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Das Nachtlokal, in dem Barrat Sinclair treffen sollte, sah aus, wie alle derartigen Vergnügungsstätten in den Hauptstädten der Welt aussehen und es hieß wie hundert andere Lokale gleicher Art »Café de Paris«. Es war grell beleuchtet und mit überladenem Prunk ausgestattet. Den Touristen lief ein angenehmer Schauer über den Rücken, wenn man ihnen mitteilte, daß die Hälfte aller Verbrechen dieser Stadt hier ausgeheckt wurden. Die Musik war lärmend, die Tänzerinnen mangelhaft bekleidet und die Preise unverschämt. Im ersten Stock gab es einen Speisesaal und zahlreiche kleine Gemächer, in denen allerlei Dinge getrieben wurden, von denen der Genuß käuflicher Liebe zweifellos das harmloseste war. Der Besitzer, ein armenischer Jude, dem das Lokal eine Quelle üppiger Einkünfte war, hielt sich eine Bande von Geheimagenten, die im Verein mit einer entgegenkommenden, immer zum Nehmen bereiten Polizei eine so unangenehme Sache wie eine Razzia zum Ding der Unmöglichkeit machte.
Barrat trat mit seinem Führer ein, der dem Portier, einem riesigen Neger in goldstrotzender Uniform, freundschaftlich zunickte. Der Schwarze kannte alle Fremdenführer und wußte, daß dieser hier, ein pockennarbiger Türke, ihn sicher nicht zu kurz kommen lassen würde. Stevens hatte den Mann mit Vorbedacht gewählt.
Der Führer bestellte zuerst Kaffee und Kognak und führte Barrat zu einem geschützten Tisch, von dem aus er das Treiben gut beobachten konnte. Zu dieser frühen Stunde waren die harmlosen Touristen noch in der Ueberzahl. Barrat hatte genug Welterfahrung, um Nationalität und Beruf der Gäste mit einiger Wahrscheinlichkeit bestimmen zu können. Ein älterer Franzose unterhielt sich liebenswürdig mit einem Landsmann, den er einsam an seinem Tisch sitzen gesehen hatte. Er machte kein Geheimnis aus seinem Namen und Beruf, hieß Fleurbaix und war Teppichhändler. Er hatte sich ein Souper bestellt, befestigte umständlich seine Serviette hinter dem Kragen und goß sich nach gut französischer Sitte ein Glas Wein mit Wasser ein. Dann war ein österreichischer Jude mit seiner Ehehälfte da – Barrat hielt ihn für einen Edelsteinhändler – und ein dicker Süddeutscher mit gutmütigem, gerötetem Gesicht. Auf der entgegengesetzten Seite saß ein paar, das nicht so leicht unterzubringen war. Der Mann war alt, seine linke Hand schien gelähmt. In seiner Begleitung war ein blondes Ding, das hübsche Gesichtchen entstellt durch Schminke und Puder. Seine Tochter war sie bestimmt nicht und kaum seine Frau. Sie war freundlich um den Greis bemüht, aber von Zeit zu Zeit lächelte sie ihn ein wenig ängstlich an.
»Ein alter Sünder,« dachte Barrat, »er sollte lieber an sein nahes Ende denken.«
Zwei Kokotten unbestimmter Nationalität nahmen ungeniert an Barrats Tisch Platz und der Führer bestellte Champagner, gab ihnen aber zu verstehen, daß der Herr nicht zu tanzen beabsichtige, auch sonst keine Wünsche habe und lediglich als Zuschauer hier sei. Als die Musik nach einer kurzen Pause wieder einsetzte, verschwanden die beiden Schönen mit dem Versprechen, später wiederzukommen.
Barrat wartete vergeblich auf ein Zeichen von Sinclair.
Zwei indische Kellner servierten mit ruhiger Würde Kaffee. Die Tänzerinnen hatten sich allgemach ihre Opfer ausgesucht und bereiteten sich zur großen Offensive auf die Brieftasche vor. Das ganze Treiben war nicht uninteressant und Barrat hätte sich unter anderen Umständen vielleicht ganz gut dabei unterhalten. So aber ließ ihn der Gedanke an seine Mission keinen Augenblick los. Der ältliche Franzose war bei der Auswahl des Desserts angelangt, und da sein zufälliger Bekannter sich mit einer schwarzhaarigen Schönen in einen stillen Winkel zurückgezogen hatte, suchte er ein neues Opfer für sein Mitteilungsbedürfnis. Sein Blick fiel auf Barrat. Er trug eine Goldbrille und war augenscheinlich kurzsichtig. Vor ihm lag die umfangreiche Speisekarte. Das Essen war ihm, wie den meisten Franzosen, eine höchst wichtige und ernstzunehmende Handlung, denn wie Barrat nicht ohne Erheiterung wahrnahm, merkte er jede einzelne Speise, die ihm interessant erschien, mit Bleistift an, offenbar, um dann eine engere Wahl zu treffen.
Die Musik pausierte aufs neue und die tanzenden Paare suchten die diskret beleuchteten und ebenso diskret durch Palmen und Vorhänge vor neugierigen Blicken geschützten Logen auf, die rings um den Saal verteilt waren. Der Besitzer kannte die Wünsche seiner Gäste. Auch der Franzose erhob sich und schlenderte lässig durch das Lokal. Als er bei Barrats Tisch vorbeikam, blieb er einen Augenblick stehen. »Monsieur scheinen keine Speisekarte zu haben. Gestatten Sie mir,« sagte er in gebrochenem Englisch. Er legte die große Karte auf den Tisch und ging mit höflichem Lächeln weiter.
Erstaunen hinderte Barrat daran, zu sprechen. Der Mann hatte ihm ein blitzschnelles, aber unverkennbar warnendes Zeichen gegeben.
Barrat hatte genug Selbstbeherrschung, nichts zu tun, bevor das Orchester wieder zu spielen begann und halbnackte Frauen und halbbetrunkene Männer in enger Umschlingung durch den Saal wirbelten.
Dann wandte er die Karte begierig mm und las die daraufgekritzelten Worte. Er kannte die Handschrift nicht, aber es war ihm sofort klar, wer der Schreiber sei.
»Verraten Sie sich nicht und machen Sie keinerlei auffällige Bewegung. Schauen Sie nicht in meine Richtung. Wenn Sie dies zu Ende gelesen haben, warten Sie einen Augenblick und stecken Sie die Karte dann in die Tasche. Zerreißen Sie sie hier nicht. Vernichten Sie sie draußen. Nehmen Sie keine Notiz von mir, was immer vergeht. Hier droht höchste Gefahr. Ich werde Sie morgen treffen. Seien Sie vorsichtig! Ich kann mir denken, warum Sie hier sind und bin begierig auf Nachrichten. Aber ich muß warten.«
Barrat las die Zeilen zweimal und steckte sie dann unauffällig in die Tasche. Nicht einmal sein Führer hatte etwas gemerkt. Er war vollauf damit beschäftigt, ein cirrassisches Mädchen abzuwehren, das es unbedingt auf Barrat abgesehen hatte.
Die Luft in dem Saal war zum Ersticken, obgleich die Fenster geöffnet waren und die Ventilatoren rauschten. Ausdünstung parfümierter Körper mischte sich mit Zigarrendunst und dem eigentümlichen undefinierbaren Geruch, der dem Orient eigen ist.
Die Circassierin hatte Platz genommen und sprach bereits dem Champagner zu, den der Führer bestellt hatte. Barrat müsse mit ihr tanzen, sie bestand darauf. Ob sie vielleicht nicht schön genug sei? Sein Gesicht gefalle ihr. Sie wandte ihre ganzen, dürftigen Verführungskünste auf.
Barrat warf einen verstohlenen Blick auf Sinclair. Der Franzose war natürlich kein anderer als der Detektiv. Die Omelette, die er bestellt hatte, schien ihm vorzüglich zu schmecken. Einer der indischen Kellner servierte ihm schwarzen Kaffee. Er stürzte das Getränk in einem Zug herunter und richtete sich dann jäh auf. Einen Augenblick schien es Barrat, als sei ein hilfeflehender Blick auf ihn gerichtet. Dann sank Sinclair vornüber auf den Tisch.
Verwirrung erfüllte den Raum. Gewiß, solche Szenen kamen häufig genug vor. Meist handelte es sich nur um Betrunkene, die ohne viel Federlesens vor die Türe gesetzt wurden. Aber auch schlimmere Dinge waren keine Seltenheit in dieser eleganten Spelunke. Jedenfalls war ein solcher Vorfall für die anwesenden Dämchen eine vorzügliche Gelegenheit, sich hilfesuchend an ihre Partner zu klammern, wobei hie und da auch die Brieftasche mitging.
Barrat gedachte der strengen Weisung Sinclairs und gab seinem Impuls, zu Hilfe zu eilen, nicht nach. Er stand langsam auf und mischte sich unter die Menge, die sich um den anscheinend leblosen Körper Sinclairs gesammelt hatte.
Der alte Mann war mühsam aufgestanden und humpelte, auf das Mädchen gestützt, auf Sinclair zu. Mit einer befehlenden Geste verschaffte er sich Platz. »Ich bin Arzt,« sagte er auf englisch. »Der Herr braucht zu allererst frische Luft.«
Der Besitzer war geschäftig und besorgt herbeigeeilt. Er liebte solche Zwischenfälle in seinem »hochanständigen« Lokal nicht. »Ist der Herr krank?« fragte er.
Der alte Mann beugte sich über den regungslosen Körper, den man auf den Boden gelegt hatte, und untersuchte den Herzschlag.
»Er ist doch nicht tot?« flüsterte der Besitzer erregt.
»Nein, er lebt,« war die Antwort. »Ein leichter Schlaganfall, der Herr muß sofort wegtransportiert werden. Nein, Kognak würde nur schaden.« Er winkte dem Kellner ab, der mit einem Glas herbeigeeilt war. »Ich übernehme die Verantwortung. Hier, meine Karte.« Er schaute sich suchend um, sein Blick fiel auf den indischen Kellner, und er forderte ihn auf, den Mann aufzuheben. Barrat sprang vor, um behilflich zu sein, und zusammen trugen sie den leblosen Körper zur Türe. Der Besitzer folgte mit zahlreichen Dankesbeteuerungen. Es ist in solchen Fällen in Pera nicht üblich, die Polizei zu alarmieren und die Rettungswagen kommen immer zu spät.
Sie hoben Sinclair in eine der altmodischen Droschken, die in Konstantinopel von den Autotaxis noch nicht völlig verdrängt worden sind.
Der alte Doktor dankte Barrat. »Ich bin zwar nicht mehr imstande, einen Menschen tragen zu helfen, aber als Arzt stelle ich noch meinen Mann. Steig' ein, mein Kind.«
Das Mädchen war zuerst dem alten Mann beim Einsteigen behilflich und nahm dann selbst neben dem regungslosen Kranken Platz. Der Inder sprang auf den Bock neben dem Kutscher.
Barrat war unschlüssig, was er tun sollte. Er hatte sich nicht in den Wagen zwängen können, der bereits überfüllt war. Außerdem dachte er an den strikten Befehl Sinclairs.
»Darf ich fragen, wohin Sie ihn führen? Ich würde mich gerne nach seinem Befinden erkundigen,« fragte er.
»Aber gewiß,« antwortete der Doktor. »Hier ist meine Karte. Ich wohne im Hotel de l'Europe. Den Herrn führe ich ins französische Krankenhaus. Ich bin dort gut bekannt.«
Der Wagen verschwand in der Dunkelheit. Barrat blieb in peinigender Ungewißheit zurück. Er sah seinen Führer auf sich zukommen.
»Sie wollen schon gehen, mein Herr? Es ist doch noch so früh! Erst gegen Morgen ist hier wirklich etwas los!«
Barrat hatte inzwischen einen Entschluß gefaßt. »Holen Sie mir eine von den Droschken, die dort drüben stehen. Rasch! Ich wünsche dem Wagen, der soeben in dieser Richtung weggefahren ist, zu folgen.« »Gewiß, mein Herr,« antwortete der Führer und winkte einem Kutscher.