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24. Kapitel.
Moiras Geständnisse.

 

(Spezialbericht unseres Gerichtssaal-Redakteurs.)

Eine sensationelle Wendung ist in der Littleworth-Affäre eingetreten. Unsere Leser werden sich erinnern, daß Fräulein Kitty Lake im Juni dieses Jahres ermordet wurde und daß der begabte junge Schauspieler George Anthony des Mordes an seiner Kollegin schuldig befunden und zum Tode verurteilt wurde.

Es erregte allgemeines, teilweise recht unliebsames Erstaunen, als vor kurzem die Nachricht an die Oeffentlichkeit gelangte, daß Anthony im letzten Augenblick begnadigt und seine Strafe in lebenslängliches Zuchthaus umgewandelt wurde.

Es scheint, daß Inspektor i. P. Sinclair insgeheim seine Nachforschungen über das geheimnisvolle Verschwinden der Frau Robert Kenyon weitergeführt hat. Man hatte bisher allgemein angenommen, daß ihr ein Unfall zugestoßen sei.

Nunmehr ist eine plötzliche und höchst überraschende Wendung in der Sache eingetreten und das Publikum fragt sich, ob nicht ein schweres Fehlurteil gefällt worden sei?

Im Verlauf der Untersuchung über den unter dramatischen Umständen erfolgten Tod des Hauptmannes Farrar (der ehemalige Offizier wurde erschossen aufgefunden) erzählt Frau Kenyon die seltsame Geschichte ihrer schrecklichen Entführung.

Sie war offenbar nach dem Mord seelisch furchtbar erschüttert und einem völligen Nervenzusammenbruch nahe, ihr Gatte führte sie in sein Londoner Haus und verließ sie nur auf eine Stunde, um der schwergetroffenen Mutter des Mordopfers die schreckliche Nachricht zu überbringen.

Frau Kenyon konnte keine Ruhe finden und nahm ein starkes Schlafmittel. Sie erinnert sich an nichts, als daß sie in einem fremden Zimmer aufwachte, in dem sie längere Zeit hindurch gefangengehalten wurde. Frau Kenyon gibt an, daß sie eine undeutliche Erinnerung an eine lange Automobilfahrt habe. Als sie wieder voll zur Besinnung kam, befand sie sich in einem Raum, dessen Wände mit schwarzen Vorhängen verhängt waren, die kein Tageslicht hereinließen.

Es ist bisher nicht bekannt geworden, auf welche Weise Inspektor Sinclair ihren Aufenthaltsort ausfindig gemacht hat, aber jedenfalls muß in ihm, ebenso wie in dem angsterfüllten Gatten der Verdacht aufgestiegen sein, daß die Verschwundene in dem gleichen Landhaus verborgen gehalten werde, in dem der Mord sich ereignete. Der schlaue Plan des Verbrechers, als den man jetzt Hauptmann Farrar, Herrn Kenyons Privatsekretär, kennt, wurde durch den Tatbestand ermöglicht, daß Herr Kenyon seinem Entschluß Ausdruck gegeben hatte, das Haus weder zu bewohnen, noch zu verkaufen.

Inspektor Sinclair kam gerade zur rechten Zeit, denn vor der Türe stand ein Automobil abfahrtsbereit und man hatte Frau Kenyon betäubt, um ihre Wegschaffung zu ermöglichen. Offenbar in der Ueberzeugung, daß sein Versteck umstellt sei, beging Farrar Selbstmord.

Einen genauen Bericht über die Untersuchungsverhandlung und das Urteil der Jury findet der Leser in unserer Gerichtssaalrubrik. Ueber die Person Farrars sind bei dieser Gelegenheit aufsehenerregende Einzelheiten bekannt geworden. Er war in Indien im Zusammenhang mit der Ermordung eines Eingeborenen vor ein Kriegsgericht gestellt worden und wäre um ein Haar zum Tode verurteilt worden. Die öffentliche Meinung beschäftigt sich nunmehr aufs leidenschaftlichste mit der Frage, ob Farrar auch den Mord an Kitty Lake begangen hat. Vieles spricht für diese Annahme, aber die Lippen, die allein mit Sicherheit hierüber Auskunft geben könnten, hat der Tod versiegelt. Die weiteren Schritte des Ministers des Innern in dieser Angelegenheit werden mit gespanntester Aufmerksamkeit verfolgt.

Sinclair legte die Zeitung aus der Hand. Man saß in Kenyons Studierzimmer – Sinclair, Kenyon und seine Frau. Letztere saß matt und abgespannt, in Decken gehüllt, im Lehnstuhl.

»Dieser Halunke hat uns alle getäuscht. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, wenn ich dem Menschen auch eigentlich nie richtig getraut habe,« meinte Kenyon.

»Wenn Sie uns noch weitere Details mitteilen können, tun Sie es bitte, gnädige Frau, falls es Sie nicht zu sehr ermüdet,« wandte sich Sinclair an Frau Kenyon.

»Viel mehr weiß ich nicht zu erzählen. Man hielt mich in meinem ehemaligen Schlafzimmer gefangen, die Tür war stets verriegelt, die Fenster waren vernagelt und durch schwarze Vorhänge verdeckt. Ich wagte es nicht, einen Fluchtversuch zu machen und als ich einmal durch einen Spalt der Fensterläden sah, bemerkte ich den schrecklichen Buckligen, der Wache hielt. Ich wußte, daß jeder Schrei ihn sofort alarmieren würde und daß das Schlimmste geschehen könne. Hätte aber jemand aus der Gegend mich erblickt oder gehört, so wäre er aus Angst vor Gespenstern gelaufen, so rasch er nur gekonnt hätte.«

»Hat Ihr Kerkermeister Sie in irgendwelcher Art belästigt?«

»In keiner Weise. Er sprach nicht einmal mit mir. Zuerst fürchtete ich das Schlimmste, als ich aber einmal wußte, wer es war –«

»Du wußtest also, mit wem Du es zu tun hattest?« warf Kenyon ein.

»Ich fühlte es, wenn er auch Gesicht und Gestalt vollkommen verändert hatte. Irgendeine Bewegung, die ich an Farrar kannte, muß ihn mir verraten haben und dann hörte ich ihn auch sprechen.«

»Sprechen? Mit wem?«

»Ich glaube mit Sarah Middleton, unserem kleinen Dienstmädchen. Sie befanden sich in dem Zimmer unterhalb des meinen und er schien sich sehr über sie zu ärgern.«

»Sarah Middleton? Ja, richtig! Jemand mußte ja Lebensmittel herbeischaffen,« meinte Sinclair. »Auch das war ein kluger Schachzug, denn er rechnete damit, daß das einfältige Ding besonders von Gespensterfurcht geplagt sei. Selbst wenn sie etwas geplaudert hätte, würde niemand ihr Geschwätz ernst genommen haben.«

»Ich hörte ihn sagen, sie möge den Proviant nicht in das Haus bringen, sondern an eine versteckte Stelle in der Nähe stellen. Er drohte ihr, daß das Gespenst sie erwischen werde, und sie begann zu weinen. Das ist alles, was ich gehört habe.«

»Sie verloren in Ihrer Gefangenschaft wahrscheinlich jeden Sinn für den Ablauf der Zeit.«

»Ich vermochte mich nur ein wenig nach den Mahlzeiten und dem Einbruch der Dunkelheit zu orientieren. Farrar brachte mir Bücher, aber keine Zeitungen. Das lange Warten war entsetzlich.«

»Du mußt versuchen, all das Schreckliche zu vergessen,« beruhigte sie Kenyon und streichelte ihre Hand. »Gott sei Dank bist Du jetzt in Sicherheit. Am besten wäre es, wir würden eine Reise unternehmen.«

Dann sah Kenyon auf die Uhr und sprang auf. »Ich muß sofort weg. Wie Ihr wißt, hat mich der Minister des Innern rufen lassen, er wünscht meine Meinung darüber zu hören, ob wegen Anthony etwas geschehen soll. Wir haben natürlich keinerlei direkten Beweis für eine Schuld Farrars. Es war schurkisch von ihm, kein Schriftstück zu hinterlassen, aus dem die Unschuld Anthonys hervorgegangen wäre.«

»Sie werden gewiß Ihr Möglichstes tun,« sagte Sinclair, »obgleich sich juristisch schwer etwas machen läßt. Es ist fast ein Ding der Unmöglichkeit, jemanden, den eine englische Jury einmal schuldig gesprochen hat, freizubekommen.«

»Sie bleiben hier?« fragte Kenyon.

»Wenn Sie nichts dagegen haben, möchte ich an Ihre Frau Gemahlin einige Fragen richten.«

Sinclair begleitete Kenyon zur Tür, kehrte dann zurück und nahm Frau Kenyon gegenüber Platz.

»Nun denn, gnädige Frau,« sagte er ruhig, »Sie haben mir etwas zu sagen.«

»O, Herr Sinclair, ich habe Ihnen so viel zu sagen, daß ich nicht weiß, wo ich beginnen soll.«

»Lassen Sie sich Zeit,« sagte er, als er bemerkte, wie erregt sie war. »Wenn Sie gestatten, werde ich rauchen.«

Er zog seine Pfeife hervor, setzte sie in Brand. Es entging ihm nicht, daß ein schwerer innerer Kampf in der Frau tobte.

»Zunächst, Herr Sinclair, möchte ich Ihnen sagen, wie unendlich dankbar ich Ihnen für alles bin, was Sie für mich getan haben.«

»Aber reden wir doch nicht davon,« sagte er, sie unablässig beobachtend.

»Dann möchte ich Ihnen sagen, einen wie tiefen Eindruck Anthonys Begnadigung, die Sie erwirkt haben, auf mich gemacht hat.«

Sinclair nickte, wartete. »Das alles ist aber nicht das, was Sie mir sagen wollten, gnädige Frau.«

»Nein,« sagte sie mit Anstrengung und vermied es, dem Detektiv in die Augen zu sehen. »Herr Sinclair, ich habe Ihnen ein furchtbares Geständnis zu machen.«

»Ich glaube, ich kann erraten, um was es sich handelt,« sagte Sinclair leise.

»Wäre ich bei der Mordverhandlung anwesend gewesen, so hätte ich Georges Schuldlosigkeit beweisen können.«

»So etwas Aehnliches habe ich mir gedacht.«

Sie warf ihm einen erstaunten Blick zu und fuhr dann fort: »Sie wissen, daß ich nicht Herrin meiner Sinne war, als dieses furchtbare Ereignis sich in unserem Hause abspielte. Bevor ich noch sprechen konnte, war ich von Farrar entführt worden. Ich wußte nichts von Georges Verhaftung und der Gedanke ist entsetzlich, daß er, wenn Sie nicht die Begnadigung erwirkt hätten –«

Sie brach in Tränen aus.

»Beruhigen Sie sich, Frau Kenyon,« sagte Sinclair fest.

»Entschuldigen Sie, ich werde nicht wieder schwach werden,« flüsterte sie unter Tränen. »Sie sagten soeben, daß Sie erraten könnten, was ich Ihnen gestehen wolle. Wie wäre das möglich? Der Brief – der Brief, den George geschrieben hat, war nicht an Kitty gerichtet, sondern an mich.« Sie hielt inne. Sinclair rauchte weiter, ohne ein Wort zu sprechen.

»Ich sagte Ihnen schon, daß ich Ihnen ein Geständnis zu machen habe. Georg liebte mich, liebte mich leidenschaftlich, aber hoffnungslos. Ich schwöre Ihnen bei Gott dem Allmächtigen, daß unsere Liebe nicht sündig war. Ich habe ihn niemals ermutigt und tat mein möglichstes, ihn von mir fernzuhalten.«

»Auch ich liebte ihn,« fuhr sie fort und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. Dann erhob sie stolz ihr Haupt. »Wenn ich aber meinem Gatten untreu war, so war ich es nur in Gedanken und für unsere Gefühle können wir doch nichts. George hat mich nicht einmal geküßt, ja, nicht einmal den Versuch gemacht, mich zu küssen.«

»Ich glaube Ihnen, Frau Kenyon.«

»Ja, Sie glauben mir?«

»Ich las den Brief und ich verstehe einiges von menschlichen Dingen. Aber sagen Sie mir: ahnte Ihr Mann etwas?«

»Das ist vollkommen ausgeschlossen.«

»Oder sonst jemand?«

»Ja, Kitty. Sie hat es entdeckt.«

Trotz des Ernstes der Lage mußte Sinclair unwillkürlich lächeln. »O Gott,« sagte er. »Wenn das bei der Verhandlung herausgekommen wäre, so hätte es die Sache nur noch verschlimmert.«

»Wieso das?«

»Lassen wir das jetzt. Erhielten Sie den Brief?«

»Nein. Ich wußte gar nicht von seinem Vorhandensein.«

»Ich beginne klar zu sehen. Uebrigens hatte ich mir das Ganze so ähnlich vorgestellt. Anthony bat Sie in dem Brief um eine letzte Zusammenkunft. Wahrscheinlich hatte er vorher mit Ihnen fliehen wollen.«

»Ja, und ich hatte abgelehnt.«

»Er kam nach Littleworth, um Sie zu sehen und wußte nicht einmal, daß Fräulein Lake sich dort aufhielt. Er übergab dem Mädchen den Brief mit dem Auftrage, ihn der jungen Dame einzuhändigen und sie brachte ihn Kitty.«

Moira lächelte traurig. »Da sie mich als verheiratete Frau schon für eine Respektsperson hielt, konnte für sie die ›junge Dame‹ natürlich nur Kitty sein.«

»Dann kam George in der Erwartung, Sie zu sehen und fand Kitty. Sie flehte ihn offenbar an, zu gehen. Das ist mir alles sonnenklar. Während der Nacht kehrte er dann zurück, um den Brief zu holen.«

»Und der edle Mensch sprach während der Verhandlung nicht ein Wort über all das und ging lieber in den Tod, als meinen Namen in diese Affaire hineinzuziehen und meinen Ruf zu vernichten.«

»Ich dachte es mir. Sie haben Ihrem Gatten nichts davon erzählt?«

»Ich wage es nicht. Hierüber wünsche ich eben Ihren Rat. Wenn es sich darum handeln würde, Georges Leben zu retten, würde ich selbstverständlich sprechen, aber was würde er ihm heute nützen? Ich würde damit erst recht beweisen, daß er sich zur Zeit der Tat im gleichen Zimmer wie Kitty befand.«

»Ganz richtig. Man würde vielleicht annehmen, daß er sie in der Erregung getötet habe, damit sie das Geheimnis nicht verraten könne.«

»Oh Gott, was sollen wir tun!«

»Sie selbst haben keinen Verdacht?«

Moira wurde noch um einen Ton blasser. »Ein Unschuldiger ist bereits angeklagt worden und um alles in der Welt möchte ich keine falsche Anklage erheben. Sind Sie niemals auf die Vermutung gekommen, daß ein bestimmter Mann als Täter in Betracht kommt?«

»Doch,« sagte Sinclair.

»Ich meine Hauptmann Farrar. Ich weiß, daß ich das eigentlich nicht sagen sollte, um so mehr als er jetzt tot ist. Und doch – ich habe diesem Menschen niemals getraut. Sie werden sich erinnern, daß er um das Haus herumging, während mein Mann versuchte, die Türe einzubrechen und wir haben nur seine Aussage dafür, daß er Kitty bereits tot fand.«

»Er brauchte in der Tat sehr lange, um auf die Ändere Seite des Hauses zu gelangen. Ich habe es selbst ausprobiert.«

»Können wir denn gar nichts tun? Der Gedanke daran, daß George in der furchtbaren Zuchthauszelle schmachtet, ist unerträglich.«

»Gewiß, aber Sie dürfen nicht vergessen,« sagte Sinclair mit tiefem Ernst, »daß er nicht für ein Verbrechen büßt, daß er niemals begangen hat, sondern für eines, wegen dessen er niemals angeklagt wurde. Er hat versucht, einem Mann sein Weib abspenstig zu machen.«

»Eine schwere Strafe für solch ein Vergehen.«

»Frauen können verzeihen, aber mancher Mann hat um des gleichen Vergehens willen den Tod gefunden.«

»Was soll ich nur tun?« fragte sie verzweifelt. »Wenn ich meinem Gatten alles erzähle, kann nichts als Unglück daraus entstehen. George würde ich nicht damit helfen.«

»Min, Sie müssen das Geheimnis bei sich behalten. Es ist eine Strafe, die Euch beiden auferlegt ist.«

»Ist denn gar keine Hoffnung?«

»Wer weiß? Ich habe im Leben viel gesehen und gehört und bin zu der Ueberzeugung gelangt, daß alle menschlichen Anstrengungen nichtig sind, wenn das Schicksal es anders will. Ich habe Fälle gekannt, in denen Verbrecher wegen eines winzigen Beweisstückes, das fehlte, straflos geblieben sind. Wer weiß, vielleicht waren sie furchtbarer gestraft, als sie das Gesetz je hätte strafen können. Wenn unsere Kraft versagt, wird vielleicht eine höhere Macht das Problem unseren Händen entwinden. Vielleicht wird die Wahrheit allerdings auch niemals an den Tag kommen.«

Sie schauderte zusammen, obgleich es warm im Zimmer war – ihr irisches Blut gaukelte ihr die Vision eines anklagenden Dämons vor. »Die Toten schweigen,« flüsterte sie mit weißen Lippen.

»Das möchte ich nicht so unbedingt sagen,« meinte Sinclair. »Seltsame Dinge ereignen sich in der Welt, in der wir leben.«


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