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Sogleich nach seiner Ankunft in London meldete Sinclair sich bei seinem Vorgesetzten, der ihn in seinem Bureau in Scotland Yard bereits mit Ungeduld erwartete.
Boyce war in den letzten Jahren ein großer Mann geworden, hauptsächlich weil er Sinclairs erfolgreiche Arbeit auf sein Konto buchen ließ. Sein Zimmer war keineswegs von der spartanischen Einfachheit, die im allgemeinen die Arbeitsräume selbst der höchsten englischen Regierungsbeamten kennzeichnet. Boyce war ein Sybarit. Ein echter Perser bedeckte den Fußboden, den Schreibtisch schmückten Elfenbein-Elefanten, ein silbernes Tintenzeug und eine Zigarrenkiste aus Ebenholz. Eine Ecke des Zimmers war von einem mit Intarsien eingelegten Wandschrank ausgefüllt, der, wie die Intimen des Polizeigewaltigen wußten, eine Auswahl ausgesuchter Liköre enthielt.
Boyce war ein großer, dicker Mann mit einer beginnenden Glatze, dem man Verweichlichung und Abneigung gegen Strapazen jeglicher Art von weitem anmerkte.
Schwerer Zigarrendunst mit einer leichten Beimischung von Parfum schlug Sinclair entgegen, als er eintrat. Boyce hielt ihm seine fette Hand zur Begrüßung hin.
»Tut mir leid, Sie mitten aus der Verhandlung abberufen zu haben, Sinclair,« sagte Boyce mit öliger Stimme. »Aber Sie wissen, die Sache ist wichtig, geradezu von internationaler Bedeutung. Es ist Ihnen ja bekannt, daß die indische Regierung Ihre Dienste in der Affäre des Rajahs von Bhipor anfordert.«
Sinclair hatte sich während seiner langjährigen Tätigkeit im indischen Polizeidienst einen bedeutenden Namen gemacht.
»Es ist eine kitzliche Geschichte,« fuhr Boyce fort. »Das ganze Prestige der indischen regierenden Fürsten steht auf dem Spiele. Die Sache muß mit verteufelt viel Takt angepackt werden. Eine Zigarre gefällig?«
Sinclair bediente sich aus der Schachtel, die ihm Boyce entgegenhielt und konnte ein leises Lächeln nicht unterdrücken. Er hatte die Affäre in all ihren Phasen mit der größten Aufmerksamkeit verfolgt.
»Rekapitulieren wir vielleicht noch einmal den ganzen Fall,« fuhr Boyce fort, sich bequem in seinem Fauteuil zurücklehnend. »Sie werden sich erinnern, daß vor ungefähr sechs Monaten ein der höchsten Kaste angehörendes indisches Mädchen aus dem Hause ihres Vaters in Bhipor entführt wurde – an und für sich nichts Besonderes – aber der Vater, Ali Soundso (ich kann mir die verflixten indischen Namen nie merken), wurde im Verlauf der Sache ermordet. Das war das Schlimme an der Geschichte.«
Boyce blies mächtige Rauchwolken in die Luft und sah Sinclair mit seinen ausdruckslosen Fischaugen an. »Der Verdacht fiel auf den jungen Rajah, dem so was schon zuzutrauen war, und man sprach bereits von der Einsetzung einer Untersuchungskommission, ja sogar von einer Absetzung, als unsere Leute draußen zwei ehemaligen Offizieren auf die Spur kamen, von denen der eine seit seiner Entlassung aus der Armee ein Schrecken für ganz Indien war. Er ist ein Mann aus guter Familie, sieht glänzend aus, wie solche Burschen meistens, ist dabei aber ein Halunke ärgster Sorte, durch und durch verdorben. Sie haben vielleicht von ihm gehört. Forester heißt er und soll ein wahrer Teufel in Menschengestalt sein, eines jener merkwürdigen Subjekte, die Verbrechen aus purer Liebe zur Sache begehen. Sie wissen schon, was ich meine.«
Sinclair nickte. Er amüsierte sich.
»Das andere Früchtchen kam ebenfalls vor das Kriegsgericht, scheint aber in der Folge vollkommen verschwunden zu sein.«
»Das Motiv des Burschen kennt man nicht?« fragte Sinclair.
»Eigentlich nicht. Das Mädel war, allerdings für indische Begriffe, eine Schönheit.« Boyce hegte eine abgründige Verachtung für die »Nigger«, unter welcher Bezeichnung er alle britischen Staatsangehörigen zusammenfaßte, die nicht der herrschenden angelsächsischen Rasse angehörten.
»Entweder steckten sie mit dem Rajah unter einer Decke, oder sie verfolgten eigene Zwecke – Erpressung oder Raub. Das haben wir eben ausfindig zu machen. Wenn sich nämlich herausstellt, daß dieser Rajah mit der Sache nichts zu tun hat – und es sieht gegenwärtig so aus –, ist die Sache ziemlich einfach.«
»Ich muß also nach Indien fahren?« Sinclair wurde der langatmigen Ausführungen seines Vorgesetzten müde.
»Nein, nach Konstantinopel.«
»Wohin, bitte?«
»Konstantinopel. Bis dorthin hat man Foresters Spur verfolgt und sie dann verloren. Das Mädel hat er bei sich.«
»Und der andere?«
»Aufenthaltsort unbekannt. Die Hauptsache ist, daß man des Mädchens habhaft wird und es dazu bringt, den ganzen Hergang zu erzählen. Setzen Sie sich mit Stevens, dem Chef unserer Geheimpolizei in Konstantinopel, in Verbindung. Sehen Sie zu, was Sie herausbekommen können, und halten Sie die indische Polizei und mich auf dem laufenden. Vor allen Dingen darf nichts in die Oeffentlichkeit dringen – ein. Skandal muß unter allen Umständen vermieden werden.«
»Soll ich sofort abreisen?«
»Jawohl, das ist der dringende Wunsch des Vizekönigs von Indien. Der Minister des Innern ist einverstanden. Diese dumme Affäre in Littleworth überlassen Sie ruhig Curtis. Nötigenfalls geben wir ihm einen unserer Leute bei. Uebrigens dürfte es wohl keine besondere Kunst sein, den Täter zu erwischen.«
»Ich hätte die Sache gerne selbst weitergeführt,« bemerkte Sinclair nachdenklich.
»A propos, Sinclair, ich ersehe aus den Zeitungsberichten, daß Sie erklärt haben, den Mörder zu kennen. Das dürfte wohl ein Irrtum seitens der Reporter sein, nicht wahr?«
»Ganz richtig, ein Irrtum; ich habe niemals behauptet, daß ich den Mörder kenne.«
»Na schön. Also machen Sie sich auf den Weg. Lassen Sie sich soviel Geld auszahlen, als Sie für die Reise brauchen. Hier haben Sie einen Spezialpaß vom Ministerium des Aeußern, der Ihnen an den Grenzen viel Unannehmlichkeiten ersparen wird. Und berichten Sie fleißig.«
Ein plötzliches Vorgefühl drohender Gefahr erfaßte Sinclair. Am liebsten hätte er die Betrauung abgelehnt, aber sein Pflichtgefühl gewann sogleich wieder die Oberhand.
»Würden Sie mir einen Gefallen tun, Herr Boyce?« fragte er, als er bereits bei der Türe war. »Nämlich mir zu kabeln, sobald in der Littleworth-Affäre eine Verhaftung vorgenommen wird?«
»Aber gern.« Boyce war überrascht. »Sie scheinen sich für den Fall sehr zu interessieren?«
»So sehr, daß ich im Augenblick, in dem eine Verhaftung erfolgt, zurückkehren werde.«
Boyce starrte ihn mit offenem Munde an.
»Ich glaube, Sie wissen mehr, als Sie sagen.«
»Ich weiß nicht mehr, aber ich habe mehr gesehen, was nicht ganz dasselbe ist.«
Er ging in sein eigenes Bureau, wo ihn sein Assistent erwartete. »Ich fahre nach Konstantinopel,« sagte er so gleichgültig, als handle es sich um einen Nachmittagsausflug, »und werde wohl einige Zeit wegbleiben. Etwas Neues?«
»Nichts von Bedeutung. Hodgeson, den Mörder von Gloucester, hat man verhaftet.«
»Sonst etwas?«
»Daß Herr Robert Kenyon die Anzeige gemacht hat, seine Frau sei abgängig, wissen Sie wohl schon? Er scheint sehr besorgt zu sein und rief unsere Hilfe an.«
»Was haben Sie in der Sache veranlaßt?«
»Wir neigen der Ansicht zu, daß es sich nur um die seelischen Folgen des Mordfalles handle, daß sie einen Abscheu vor London bekommen und Bekannte ausgesucht habe. Herr Kenyon nimmt sich allerdings das Verschwinden seiner Frau so zu Herzen, daß vielleicht doch etwas Ernsteres dahinter steckt.«
»Denken Sie an einen Selbstmord?«
»Man muß auch daran denken.«
»Hoffentlich ist's nicht so arg. Ich halte übrigens noch eine andere Möglichkeit für gegeben. Jedenfalls müssen Sie die Sache aufmerksam verfolgen. Betrauen Sie einen unserer besten Leute damit. Wenn es nicht zu vermeiden ist, müßte man versuchen, mittels einer Radio-Mitteilung an das Publikum Licht in die Sache zu bringen.«
»Für so ernst halten Sie den Fall?«
»Er könnte ernste Folgen haben.«
Als Junggeselle brauchte Sinclair keinen rührenden Abschied von Frau und Kind zu nehmen und war jederzeit reisefertig. Beim Abschied von London, der am gleichen Abend erfolgte, konnte er sich eines Gefühls des Unbehagens nicht erwehren. Hätte er die Folgen seiner Reise voraussehen können, so wäre er vielleicht zu Hause geblieben, selbst auf die Gefahr hin, sich die Ungnade seines Chefs und sogar des Ministers des Innern höchstselber zuzuziehen.