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Madeline Lake verbrachte die Nacht auf den Knien, im Gebet für George Anthony versunken. Schon sickerte Frühlicht durch die geschlossenen Fensterläden und noch immer hatte sie sich nicht zur Ruhe begeben.
»Neun Uhr! Neun Uhr!« hörte sie aus dem rastlosen Ticken der Wanduhr heraus.
Trotz aller Tapferkeit war sie nicht fähig gewesen, ihren Besuch bei dem zum Tode Verurteilten zu wiederholen, aber in einem Abschiedsbrief hatte sie ihm ihres unerschütterlichen Glaubens an seine Schuldlosigkeit versichert.
Draußen erklang die Türglocke so schrill, daß Madeline erschrocken zusammenzuckte. Sie stand zitternd auf und wankte in den kleinen Vorraum.
Schwer atmend und erschöpft stand Arthur Barrat draußen, er nahm ihre beiden Hände in die seinen und sprach Lief ergriffen: »Madeline, fasse Dich, ich bringe eine überraschende Nachricht. Anthony ist heute Nacht begnadigt worden.«
Sie wäre gefallen, wenn er sie nicht rasch aufgefangen und in das Zimmer geführt hätte.
»Was heißt das?« flüsterte sie. »Hat man den Mörder gefunden?«
»Leider nicht, es handelt sich nur um eine Begnadigung zu lebenslänglichem Zuchthaus.«
Das Gefühl der Erleichterung war so überwältigend für Madeline gewesen, daß sie erst jetzt den wirklichen Tatbestand begriff.
»Wie entsetzlich!« sagte sie.
»So lange er lebt, ist wenigstens Hoffnung vorhanden. Vergiß nicht, daß die Wahrheit noch an den Tag kommen kann.«
»Ich bete zu Gott darum. Auch Du glaubst also jetzt an seine Schuldlosigkeit?«
»Ja,« antwortete er ernst.
»Was hat Dich veranlaßt, Deine Ueberzeugung von seiner Schuld zu ändern?«
»Der Mann, der Georges Leben gerettet hat, hat dies vollbracht – Sinclair.«
»Ich dachte es mir. Ist er mit Dir zurückgekehrt?«
»Ich fand ihn in Konstantinopel. Es ist eine lange Geschichte. Wir kamen zusammen zurück. Er ging unverzüglich zum Minister des Innern und setzte die Begnadigung durch.«
»Da muß er also etwas wissen?«
»Er hat uns nichts gesagt. Mit der Begnadigung eilte er sofort ins Gefängnis und kam dann zu Herrn Kenyon, wo wir uns verabredet hatten. Sinclair ist am Ende seiner Kräfte angelangt und hat eine böse Wunde erlitten. Nur seine eiserne Energie hat ihn aufrecht erhalten. Noch nie in meinem Leben habe ich einen Menschen so sehr bewundert, wie ihn.«
»Du hast also auch Herrn Kenyon gesehen?«
»Natürlich. Ich fand ihn vollkommen gebrochen und dem Weinen nahe.«
»Das kann ich verstehen.«
»Er wollte selbst noch einen letzten Versuch beim Minister machen. Sein Wagen stand schon bereit, als Sinclair mit der guten Botschaft kam.«
»Wenn Herr Sinclair hier gewesen wäre, wäre es niemals so weit gekommen.«
Die Reaktion auf die schreckliche Spannung der letzten Tage machte sich bei Madeline so stark geltend, daß sie beinahe heiter wurde, und Barrat nach den Einzelheiten seiner Reiseerlebnisse befragte.
»Ich habe einfach Glück gehabt, das ist alles.« Und er erstattete Madeline in schlichten Worten Bericht über seine Reise. Madeline hörte mit leuchtenden Augen zu und als er geendet hatte, schwieg sie in Gedanken versunken. Er war glücklich, sie ansehen zu dürfen und Dankbarkeit in ihren schönen Augen aufleuchten zu sehen. Nach einer Weile nahm sie wieder das Wort.
»Es ist alles so seltsam. Vor dieser Tragödie führten wir ein einfaches, ereignisloses Leben, wie alle andern Menschen. Außer dem Tode unseres Vaters haben wir nie ein trauriges Erlebnis gehabt, und damals waren wir fast noch Kinder. Ich nahm das Leben wie alle andern jungen Mädchen, tanzte gern, freute mich über hübsche Kleider und die kleinen Nichtigkeiten des Alltags. Wir haben uns verlobt und nichts schien unserer Vereinigung im Wege zu stehen.«
Er sah sie erstaunt an. Niemals vorher hatte sie so zu ihm gesprochen.
»Dann kam dieser furchtbare Mord und auf einmal standen wir all diesen entsetzlichen Dingen gegenüber. Oh, ich weiß, während des Krieges hatte jede Frau in England Aehnliches und Schlimmeres zu erleiden, aber nachher war alles wieder so ruhig, so gesichert und wir waren glücklich bis auf die kleinen Geldsorgen. Dann kam die Verhaftung dieses unschuldigen Menschen. Ich weiß, daß Du der Ansicht warst, ich nähme sie mir zu sehr zu Herzen. Du warst sogar eifersüchtig auf George. Und doch wäre es mir noch näher gegangen, wenn ein solches Schicksal Dich betroffen hätte.«
»Und dennoch –«
Sie unterbrach ihn. »Ich weiß, was Du sagen willst. Ich war wahnsinnig. Ich war nicht mehr ich selbst. Wir wollen ganz offen miteinander sprechen und über alle diese Dinge ins klare zu kommen. Dann dürfen wir sie vergessen. Sei mir nicht böse, aber Du erschienst mir so gleichgültig, so – zwecklos, beinahe verachtete ich Dich. Ich sah in Dir nur noch den harten Geschäftsmann, der nichts anderes kennt als Geld, kaufen und verkaufen. Dann nahmst Du diese Mission auf Dich und hast sie wundervoll durchgeführt. Du hast Herrn Sinclair das Leben gerettet und ihn zurückgebracht.«
»Es war nicht ausschließlich mein Verdienst.«
»Doch, es war Dein Verdienst.«
In ihren Augen war ein Licht, das er niemals vorher gesehen hatte.
»Ich danke Dir für das, was Du mir jetzt gesagt hast. Ich fühle mich um Jahre älter und reifer. Das erlittene Leid hat einen Mann aus mir gemacht. Ich hatte geglaubt, ich hätte Dich verloren, Madeline.«
Ihre mühsam bewahrte Fassung verließ sie.
»Vergib mir, Arthur. Ich war schlecht. Nie wieder werde ich an Dir zweifeln.«
Der dunkle Schatten, der noch immer über ihren Häuptern schwebte, hinderte sie daran, ihrem Gefühl Ausdruck zu verleihen. Der Augenblick war zu heilig dafür. Er ergriff ihre Hand mit festem Druck und Madeline verstand. Tränen traten ihr in die Augen, als sie ihre Hand sanft aus den seinen löste, und ein glückliches Lächeln verklärte ihr Antlitz.