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7. Kapitel.
Barrats Rückkehr.

Frau Lake empfing die Nachricht von der Rückkehr Barrats mit gemischten Gefühlen. Einerseits war sie froh darüber, daß er sich wohl und in Sicherheit befand, anderseits nahm sie ihm übel, daß er nicht sofort gekommen war. »Nett finde ich das nicht von ihm,« sagte sie zu ihrer Tochter, »ohne Deinen Gefühlen nahetreten zu wollen. Er wußte doch, daß wir keine männlichen Verwandten haben, und es wäre seine Pflicht gewesen, alles stehen und liegen zu lassen und uns beizustehen, schon um Deinetwillen und auch aus Freundschaft zu unserer armen Kitty.«

»Laß das doch, Mama!« antwortete Madeline bitter.

Ihre Mutter sah sie besorgt an. Seit der Untersuchungsverhandlung war sie nicht wieder zu erkennen. Anstatt ihrer Mutter eine Stütze zu sein, wie diese es erwartet hatte, war sie reizbar und wortkarg. Oft saß sie stundenlang da und schaute ins Leere; zuweilen begann sie plötzlich zu weinen, während ihr sonst die Tränen nicht locker gesessen waren. Sie war ruhelos und außerstande, sich auf etwas zu konzentrieren; es war, als ob sie auf irgendetwas warte, das nicht kam.

Am Tage der Ankunft von Barrats Brief besuchte George Anthony die beiden Frauen. Er war voller Aufmerksamkeit und taktvoller Hilfsbereitschaft und vermied es auf das peinlichste, die Schatten, die über der Familie lagen, im Gespräch zu berühren. Er hoffte darauf, daß die Zeit alle Wunden heilen werde.

Madeline sah ihn kommen und ging ihm ein Stückchen Weges entgegen.

»Die Seeluft ist eine wahre Erquickung nach der Londoner Hitze. Sie wird Euch beiden sicher gut tun,« meinte er.

»Wir haben Nachricht von Arthur,« sagte Madeline unvermittelt. »Er ist auf dem Wege von Wien, wo er geschäftlich zu tun hatte.«

Anthony sah sie an, erstaunt über den leblosen Klang ihrer Stimme.

»Bravo, eine gute Nachricht,« meinte er. »Ich freue mich, daß er kommt. Ein bißchen früher hätte der gute Knabe allerdings schon aus der Versenkung auftauchen können.«

Madeline ging auf seinen leichten Ton nicht ein. »Er telegraphiert, daß er dringend auf dem Kontinent zu tun hatte, und daß er zu erregt war, um früher zu kommen.« Ihre Stimme klang müde, mit einem Unterton von Bitterkeit. Ihre alte Fröhlichkeit war vollkommen verschwunden, und die dunklen Ringe unter ihren Augen zeugten von schlaflosen, schmerzerfüllten Nächten. Anthony sah sie voll Mitleid an.

»Die Hauptsache ist, daß er jetzt kommt,« sagte er. Sein Gefühl aber strafte seine Worte Lügen, seine sensiblen Nerven reagierten im Nu auf die Stimmung, in der sich seine Begleiterin befand.

Sie gingen schweigend auf das Häuschen zu. Madeline hatte den Hut abgenommen und die kühle Brise von den Dünen spielte mit ihrem blonden Haar.

Endlich sagte sie: »Sonst etwas Neues?«

»Man spricht von einem neuen Generalstreik. Diesmal soll es sich um …«

Sie unterbrach ihn und wandte sich ihm voll zu: »Geben Sie sich keine Mühe, George. Sie sind ein lieber Kerl und versuchen unsere Bürde zu erleichtern, aber Sie verstehen, was ich meine. Weiß man etwas Neues über Kittys Tod, etwas, das Licht in das Dunkel bringen könnte?«

Sein Gesicht wurde um einen Ton bleicher. »Leider noch nicht. Herr Kenyon wollte mit mir herausfahren, aber er sorgt sich so um Moira, sucht sie überall.«

»Es ist entsetzlich! Wo kann sie nur sein?«

»Er versucht, ihr Verschwinden so lange als möglich geheim zu halten, aber es wird ihm schließlich nichts übrig bleiben, als sich an das große Publikum um Hilfe zu wenden. Es ist unvermeidlich …«

»Und Sie haben noch immer keine Ahnung, wer der Mann war, der meine Schwester ins Unglück stürzte?«

Anthony war bekümmert. »Suchen wir das zu vergessen, Madeline. Es hat möglicherweise mit dem Mord gar nichts zu tun. Und vielleicht war Kitty heimlich verheiratet. Solche Dinge kommen vor.«

»Warum meldet sich der Mann dann nicht?« Madelines Stimme war voll leidenschaftlicher Erregung.

Er wußte keine Antwort. Schweigend gingen sie weiter.

Man trank Tee in der kleinen Veranda gegenüber der See. Sorglos badende Menschen plätscherten in den Wogen umher und das lustige Lärmen spielender Kinder klang von weitem herüber, schmerzhaft, wie eine Dissonanz, als habe niemand das Recht, glücklich zu sein.

»Ein reizendes Fleckchen Erde,« sagte Anthony. Er wollte versuchen, die gramerfüllte Stimmung ein wenig zu zerstreuen.

»Wie gut es der armen Kitty hier gefallen hätte.« Frau Lake brach in Tränen aus.

Madeline schrie ihre Mutter beinahe an: »Wenn Du Dich immer gehen läßt, Mama, wird George keine Lust mehr haben, wieder herzukommen. Es hat keinen Zweck, die ganze Zeit um Kitty zu jammern!« Die Worte klangen so hart, beinahe lieblos, daß der Schmerz Frau Lakes in Aerger umschlug und die Tränen von ihrem Gesicht verschwanden.

»Wie kannst Du nur so sprechen, Madeline!« begann sie, hielt aber gleich darauf inne, um zu lauschen.

Auf der anderen Seite des Hauses wurden Schritte hörbar und Arthur Barrat bog um die Ecke, eine Reisetasche in der Hand. Er war erhitzt vom Gehen in der Sonne und ein wenig beschämt, kam aber mit einem Lächeln auf die Gruppe zu. »Hallo! Endlich hab' ich Euch gefunden!«

Er reichte Frau Lake die Hand, dann wandte er sich Madeline zu und wollte sie küssen, aber etwas in ihrem Gesichtsausdruck und ihre abweisende Haltung hielten ihn zurück. Sie sah ihn gespannt an, ihr Gesicht war schneeweiß. Er wich zurück und begrüßte Anthony nicht ohne Verlegenheit. Er glaubte, daß ihre Haltung darauf zurückzuführen sei, daß er sie allein gelassen hatte, und er wünschte keine Szene in Gegenwart der anderen.

Anthony beendete die peinliche Situation. »Na, da sind Sie ja endlich,« sagte er; sein schauspielerischer Beruf hatte ihn gelehrt, seine Gefühle zu beherrschen. »Wir hatten Sie schon beinahe verloren gegeben und wollten Sie mittels Radio suchen lassen. Also erzählen Sie mal?«

»Es gibt nicht viel zu erzählen,« sagte Barrat unsicher, »ich war geschäftlich im Ausland und hörte dort von dem schrecklichen Ereignis. Anfangs war ich derart erschüttert, daß ich kaum wußte, was ich tat.«

»Das wundert mich nicht.« Madelines Stimme bebte vor Erregung. Ihre Mutter sah sie erstaunt am

»Wann verließen Sie London?« fragte Anthony, nur um etwas zu sagen.

»Ich fuhr gerade an dem Abend über den Kanal, an dem die Tragödie sich ereignete, von der ich erst aus den Pariser Blättern erfuhr. Jetzt sehe ich allerdings ein, daß es meine Pflicht gewesen wäre, sofort zurückzukehren.«

»Wir hatten Dich erwartet,« sagte Frau Lake mit milden Vorwurf, »ohne Herrn Kenyon und George wären wir ganz verlassen.«

»Gewiß war es unverzeihlich von mir, aber Ihr dürft es nicht für Mangel an Mitgefühl halten. Als ich zurückkam, brauchte ich einige Zeit, um Euch zu finden.« Die letzten Worte klangen unsicher und leise.

Man schwieg. Jeder wollte etwas sagen und keiner fand das rechte Wort.

Endlich stand Anthony mit den Worten auf: »Kommen Sie, gnädige Frau, gehen wir ein bißchen am Strand spazieren. Arthur und Madeline werden sich wohl aussprechen wollen.«

Ein Schauder durchzuckte Madeline, aber sie sprach kein Wort. Frau Lake war froh über Anthonys Vorschlag. Sie haßte im allgemeinen Szenen, aber jetzt schien es ihr, daß ein kräftiger Krach zwischen den »Kindern« das einzige Mittel sei, um die Luft zu reinigen.

Madeline wartete, bis die anderen außer Hörweite waren, dann trat sie Arthur gegenüber. Nie in seinem Leben hatte er einen solchen Ausdruck von Wut im Antlitz einer Frau gesehen. »Du Schuft! Du gemeiner Schuft! Also das war es! Sprich kein Wort, sonst schlage ich Dich ins Gesicht. Glaubst Du, daß ich die ganze Zeit über blind war? Ich habe Dich beobachtet und wohl bemerkt, wie Du Dich in Kittys Herz eingeschlichen hast. Ich hatte gehofft, daß Du Manns genug sein würdest, Dich zu bezwingen – ganz wegzubleiben oder mir offen und ehrlich zu sagen, daß Du Kitty liebst und nicht mich. Statt dessen heucheltest Du weiter Zuneigung zu mir und das – das sind die Folgen.«

Sie riß sich den Verlobungsring vom Finger und schleuderte ihn auf die Erde.

»Da! Nimm ihn zurück! Er vergiftet meine Hand. Und geh', – geh'! Warum bist Du noch nicht fort?! Vielleicht findest Du anderswo Vergebung! Bei mir nicht! Bei mir nicht!!«

Sie sah in ein Antlitz, das so voller Wut geworden war, wie das ihre. Mit geballten Fäusten ging er auf sie los.

»Du wagst es, diese teuflische Anschuldigung gegen mich zu erheben! Wahrhaftig, wenn Du ein Mann wärest, würde ich Dich niederschlagen!«

»Ich würde mich an Deiner Stelle nicht zurückhalten lassen,« entgegnete sie; ihre Stimme bebte vor namenloser Verachtung.

Er beherrschte sich mit äußerster Anstrengung.

»Madeline, beschuldigst Du mich ernstlich, Deine Schwester ermordet zu haben?«

»Dir ist alles zuzutrauen! Aber das wäre in meine Augen ein geringeres Verbrechen, als das andere – – – – – das andere!«

Er stand da, wie vom Donner gerührt. »Du mußt wahnsinnig sein, wahnsinnig! Ich gebe Dir mein feierliches Ehrenwort, daß Deine Anschuldigung falsch ist. Es ist abscheulich von Dir, auch nur daran zu denken.«

»Oh, wenn ich Dir glauben dürfte, wenn Du mich überzeugen könntest!! Ich würde Dir zu Füßen fallen und Deine Verzeihung erflehen! Aber es ist unmöglich. Ich habe Euch zusammen gesehen; nenne mich eine Spionin, wenn Du willst, – ich kämpfte um meine Liebe. Ich sah, wie sie Dich anblickte. Eine Frau irrt sich nicht in solchen Dingen.«

»Du warst blind vor Eifersucht, Du sahst Gespenster!^

»Willst Du behaupten, daß Du sie nicht geliebt hast? Wenn ein Funken von Männlichkeit in Dir ist, sprich jetzt die Wahrheit!«

»Gott vergebe mir, ja, ich habe sie geliebt.« Er senkte den Kopf.

»Ja, Gott vergebe Dir!« schrie sie voll Verachtung. »Ruf nur den Namen Gottes an, als ob er auf Seiten der Verführer stünde.«

»Du lügst, Madeline,« brüllte er in hilfloser Wut. »Kann Dich denn nichts überzeugen? Ich habe die Wahrheit gesprochen. Ja, ich habe sie geliebt, aber das änderte nichts an meiner Liebe zu Dir – ich schwöre Dir, daß ich ihr niemals meine Gefühle gezeigt habe.«

»Wie verächtlich, wie unaussprechlich schurkisch! Geh! Deine bloße Gegenwart verpestet die Luft! Ich will Dich nicht mehr sehen, solange ich lebe! Mach' daß Du fortkommst oder ich rufe Leute zu Hilfe!«

Sie war dem Wahnsinn nahe. Arthur nahm seine Reisetasche und wandte sich zum Gehen. »Der Tag wird kommen, wo Du bereuen wirst, mich von Dir gestoßen zu haben. Bis dahin gehe ich aus Deinem Leben.«

Madeline war allein geblieben. Sie versuchte, den Ring mit ihren Absätzen zu zertreten. Dann sank sie, konvulsivisch schluchzend und halb bewußtlos, auf den Boden.

So fanden sie die Zurückkehrenden; ihre Mutter hob sie auf und geleitete sie zärtlich zu einem Sessel.

»Was ist Dir geschehen, mein Liebling, wo ist Arthur?« Madeline beherrschte sich mit Mühe.

»Wenn Du mich lieb hast, Mutter, sprich mir gegenüber den Namen dieses Mannes nicht mehr aus. Er ist für ewig gegangen.«

Anthony zuckte zusammen und ein Ausdruck des Erstaunens kam in sein Gesicht.

Trauer, die keine Hoffnung mehr kannte, hatte sich auf dieses Haus gesenkt.


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