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Sinclair saß Nevin, einem der führenden Männer der Londoner Radiosendestation, in dessen Büro gegenüber. Er hatte ihn ausführlich über den Fall Kitty Lake unterrichtet und durch mehr als zwei Stunden hatte Nevin mit angespanntem Interesse zugehört.
Nachdem Sinclair geendet hatte, sagte der andere: »Sie haben mir diese Geschichte erzählt, weil Sie einen Vertrauten brauchen. Nur ist mir eines nicht ganz klar: Wir sind gewiß gute alte Freunde. Aber warum haben Sie gerade mich zu diesem Zwecke ausgewählt?«
»Weil Sie der einzige Mensch sind, der mir helfen kann. Die Zusammenstellung der Programme auf der Radiowelle 2 L O liegt fast ausschließlich in Ihren Händen. Können Sie mir da vielleicht behilflich sein?«
»Vielleicht. Um was handelt es sich?«
Sinclair sprach lange und ernst und setzte Nevin seinen Plan auf das genaueste auseinander. Höchstes Erstaunen malte sich in den Blicken seines Gegenüber.
»Das ist das Seltsamste, was ich in meinem ganzen Leben gehört habe. Ich bin mir noch nicht schlüssig darüber, ob ich Ihnen meinen Beistand zusichern darf.«
»Sie wissen ganz einfach von nichts. Ich übernehme die volle Verantwortung.«
Nevin dachte lange nach. »Also gut,« sagte er endlich, »ich will es tun, obgleich der Himmel weiß, was daraus entstehen mag.«
»Danke,« sagte Sinclair einfach, »vergessen Sie nicht. Am zehnten Juni!«
»Ich werde bestimmt nicht vergessen,« entgegnete Nevin mit Nachdruck. »Und ist sie bereit, ihre Rolle zu spielen?«
»Jawohl. Ich habe sie endlich dazu überredet. Ohne ihre Hilfe hätten wir kaum etwas erreichen können. Die beiden Mädchen waren Zwillinge, verstehen Sie?«
*
Die Nachricht, daß Robert Kenyon auf Welle 2 L O sprechen werde, erregte im ganzen Lande das größte Interesse. Jeder wußte, daß er etwas nicht Alltägliches zu hören bekommen werde. Die aufregenden Stücke dieses Dramatikers hielten das theaterliebende Publikum seit Jahren in Bann.
In den meisten Landhäusern Englands lud man an diesem Abend Gesellschaft ein, um den literarischen Leckerbissen zu genießen. Die Kinder schickte man vorsichtshalber besonders früh zu Bett. Vielfach sorgte man für gedämpfte Beleuchtung, um die richtige Atmosphäre zu schaffen.
Es war angekündigt worden, daß er einen Monolog sprechen würde, der die Gefühle und Gedanken eines zum Tode Verurteilten in der Nacht vor der Hinrichtung wiedergeben solle. Man erwartete also nicht mit Unrecht ein angenehmes Gruseln.
Nevin empfing den Dramatiker in den Räumen der Radiogesellschaft. Sein Gesicht trug einen ängstlichen Ausdruck und seine Hand zitterte ein wenig, als er Kenyon begrüßte.
Der Schriftleiter hatte den Wunsch ausgesprochen, allein zu sein; er wolle nicht durch ein Orchester oder durch eine anwesende zweite Person gestört sein und der Direktor, der die Eigenheiten der unterschiedlichen Berühmtheiten wohl kannte, hatte zugestimmt.
Die beiden Männer betraten das Studio. Vor dem Mikrophon war ein Tisch samt einem Sessel ausgestellt, eine elektrische Lampe warf helles Licht auf das Lesepult.
»Ich denke, Sie werden alles in Ordnung finden,« sagte Nevin.
Kenyon schaute sich um und beschattete seine Augen mit der Hand. »Warum schwarze Vorhänge?«
»Es ist besser für die Akustik.«
»Ja richtig! Aber warum haben Sie dort einen Sarg ausgestellt?«
»Sarg? Was meinen Sie bloß damit? Das ist doch ein Tisch.«
»Natürlich, ein Tisch,« Kenyon lachte ein wenig gequält. »Ich bin furchtbar nervös heute abend. Merkwürdig!«
Nevin sah ihn besorgt an. »Darf ich Ihnen einen Whisky bringen lassen?«
»Ich möchte darum bitten, es wird mir gut tun.«
Nevin verließ rasch den Raum und Kenyon blieb allein.
»Der wievielte ist heute?« murmelte er halb zu sich selbst.
»Der zehnte Juni,« ertönte eine Stimme hinter ihm.
Kenyon stieß einen unterdrückten Schrei aus und blickte sich ängstlich um, denn außer den schwarzen Vorhängen war in dem kahlen Raum nichts zu sehen. Wer hatte gesprochen? Oder war es nur eine Sinnestäuschung? Hätte er doch nicht darum ersucht, allein zu sein! Er gab sich einen Ruck. Natürlich war es irgend so ein »drahtloser« Trick. Was sonst konnte man an einem solchen Ort erwarten?
Nevin kehrte mit einem Diener zurück, der Whisky und einen Siphon auf einem Tablett hereintrug und auf den Tisch stellte.
Kenyon stürzte ein Glas Whisky fast ungemischt hinunter. »Fühlen Sie sich auch wirklich ganz wohl?« fragte Nevin. »Wir möchten nicht, daß etwas schief geht. Wollen Sie nicht vielleicht Ihre Vorlesung verschieben?«
»Aber nein,« sagte Kenyon, »ich bin wieder ganz in Ordnung. Ich glaube, ich weiß schon, wie die Sache vor sich geht. Mein Name wird angekündigt und dann spreche ich in das Mikrophon, als ob ich in einem Salon vortrüge, nicht wahr?«
»Ganz richtig. Sprechen Sie mit Ihrer gewöhnlichen Stimme. Heute nachmittag bei der Probe hat man Sie ausgezeichnet verstanden. Ich habe ein zweites Exemplar Ihres Monologes und wenn irgend etwas nicht in Ordnung ist, komme ich herein und teile es Ihnen mit. In fünf Minuten kommen Sie dran. Soll ich Sie jetzt allein lassen?«
Ein hilfesuchender Blick lag in Kenyons Augen, als wünsche er, daß der andere bliebe. Aber sein Stolz behielt die Oberhand. »Ja, bitte, lassen Sie mich allein,« sagte er.
Die Tür schloß sich hinter Nevin. Kenyon war allein geblieben. Die Uhr vor ihm tickte gleichmäßig; er hatte noch vier Minuten Zeit. Er breitete sein Manuskript aus und griff nach der Whiskykaraffe, obgleich er sonst fast nie Alkohol trank. Schweiß stand ihm aus der Stirne. Narr der er war, hierhergekommen zu sein! Er hatte den Wunsch, die Lichter abzudrehen und nur beim Schein der Leselampe vorzutragen, aber er wagte es nicht. Dann ärgerte er sich plötzlich über seine eigene Schwäche, ging zum Schalter, drehte die Lichter aus und kehrte zu seinem Sitz zurück.
»Der Teufel hole die Uhr,« murmelte er. »Das ununterbrochene Ticken macht mich verrückt.« Wieder gab er sich einen Ruck.
»Es war vor einem Jahr!«
So ging es nicht. Er biß die Zähne zusammen und blickte auf sein Manuskript, obgleich er den Text auswendig wußte. Ein leises Geräusch wurde hörbar. Der Ansager begann zu sprechen. Kenyon schaute sich erneut in den Raum um und ihm war, als ob weißer Nebel in einer Ecke aufstiege.
»Ah was,« knirschte er. »Schon wieder eine Halluzination, meine Nerven sind heute abend vollständig kaputt.«
Der Ansager hatte geendet und Kenyon nahm sich zusammen, um anzufangen.
Ueber ganz England verstreut saßen Tausende behaglich im Lehnstuhl in der angenehmen Erwartung, sich aufregen zu lassen. Der Monolog begann: Der Häftling wälzte sich ruhelos auf seiner Pritsche. Es war seine letzte Nacht in diesem Leben. Die Stille der Zelle lähmte sein Hirn und er begann zu reden. Unzusammenhängend. Beinahe irre. Ja, er würde alles sagen, die ganze schreckliche Geschichte beichten, er konnte es nicht länger tragen.
Die Eröffnungssätze wurden mit klarer fester Stimme gesprochen, dann trat ein Wechsel ein. Die Stimme klang rauh und einzelne Silben fast tonlos. Sie war von einer Angst erfüllt, die unheimlich echt klang. »Geh' weg! Geh' weg! Was willst Du hier? Deine Augen – warum schaust Du mich so an – Deine Augen sind tot, und doch starren sie mich an. O Gott!« Seine Stimme sank zu einem Lallen herab. Und dann vernahmen die Hörer eine andere Stimme – eine Mädchenstimme, klar und deutlich.
»Warum hast Du mich getötet? Ich habe Dir nie etwas zuleide getan, ich habe Dir meine Liebe geschenkt und wenn Du mich von Dir gewiesen hättest, so wäre ich gegangen. Ich war noch so jung und ich wollte leben.«
Die Hörer schauten einander erschrocken an. Was hatte das zu bedeuten? Das wurde doch ein bißchen zu unheimlich.
Die Mädchenstimme fuhr fort: »Als Du damals zu mir kamst, glaubte ich, Du würdest mich in Deine Arme nehmen und mir sagen, daß wir der Welt gegenübertreten wollten. Dann aber sah ich Dein Gesicht und ahnte die Wahrheit. Haß und Grausamkeit lag in Deinem Gesicht. Und dann sah ich das scheußliche Messer, das Du versteckt gehalten hattest und ich war so jung.«
»Geh! Geh! Ich werde toll!« brüllte Kenyon. Seine Stimme klang wie ein Todesröcheln.
»Du hättest mich töten dürfen, wenn es in Liebe geschehen wäre, ja wenn Du mir nur gesagt hättest, es sei notwendig! Aber Dein Haß tötete mich, bevor Dein Messer meine Kehle berührte!«
Gellendes, irrsinniges Gelächter wurde hörbar, dann vernahm man kaum erkennbar Kenyons Stimme: »Halt' ein! Ich halte es nicht länger aus! Ist nicht mein ganzes Leben eine Hölle gewesen seit jenem Abend? Hab' ich einen Augenblick Ruhe gehabt? Wahrhaftig, ich wollte, ich hätte mich damals umgebracht! Aber meine Rache …! Du willst die Geschichte hören, was? Du willst die Wahrheit aus meinen Eingeweiden reißen, warum nicht! Was kümmert es mich!« Wieder hörte man Gelächter, das nichts Menschliches mehr an sich hatte.
»Gut denn! Also ich habe Dich umgebracht. Alle sollen es wissen. Die Gelegenheit war aber auch zu günstig. Anthony, dieser ehebrecherische Teufel, stellte meinem Weib nach. Das ahntest Du nicht, wie? Ich sah den Brief und ich wußte, daß er kommen würde. Warum ich nicht ihn ermordet habe, fragst Du mich? Nein, nein, ich bin nicht umsonst ein Stückeschreiber. Für ihn hatte ich etwas Besseres ausgedacht. Ich wollte Martern für ihn, nicht einen einfachen, kleinen Tod. Du mußtest das Opfer sein! Alles war so schön vorbereitet. Moira wäre die nächste gewesen. Ich habe sie durch Farrar wegbringen lassen. Sie hat gelitten, aber auch ich habe gelitten, wir alle haben gelitten! Und Farrar – ja, er hat auch gelitten! Der arme, habgierige Narr mußte das Geheimnis bewahren. Du willst mich packen? … Nein, nein, weg von mir, sag ich.«
Schrei folgte auf Schrei und dann ein Laut, wie der Todesschrei eines Tieres.
Nevin hatte zugehört. Zuerst voller Staunen. Vor ihm lag ein Exemplar des Monologes. Aber was war das? Hatte Kenyon im letzten Augenblick seinen Text geändert? Das war doch nicht erlaubt! Es würde Unannehmlichkeiten geben. Und wem gehörte die andere Stimme?
Weibliche Radiohörerinnen sanken in Ohnmacht und schon läutete das Telephon Sturm. Das Publikum protestierte. Nevin riß sich die Kopfhörer von den Ohren, stellte den Strom ab und lief die Treppe hinab. Die Tür war unversperrt, er stürzte in das Studio und drehte das Licht auf.
Eine zusammengekrümmte Gestalt lag auf dem Boden, die Züge entstellt vor Grausen, das Haar schneeweiß. Kenyon war tot. Neben der Leiche kniete Sinclair, während Madeline Lake in einen Sessel gesunken war und konvulsivisch schluchzte.
»Was hat das zu bedeuten?« fragte Nevin. »Sie sind zu weit gegangen, Sinclair.«
»Es war notwendig,« antwortete dieser. Sein Gesicht war totenbleich. »Es war die einzige Möglichkeit. Wir haben soeben ein Geständnis gehört, wie es in den Annalen des Verbrechens einzig dasteht. Da sehen Sie!« er wies mit der Hand auf die Kehle des Toten. Der Hals wies eine schrecklich blutende Wunde auf.
»Genau die gleiche Wunde fanden wir an seinem Opfer,« sagte er.
»Ein seltsames Verbrechen für einen solchen Mann,« fuhr er fort.
»Zuweilen geben die Toten doch ihr Geheimnis preis!« Schaudernd nahm er die Decke vom Tisch und verhüllte die Leiche Robert Kenyons, des Autors seltsamer Dramen.