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19. Kapitel.
In letzter Stunde.

Vom Flughafen Croydon aus raste Sinclair mittels Auto zur Polizeidirektion.

»Sie sind also zurück,« begrüßte ihn Boyce nicht eben herzlich. »Wo um Gottes willen haben Sie gesteckt?« Mit einem Blick auf Sinclairs verbundenen Kopf fügte er hinzu: »Was ist Ihnen denn passiert?«

»Es würde zu lange dauern, Ihnen jetzt die ganze Geschichte zu erzählen. Sie werden natürlich alles erfahren. Die Hauptsache ist, ich habe mein Ziel erreicht. Wie steht^s mit Anthony?«

»Die Hinrichtung ist für morgen früh angesetzt, Ihr Telegramm habe ich an den Minister des Innern geleitet. Aber was zum Teufel bezwecken Sie damit? Wenn Sie etwas wußten, hätten Sie es mir vor Ihrer Abreise mitteilen müssen.«

»Ich werde alles erklären, Herr Boyce, jetzt aber muß ich sofort den Minister des Innern sprechen. Können Sie mir diese Zusammenkunft ermöglichen?«

»Sofort? So eilig ist es?«

Sinclair hätte dem Mann, der da in satter Behaglichkeit vor ihm saß, am liebsten eine Ohrfeige gegeben.

»Grenzenlos eilig.«

»Na, schön,« sagte Boyce in sauersüßem Ton und hob den Telephonhörer ab. »Verbinden Sie mich mit dem Herrn Minister des Innern.«

Keiner von beiden sprach ein Wort, bevor das Telephon klingelte. »Hier Boyce, Scotland Yard … Wer spricht bitte … Ah, Sie sind's, Wells … so, so ist nicht in London … Ja, es ist ziemlich eilig … Inspektor Sinclair ist aus Konstantinopel zurückgekehrt … Wegen Anthony … Schön, werde es ihm ausrichten … Was sagen Sie … Ja, ich habe den gleichen Tip. Habe das Pferd heute Morgen 10:1 gewettet … Todsicher, meiner Ansicht nach …«

Sinclair wartete angespannt, bis sein Vorgesetzter die Unterhaltung über die wahrscheinlichen Sieger des morgigen Rennens beendet hatte.

»Ich fürchte, Sie werden den Minister nicht sprechen können,« meinte Boyce mit einer Gleichgültigkeit, die Sinclair zur Verzweiflung brachte, »er hält sich auf seinem Landsitz auf. Vielleicht können Sie ihn telephonisch erreichen.«

»Das ist nutzlos. Sein Gut liegt in Cobham, nicht wahr?«

»Jawohl. Irgendwo in der Gegend.«

»Ich fahre sofort hinaus. Entschuldigen Sie mich, morgen werde ich Ihnen ordnungsgemäß Bericht erstatten.«

Boyce ärgerte sich nicht wenig. Er wollte noch am gleichen Abend in seinem Klub mit »seinen« Heldentaten paradieren. Aber ehe er protestieren konnte, hatte Sinclair schon das Zimmer verlassen. Sein Wagen wartete draußen.

»Zum Landsitz des Ministers des Innern bei Cobham. Fahren Sie, so rasch Sie können.«

Sinclair fühlte sich einer Ohnmacht nahe. Sein verletzter Kopf begann wieder zu schmerzen. Aber mit eiserner Energie hielt er sich aufrecht.

Der Wagen hielt vor einem großen Landhaus. Sinclair sprang heraus. Auf sein Läuten öffnete ein Diener das Tor.

»Ist der Herr Minister zu Hause? Ich bin Inspektor Sinclair von der Polizeidirektion. Mein Anliegen ist äußerst dringend.«

»Bedaure, der Herr Minister ist ausgeritten.«

»Ich werde warten. Hier meine Karte.«

Der Diener studierte die Karte sorgfältig. Er wollte kein Risiko eingehen. »Bitte kommen Sie weiter,« sagte er endlich und geleitete den Detektiv in einen geschmackvoll ausgestatteten Salon.

Ein behagliches Feuer knisterte im Kamin. Sinclair sank mit einem Schmerzenslaut in einen Sessel, sein Gesicht war so bleich, daß der Diener erschrak. »Darf ich Ihnen etwas bringen, mein Herr?« fragte er, »Sie sehen krank aus.«

»Danke,« sagte Sinclair, »einen Kognak, wenn ich bitten darf.«

Der freundliche Mann brachte Sinclair das Gewünschte nebst einigen Biskuits und ließ ihn dann allein. Es schien dem Detektiv, als ob Stunden vergangen seien, als endlich draußen Pferdegetrappel hörbar wurde. Gleich darauf trat der Minister ein. Er sah aus wie ein freundlicher, behäbiger Landedelmann.

Er schüttelte Sinclair warm die Hand. Der Mann war ihm von jeher sympathisch gewesen. »Womit kann ich Ihnen dienen, Herr Sinclair?« fragte er sofort.

»Ich komme wegen des Mordfalles in Littleworth, Herr Minister.«

Das Gesicht des Ministers wurde ernst. »Um was handelt es sich?«

»Ich wünsche zu wissen, Herr Minister, ob Sie geneigt sind, Seiner Majestät ein Begnadigungsgesuch zu unterbreiten?«

»Sie verlangen viel. Wahrscheinlich haben Sie schwerwiegende Gründe.«

Sinclair fand seine Lage hoffnungsloser denn je. »Leider habe ich keine Beweise, die eine Geschwornenjury überzeugen würden. Es handelt sich nur um meine eigene Ueberzeugung. Ich war am Mordtage in Littleworth und ich beobachtete Anthony von dem Augenblick seines Eintrittes in das Landhaus bis zum nächsten Tage … Dann auch während der Untersuchungsverhandlung. Ich weiß einen Menschen zu beurteilen und meiner innersten, felsenfesten Ueberzeugung nach ist er nicht der Mörder, wieviel auch gegen ihn sprechen möge. Hinter der Sache steckt etwas anderes.«

»Aber das Beweisverfahren, lieber Freund?« sagte der Minister. Seine Stimme klang ein wenig ungeduldig. »Ueber das können Sie nicht hinweg.«

»Trotz alledem – Anthony ist nicht der Mensch, der einen Mord begeht und sich nachher im Mordhause aufhält, ohne sich zu verraten. Sein Schmerz war echt, dafür lege ich die Hand ins Feuer. Ein seltsamer Zug in seinem Gesicht sagte mir, daß er irgend etwas wußte, das er vor uns verheimlichte.«

»Sie meinen, daß er jemanden decken wollte? Aber Sie werden mir doch nicht im Ernst zumuten zu glauben, ein Mensch könne zum Schafott gehen, um einen andern zu retten. So etwas gibt es in Romanen, aber nicht im wirklichen Leben! Ausgeschlossen!«

»Und doch bin ich überzeugt, daß ich recht habe.« Sinclair blieb hartnäckig bei seiner Ueberzeugung.

»Mein lieber Herr Sinclair, Sie können mir glauben, daß die Verantwortung in solchen Fällen furchtbar ist und daß ich jeden einzelnen Fall eines Gnadengesuches mit der peinlichsten Gewissenhaftigkeit prüfe. In diesem Fall tat ich noch ein übriges und befragte eine Reihe der hervorragendsten Juristen um ihre Meinung. Sie lautete übereinstimmend dahin, daß an der Schuld des Angeklagten nicht zu zweifeln sei. Vergessen Sie auch nicht, daß die obersten und erfahrensten Richter dieses Landes die Berufung geprüft und verworfen haben.«

»Herr Minister,« sagte Sinclair, »ich diene dem Staat seit dreißig Jahren und habe das Vertrauen, das man in mich gesetzt hat, nie mißbraucht. Nun denn: Sie dürfen mich einen ehrlosen Schuft nennen, wenn dieser Mann schuldig ist. Denken Sie daran, was ich Ihnen in dieser Stunde sage, Herr Minister. Sie werden es noch auf Ihrem Totenbette bereuen, wenn Sie den Menschen hängen lassen. Denn seine Unschuld wird an den Tag kommen.«

Die tiefe Ergriffenheit, mit der der sonst so nüchterne Detektiv sprach, verfehlte ihre Wirkung auf den Minister nicht.

»Aber das Beweisverfahren?« fragte er nach einer beklommenen Pause.

»Wäre ich dabei gewesen, so hätte ich das Beweisverfahren umwerfen können wie ein Kartenhaus.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Ich habe den Prozeßbericht auf der Rückreise von Konstantinopel sorgfältig studiert. Man war sich darüber einig, daß das Verbrechen von einem Linkshänder begangen wurde und wies besonders auf die große Kraft des Mörders hin.«

»Gewiß.«

»Falsch,« sagte Sinclair langsam. »Man nahm als gegeben an, daß der Mörder das Verbrechen von vorne beging. In Wirklichkeit stand er hinter seinem Opfer, als er den Mord ausführte. Aus diesem Grunde stieß das arme Mädchen auch keinen einzigen Schrei aus. Der Mörder kam von hinten und vermochte auf diese Weise mehr Kraft in seinen Angriff zu legen. Infolgedessen muß ein Rechtshänder der Mörder sein. Damit fällt schon einer der Beweise in Stücke.«

»Wie kommen Sie zu dieser Annahme?«

»Ich habe die Wunde gesehen und habe Erfahrung in diesen Dingen. Fräulein Lake saß wahrscheinlich auf dem Klaviersessel. Dafür spricht auch der Umstand, daß ich den Brief neben diesem Sessel auf dem Boden fand.«

Das Argument schien auf den Minister Eindruck zu machen. »Da fällt mir ein, daß Sie gesagt haben, Sie wüßten, wer in der Nacht kam, um den Brief an sich zu bringen.«

»Ich weiß es.«

»Nun denn, wer war es?«

»George Anthony.«

»Wer, lieber Freund, einen stärkeren Beweis für seine Schuld kann es doch nicht geben.«

»Nur scheinbar. Wegen dieser falschen Folgerung, die einen Unschuldigen mit noch größerer Sicherheit auf das Schafott gebracht hätte, habe ich diesen Umstand verschwiegen.«

Sir John erhob sich. »Ich glaube, es hat wirklich keinen Zweck …«

»Einen Augenblick noch, bitte. Alle haben angenommen, daß Anthony den Brief an Fräulein Lake gerichtet habe.«

»Daran ist doch auch nicht zu zweifeln.«

»Was sagte der Angeklagte zu diesem Punkte?«

»Daß er den Brief nicht geschrieben habe.«

»Nein.«

»Was heißt das? Gewiß hat er das gesagt.«

»Ich habe hier das Verhandlungsprotokoll. Er sagte, daß er den Brief an Fräulein Lake nicht geschrieben habe.«

»Nun also.«

»Er hat nicht behauptet, daß er den Brief nicht geschrieben hat. Wenn nun der Brief an jemand andern gerichtet gewesen wäre?«

»Das Dienstmädchen sagte aber –«

»Daß sie den Brief, den Anthony ihr für Fräulein Lake übergeben habe, dieser ausgehändigt habe.«

»Und er bestritt das.«

»Entschuldigen Sie, Herr Minister, er bestritt das nicht. Er behauptete nur, ihr keinen Brief für Fräulein Lake gegeben und gar nicht gewußt zu haben, daß die Schauspielerin in Littleworth sei.«

Sir John war bestürzt. »Wo wollen Sie hinaus, Herr Sinclair? Haben Sie eine bestimmte Vermutung im Zusammenhang mit dieser Briefsache?«

»Vielleicht.«

»Dann frage ich Sie klipp und klar: Wissen Sie oder vermuten Sie, wer der Mörder ist?«

»Jawohl, aber ich habe nicht die Spur eines Beweises und ich werde nichts sagen, was zur Verhaftung eines möglicherweise Unschuldigen führen könnte. Sie alle glauben, daß der Verführer und der Mörder des Mädchens ein und dieselbe Person sein müsse.«

»Alles deutet darauf hin.«

»Und doch kann die Annahme falsch sein.«

»Sie machen mich verwirrt, Sinclair. Es gibt andere Beweise. Die Fußspuren, die Handschuhe, der Mangel eines Alibis.«

»All das genügt nicht. Wenn nun Anthony wirklich im Hause gewesen wäre – was dann?«

»Sie meinen, daß er der Mann im Zimmer gewesen sei und doch nicht der Mörder?«

»Möglich. Obgleich ich es nicht behauptet habe.«

Sir John durchmaß den Raum mit raschen, nervösen Schritten.

»Sinclair, Sie haben mich in meinem Glauben erschüttert. Ich bin zwar persönlich nach wie vor der Ansicht, daß Anthony aller Wahrscheinlichkeit nach der Mörder ist. Aber wenn auch nur ein Atom eines Zweifels vorhanden ist, kann ich den Mann nicht hinrichten lassen. Ich will Ihnen etwas berichten, das Sie nicht wissen. Die Schwester der Ermordeten hat Anthony in seiner Zelle besucht. Herr Kenyon bewirkte die Erlaubnis und bat mich um die Begnadigung des Verurteilten. Er setzte sich mit höchstem Ernst dafür ein. Die Leute werden sagen, daß das nichts beweist, aber ich finde es immerhin auffallend, daß die Schwester und die Mutter eines Mordopfers dem wegen des Mordes Verurteilten nicht nur verzeihen, sondern sogar von seiner Unschuld überzeugt sind.«

»Warum wollen Sie denn nicht die Begnadigung bewilligen? Lebenslängliches Zuchthaus ist weiß Gott eine ausreichende Sühne für jedes Verbrechen. Einen Toten aber kann nichts wieder lebendig machen.«

»Was soll ich tun? Wären Sie doch nicht hergekommen, um mir meine Seelenruhe zu nehmen.«

»Ich habe in meinem ganzen Leben niemals um eine Gunst gebeten. Sie wissen, daß ich kein persönliches Interesse an der Sache habe.«

Sir John ging zum Fenster und starrte in die sinkende Nacht. Dämmerung füllte das Zimmer. Schwarz standen die Bäume des Gartens gegen die Wolken des Abendhimmels. Ein letzter Sonnenstrahl drang durch das Gewölk wie das Auge eines Anklägers. Lange stand er in tiefem Nachdenken und Schaudern faßte ihn, während Sinclair in unerträglicher Spannung auf die Entscheidung wartete.

Plötzlich ging ein Ruck durch die Gestalt des Ministers. Rasch ging er zur Türe und verließ das Zimmer. Verzweifelt sank Sinclair in seinen Sessel zurück.

Dann hörte er draußen rasche Schritte und plötzlich durchflutete helles Licht den Raum. Der Minister war eingetreten und hatte das elektrische Licht aufgedreht.

Er ging auf Sinclair zu und überreichte ihm ein Schriftstück. »Hier,« sagte er mit heiserer Stimme. »Bringen Sie das dem Direktor des Gefängnisses. Es ist die Weisung, die Hinrichtung aufzuschieben. Glauben Sie nicht, daß Sie mich überzeugt haben. Ich habe das Gefühl, vom juristischen Standpunkt aus einen Fehler zu machen. Aber ich bin nicht mehr ganz sicher, und ich will das Risiko nicht auf mich nehmen. Danken Sie mir nicht. Gehen Sie.«

Bei der Tür hielt er Sinclair die Hand hin und seine Stimme klang seltsam bewegt, als er sagte: »Wenn ich einmal in Gefahr sein sollte, so sende mir Gott einen Mann wie Sie.«

*

Schwach erhellte ein Licht die gruftartige Zelle. Feierlich verkündete die Gefängnisuhr die zehnte Abendstunde. Anthony zählte die Schläge. Bevor die Glocke das nächste Mal zehn schlug, würde er schon tot sein und in einem namenlosen Grab ruhen.

Grauen faßte ihn. Wie oft hatte er sich in den letzten Tagen und Wochen das furchtbare Bild der letzten Nacht ausgemalt. Niemand, der ihn jetzt hätte sehen können, hätte den blendenden, vom Publikum vergötterten jungen Schauspieler in ihm erkannt. Sein Haar war ergraut und wirr. Tiefe Falten hatten sich in sein Antlitz gegraben. Schweigend saßen die beiden Aufseher an einem Tisch und spielten Dame. Sie hatten ihn mit unbeholfener Gutmütigkeit aufgefordert, mitzuspielen. Er hatte nur schweigend abgelehnt und jetzt ließen sie ihn taktvoll in Ruhe.

Der Pfarrer war bei ihm gewesen und hatte versprochen, noch einmal zurückzukehren. Der gute Mann war ehrlich betrübt, über die Verstocktheit, mit der es der Verurteilte abgelehnt hatte, sein Gewissen durch ein Geständnis zu erleichtern. So blieb ihm nichts übrig, als mit ihm und für ihn zu beten.

Jetzt kämpfte Anthony allein mit seinen Gedanken. Der flackernde Schatten, den das Lampenlicht auf die Weißgetünchte Wand warf, nahm die Gestalt eines Galgens an. Anthony verdeckte seine Augen mit der Hand. Seine Hände krampften sich um seinen Hals. Ihm war, als fühlte er schon den Strick. Er rang um Atem.

Tiefe Stille herrschte – Grabesstille.

Plötzlich öffnete sich die Türe und der Gefängnisdirektor stand vor ihm, tiefen Ernst in den Zügen. Er hielt ein Schriftstück in der Hand.

»Anthony,« sagte er, »ich habe Ihnen eine Nachricht zu bringen. Der Minister des Innern hat Seiner Majestät empfohlen, Sie zu begnadigen. Ihre Strafe wird in lebenslängliches Zuchthaus umgewandelt werden.«

Anthony hörte die Worte wie im Traum. Ihm war, als mache sich jemand in hämischer Weise über ihn lustig. Dann schwanden ihm die Sinne.


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