlichen Waffe und mit einem Handschuh an der linken Hand, um Fingerabdrücke unmöglich zu machen. Das arme Ding ging in die Falle und schloß sich ein, während sie die Fenstertüre offen ließ. Er tritt ein und nach einer im Flüsterton geführten Unterredung schneidet er ihr mit kalter Ueberlegung die Kehle durch. Aufgeschreckt durch Herrn Kenyons Versuche, die Türe aufzubrechen, verläßt er das Zimmer. Dies ist in großen Umrissen der Tatbestand. Ich werde nunmehr beginnen, die Zeugen aufzurufen.«

Zunächst wurden Kenyon und Farrar aufgerufen und wiederholten ihre bereits früher gemachten Aussagen.

Sodann wurde Sergeant Curtis danach befragt, ob er den im Walde gefundenen und den im Gasthof zurückgelassenen Handschuh mit Sicherheit als ein Paar bezeichnen könne. Er vermochte die Frage mit Bestimmtheit zu bejahen, denn der Name des Fabrikanten war auf beiden Handschuhen ersichtlich und der Händler erinnerte sich genau daran, sie dem Angeklagten verkauft zu haben. In ähnlicher Weise wurde sodann durch Zeugenaussagen festgestellt, daß Anthony das Messer, mit dem das Verbrechen begangen worden war, gekauft hatte.

Schließlich wurde Anthonys Diener aufgerufen und erschien traurig und dem Weinen nahe. Er konnte nur bestätigen, daß sein Herr Linkshänder sei. Er tat sein Bestes, um seinen Dienstgeber zu entlasten. »Herr Anthony hat sich soweit von seiner Linkshändigkeit kuriert, daß er Messer und Gabel mit der rechten Hand benützt. Ich verstehe also nicht, wie er die Tat begangen haben kann.«

Der Kronanwalt wies ihn mit der Bemerkung scharf zurecht, daß er nicht hier sei, um seiner Privatmeinung Ausdruck zu geben, sondern um Fragen zu beantworten. Mit einem schmerzerfüllten Blick auf seinen Herrn verließ der Diener den Saal. »Das Beweisverfahren der Anklage ist hiermit beendet,« verkündete Smidt endlich. »Wir hätten noch eine weitere Zeugin aufrufen können, nämlich Frau Kenyon, aber ihre Aussage ist nicht von Wichtigkeit. Außerdem wird die Dame, wie ich zu meinem Bedauern mitteilen muß, noch immer vermißt. Alle Bemühungen, sie aufzufinden, haben sich bisher als vergeblich erwiesen. Ich bin überzeugt davon, daß der Gerichtshof tiefes Mitgefühl mit ihrem Gatten, der so Schreckliches durchmachen mußte, empfindet.«

Während der Pause hatte Forbes eine eilige Unterredung mit Anthony. »Sir James wünscht zu wissen, ob Sie trotz allem, was Sie soeben gehört haben, noch wünschen, von der Verteidigung aufgerufen zu werden und auszusagen.«

»Selbstverständlich will ich das.«

»Ich möchte Sie nur darauf aufmerksam machen, daß Sie nicht dazu gezwungen werden können.«

»Das weiß ich wohl. Aber es würde sicherlich einen ungünstigen Eindruck auf die Geschworenen machen, wenn ich mich der Aussage entschlüge. Ich habe oft genug Berichte über Mordprozesse in den Zeitungen verfolgt.«

Seine Nerven waren nahe daran, nachzugeben und auch sein Anwalt sah blaß und sorgenvoll aus. »Nun, wie Sie wollen,« meinte er.

Als der Gerichtshof wieder versammelt war, erhob sich Sir James.

»Ich werde keinen Zeugen aufrufen als den Angeklagten selbst,« kündigte er an. Auf diese Weise sicherte er sich das letzte Wort, ein wichtiger Faktor in Verhandlungen wegen Mordes.

Anthony trat zur Aussage vor. Er war jetzt ruhig und gesammelt. In dieser Stunde der letzten Prüfung, die über sein Schicksal entscheiden sollte, war er Herr aller seiner geistigen und körperlichen Kräfte. Er sah sich vergeblich nach einem Antlitz um, das zu sehen er gleichzeitig hoffte und fürchtete. Er fand es nicht. Dann trafen seine Augen die Arthur Barrats, die wie hypnotisiert auf ihm ruhten. Irgendetwas in seinem schneeweißen Antlitz ließ Anthony nicht los und einen Augenblick lang konnte er den Blick nicht von ihm wenden. Angst und äußerste Spannung drückten sich in Arthurs Zügen aus. Anthony vermochte erst seinen Blick aus dem des andern zu lösen, als die Stimme des Verteidigers an seine Ohren drang.

»Erzählen Sie den Herren Geschworenen genau, was Sie am Nachmittage, an dem der Mord begangen wurde, taten.«

»Ich nahm meinen Lunch im Gasthaus ›Zur Epheuranke‹ in Littleworth ein und unternahm dann einen Spaziergang.«

»In welcher Richtung?«

»Ich kenne die Gegend nicht genau, aber ich glaube, daß ich gegen Norden auf die Hügel zu ging.«

Sir James runzelte die Stirne. »Also in der Richtung des Hauses, in dem der Mord begangen wurde.«

»Vermutlich.«

Die Anwesenden sahen einander an. Vor ihnen stand entweder ein einfältiger, argloser Mensch oder ein listenreicher Verbrecher, der einen ganz bestimmten Eindruck künstlich hervorrufen wollte.

»Sie sind niemandem begegnet, der Sie identifizieren könnte?«

»Keiner Seele.«

»Waren Sie überrascht, als Hauptmann Farrar Sie im Gasthof traf und Ihnen die Neuigkeit mitteilte?«

»Es schien mir vollkommen unglaublich. Ich wußte nicht einmal, daß Fräulein Lake bei den Kenyons zu Besuch war.«

Erstaunen malte sich in allen Gesichtern.

»Dann brauche ich also nicht erst zu fragen, ob Sie diesen Brief an Fräulein Lake geschrieben haben?«

»Ich habe weder diesen Brief an sie geschrieben, noch habe ich ihr überhaupt jemals geschrieben.«

»Sie waren häufig mit ihr zusammen?«

»Sehr selten, außer bei den Proben. Ihre Mutter oder Herr Barrat pflegten sie vom Theater abzuholen.«

»Wer ist Herr Barrat?«

»Der Bräutigam von Fräulein Madeline Lake, der Schwester der Toten.«

»Ich verstehe. Können Sie eine Erklärung dafür geben, daß Ihr Handschuh im Walde nahe dem Landhaus gefunden wurde?«

»Ich dürfte ihn dort fallen gelassen haben.«

»Sie meinen, daß jemand ihn aufgehoben hat?«

»Möglicherweise.«

»Wie erklären Sie es sich, daß das Messer, das Ihr Eigentum war, zur Ermordung Fräulein Lakes verwendet wurde?«

»Das kann ich mir überhaupt nicht erklären. Ich hatte das Messer Fräulein Lake selbst gegeben.«

Das schien wie die Aussage eines verzweifelt um sein Leben Kämpfenden. Den Zuhörern erschien diese Lüge denn doch ein wenig gar zu gesucht und fadenscheinig.

»Sie können also gar nichts zur Aufklärung des Geheimnisses beitragen? Sie verdächtigen niemanden?«

»Das Verbrechen ist mir vollkommen unerklärlich.«

»Das Gesetz gebietet mir, Sie in aller Form zu fragen, ob Sie das Verbrechen begangen haben oder Kenntnis von demselben hatten?«

»Nein. Ich habe in keiner Weise Anteil daran,« antwortete Anthony mit fester, ruhiger Stimme.

Sir James setzte sich und Smidt erhob sich zum Kreuzverhör. »Sie haben die Zeugenaussage gehört, der zufolge die Fußspuren außerhalb des Fensters genau mit den Umrissen Ihrer Schuhe übereinstimmen. Können Sie das erklären?«

»Meine Schuhe sind offensichtlich von jemand anderem getragen worden.«

»Sie behaupten also, daß jemand Ihre Schuhe stahl, um sie für diesen besonderen Zweck anzuziehen?«

»Ich behaupte nichts.«

»Also lassen wir das. Sie glauben, daß jemand in Ihre Wohnung kam und Ihre Schreibmaschine sowie Ihr Papier benutzte, um den Brief zu schreiben?«

Anthony schwieg.

»Wir haben gehört, daß Sie im täglichen Leben das Messer mit der rechten Hand führen. Soll das bedeuten, daß Sie es mit der linken Hand überhaupt nicht benützen können?«

»Nur mit großer Schwierigkeit. Ich habe mich schon vor Jahren daran gewöhnt, Messer und Gabel mit der rechten Hand zu gebrauchen.«

»So, so,« sagte Smidt sarkastisch, »und trotzdem benutzen Sie Golfstöcke für Linkshänder?«

»Das kann ich nicht bestreiten.«

»Sie haben die Aussage der Sarah Middleton vernommen. Sie hat unter Eid ausgesagt, daß Sie ihr einen Brief übergaben.«

»Ich kann nicht dafür verantwortlich gemacht werden, was ein geistesschwaches Mädchen aussagt.«

»Das ist keine Antwort. Haben Sie diesem Mädchen einen Brief an Fräulein Lake gegeben oder nicht?«

»Nein.«

»Sie ist also eine Lügnerin?«

»Das habe ich nicht behauptet.«

Der Kronanwalt zuckte die Achseln und blickte die Geschworenen an.

»Sie sagen, daß Sie Fräulein Lake das Messer gegeben haben. War das nicht ein merkwürdiges Geschenk an ein junges Mädchen?«

»Das ist leicht zu erklären. Im letzten Stück, in dem wir zusammen auftraten, hatte ich sie im letzten Akt zu ermorden. Eines Abends ergab es sich, daß das Bühnenmesser verlegt worden war. Da keine Zeit vorhanden war es zu suchen, nahm ich statt dessen dieses Messer. Nach der Vorstellung erzählte ich ihr das, und sie machte einen Witz darüber, daß ich ein ›richtiges‹ Messer genommen habe. Deshalb gab ich es ihr als Andenken.«

»Sie haben es also verwendet, um sie auf der Bühne zu ›ermorden‹?«

»Herr Richter,« rief Sir James aufspringend, »ich bin der Ansicht, daß dies eine sehr ungehörige Bemerkung ist!«

»Ich bin derselben Ansicht,« sagte der Richter streng. »Die Bemerkung war ganz und gar nicht am Platze und ich verlange, daß sie zurückgenommen werde.«

»Ich bitte um Entschuldigung, Herr Richter, und nehme die Bemerkung selbstverständlich zurück,« sagte Smidt, durch diesen unerwarteten Rüffel etwas aus dem Konzept gebracht. »Weiter habe ich nichts zu sagen.« Er setzte sich.

Anthony war aus der Prüfung besser hervorgegangen, als Sir James zu hoffen gewagt hatte, aber trotzdem stand er nach den Schlußworten des Kronanwaltes schweren Herzens auf, um für das Leben des Angeklagten zu kämpfen.

»Herr Richter, meine Herren Geschworenen! Der Herr Kronanwalt hat selbst zugegeben, daß die Anklage sich lediglich auf Indizien stützt. Nicht die Spur eines direkten Beweises dafür, daß mein Klient mit dem Verbrechen das geringste zu schaffen hat, ist erbracht worden. Ich behaupte im Gegenteil, daß der Leumund und die Lebensführung des Angeklagten unbedingt dagegen sprechen, daß er der Schuldige sei. Er hat Ihnen offen gesagt, daß er einen Spaziergang gerade in der Richtung des verhängnisvollen Hauses gemacht hat. Da ihn niemand gesehen hat, wäre es ihm ein leichtes gewesen, auszusagen, daß er in die entgegengesetzte Richtung ging.

Er blieb ruhig in der ›Epheuranke‹, wo er sich unter seinem richtigen Namen gemeldet hat, ohne den geringsten Versuch, seine Anwesenheit zu verheimlichen. Ohne zu zögern, begleitete er Hauptmann Farrar und schlief während der Nacht, die dem Verbrechen folgte, im Raum unmittelbar neben dem Mordzimmer. Einer solchen Handlungsweise wäre nur eine kalte Verbrechernatur fähig und ich behaupte, daß der Charakter und das Temperament meines Klienten vollkommen gegen eine solche Vermutung sprechen. Ist es glaubhaft, daß er kaltblütig eine solche Tat begehen würde, nur durch eine einzige Türe von zwei Männern getrennt, die jeden Augenblick eintreten konnten, während es doch für solch einen Verbrecher weit praktischer gewesen wäre, eine Zusammenkunft im Walde herbeizuführen? Keinerlei Beweis dafür, daß der Angeklagte an der Schwangerschaft des Mädchens schuld war, ist erbracht worden. Er hat Ihnen gesagt, daß er den Brief nicht geschrieben hat, aber selbst wenn er ihn geschrieben hätte, was ich freilich nicht einen Augenblick lang zugebe, so würde dies nichts anderes beweisen als seine Liebe zu dem Mädchen.

Das ärztliche Sachverständigenurteil bietet volle Klarheit darüber, daß ein Selbstmord unter keinen Umständen vorliegt, und doch möchte ich den Herren Geschworenen die Frage nahe legen, ob nicht eine Person, die in höchster Verzweiflung handelt, über Kräfte verfügen kann, die ihre sonstigen weit übersteigen.

Der Herr Kronanwalt hat gesagt, daß ein Indizienbeweis manchmal zuverlässiger ist als ein direkter Beweis. Ich bin der gleichen Meinung, aber ein Indizienbeweis ist ein gefährliches Spielzeug. Im Leben wie in der Literatur kommen zuweilen Fälle von zufälligem Zusammentreffen erstaunlicher Umstände vor, die aneinandergereiht zweifellos zu einem Schuldspruch der Jury führen müssen, trotzdem die beschuldigte Person in Wirklichkeit nur das Opfer des Zusammentreffens verschiedener sonderbarer Umstände ist. Wenn Sie meinem Klienten seine offenherzige Darstellung der Messersache glauben, so haben Sie gleich einen Fall, wie eine höchst verdächtige Tatsache auf die einfachste Weise ihre Erklärung finden kann. Die Aussage der Zeugin Middleton ist ganz und gar unglaubwürdig. Sie hat über das Verbrechen nachgegrübelt und wir haben ja gehört, daß sie wie eine Wahnsinnige in dem verlassenen Landhaus herumirrte. Es ist anzunehmen, daß ihr verwirrtes Hirn sich Dinge einbildet, an die sie steif und fest glaubt und die dennoch nur Trugbilder sind. Es bleiben also als Beweisstücke nur die Handschuhe und der Brief in Maschinenschrift übrig und in beiden Fällen ist es höchst gefährlich, für den Angeklagten belastende Schlüsse zu ziehen, denn eine harmlose Erklärung liegt durchaus im Bereiche des Möglichen.«

Hier unterbrach ihn ein Geschworener: »Und die Fußspuren?«

»Darauf wollte ich soeben kommen. Ohne die sicherlich sehr sorgfältigen Gutachten der Sachverständigen irgendwie anzweifeln zu wollen, darf man doch nicht vergessen, daß die Fußspuren als sehr undeutlich bezeichnet wurden. Viele Spuren sind beinahe identisch. Als ein sicheres Beweismittel können sie nicht gelten.

Dieser Mann hier kämpft um sein Leben und – was ihm mehr wert ist – um seine Ehre. Wenn Sie nicht vollkommen davon überzeugt sind, daß er der Täter ist, so dürfen Sie nicht die schwere Verantwortung auf sich nehmen, einen möglicherweise Unschuldigen in einen schimpflichen Tod zu schicken. Die ganze Last der Entscheidung ruht auf Ihnen.«

Während der ganzen Rede seines Verteidigers beschäftigten sich Anthonys Gedanken seltsamerweise nicht mit seinem eigenen ungewissen Schicksal, sondern mit dem seltsamen Beruf des Juristen. Hier war ein Mann, der ihn im innersten seiner Seele eines schimpflichen Verbrechens schuldig hielt und doch mit dem Brustton der Ueberzeugung für seine Unschuld eintrat.

Seine Gedanken wurden erst durch die Stimme des Richters, der das Resümee begann, zu den Dingen des wirklichen Lebens zurückgeführt.

Es konnte keinen Augenblick ein Zweifel darüber herrschen, daß das Resümee für den Angeklagten im höchsten Grade ungünstig ausfiel. Der Richter sprach von ihm als »dem jungen Schauspieler« in einem Tone, als ob dieser Beruf bereits an und für sich ein Verbrechen bedeute. Er analysierte die Zeugenaussagen mit eiskalter Schärfe. Die Sachverständigengutachten bezeichnete er als vollkommen unparteiisch. Die Aussagen des Angeklagten zerzauste er in unbarmherziger Weise und gab zu verstehen, daß einem Mann, der keinen anderen Ausweg mehr wisse, nichts übrig bleibe, als eben diese Art der Verteidigung. Er schloß mit den Worten, daß, wenn niemand auf Grund eines Indizienbeweises verurteilt werden würde, die Hälfte aller Verbrechen ungesühnt blieben.

Endlich war alles vorüber. Die Geschworenen hatten sich zur Beratung zurückgezogen und Anthony wurde von zwei Polizisten aus dem Saal geführt. Eine qualvolle Wartezeit folgte. Es dauerte endlos lange, bis die Jury zu einem Entschluß gelangte.

Die Polizisten unterhielten sich im Flüsterton. Trotzdem verstand Anthony das meiste von dem, was sie sagten.

»Na, was glaubst Du?« fragte der eine.

»Er wird natürlich aufgehängt. Keine Spur von einem Zweifel. Der arme Kerl ist erledigt. Der Alte hat ihn mit seiner Schlußrede fertig gemacht.«

Eine Glocke läutete. Die beiden standen auf und winkten Anthony, ihnen zu folgen. Seine Füße waren wie Bleiklumpen. Endlich stand er doch wieder im Saal, rechts und links von den beiden Polizisten flankiert.

Der Richter trat ein und alle Anwesenden erhoben sich.

Mit feierlichem Murmeln stellte der Schriftführer die verhängnisvolle Frage: »Meine Herren Geschworenen, haben Sie Ihr Urteil gefällt?«

»Das haben wir,« sagte der Vorsitzende und sein Gesicht, das rot vor Erregung gewesen war, wurde plötzlich schneeweiß.

»Befinden Sie den Angeklagten schuldig oder unschuldig?«

»Schuldig!« war die furchtbare Antwort.

»Wurde dieser Entschluß einstimmig gefaßt?«

»Jawohl!« sagte der Mann und setzte sich rasch nieder. Der Richter fragte Anthony in feierlichem Tone, ob er noch etwas zu sagen habe.

Dieser schüttelte stumm den Kopf. Seine Zunge klebte ihm am Gaumen und versagte ihm den Dienst. Eine unnatürliche Ruhe kam über ihn. Er sah, wie ein schwarzes Viereck auf der Perücke des Richters zurechtgerückt wurde, das unheimliche Zeichen des bevorstehenden Todesurteils. Seine überwachen Sinne nahmen sogar wahr, daß die Mütze nicht ganz gerade saß, was dem Richter ein beinahe grotesk-komisches Aussehen gab. Er war nahe daran, zu lachen. Die Dämmerung war hereingebrochen und man hatte keine Lichter angezündet. Die Luft war heiß und stickig. Ein einzelner, ganz kurzer Laut, wie ein Schluchzen, durchbrach die unheimliche Stille.

Daun begann der Richter zu sprechen und Anthony stand kerzengerade vor ihm.

»George Anthony, die Geschworenen haben Sie des Mordes an Kitty Lake auf Grund klarster Beweise schuldig befunden. Es ist meine Pflicht, zu sagen, daß ich mit ihrem Urteil vollkommen übereinstimme. Die Justiz hat Sie Ihrer Tat überführt. Ihre eigenen Fehler haben Sie der Gerechtigkeit in die Hände geliefert. Ich kann Ihnen keine Hoffnung machen, daß die Entscheidung dieses Gerichtes von einem anderen umgestoßen werden könnte und Sie dürfen nicht auf Gnade bauen. Benutzen Sie die Zeit, die Ihnen noch gegeben ist, um Ihren Frieden mit Gott zu machen, dessen Gesetze Sie übertreten haben. Das Urteil des Gerichtshofes lautet: …«

Aber Anthony hörte nichts mehr. Ein schwarzer Nebel senkte sich über seine Augen. Von einem Polizisten gestützt, wankte er aus dem Saal. Die wenigen Worte, die George Anthonys Leben vielleicht gerettet hätten, ließ er ungesagt.


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