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23. Kapitel.
Farrars Tod.

Die beiden Männer kehrten in das Gasthaus zurück.

»Was Sie vorhaben, weiß ich nicht, Herr Sinclair; ich fahre jedenfalls nach London zurück. Ich habe genug von dieser sinn- und zwecklosen Jagd.«

»Auch mir tut es leid, Herr Kenyon, daß wir keinen Erfolg erzielten. Ich verstehe Ihre Gefühle vollkommen.«

»Kommen Sie mit?«

»Nein, ich werde die Nacht hier verbringen. Sehen Sie, mich binden jetzt keine amtlichen Pflichten mehr, und da ich hier einmal mein Zimmer bestellt habe, kann ich gerade so gut hier übernachten wie irgendwo anders.«

Kenyon hielt ihm die Hand hin. »Ich weiß, daß Sie alles getan haben, was Sie konnten und daß auch Sie enttäuscht sein müssen. Ich danke Ihnen vom Herzen.«

»Vermutlich haben diese Gespenstergeschichten es mit sich gebracht, daß ich der ganzen Spur überhaupt eine Bedeutung beigemessen habe.«

»Ich hole nur den Wagen aus der Garage,« sagte Kenyon.

Als er gegangen war, läutete Sinclair und sagte dem eintretenden Mädchen:

»Melden Sie dem Wirt, daß ich das Zimmer für Herrn Kenyon bezahlen werde; ich will nicht, daß er einen Verlust hat.«

»Danke schön, Herr!«

»Sagen Sie mal, haben Sie jüngere Geschwister?«

»Jawohl, drei,« antwortete das Mädchen erstaunt.

»Gehen Ihre Geschwister in die Schule?«

»Gewiß, Herr, das heißt augenblicklich nicht.«

»Wieso das?«

»Na, gegenwärtig grassieren hier doch die Masern und da sind alle Schulen geschlossen.«

›Ich Esel,‹ dachte Sinclair, sich vor den Kopf schlagend, ›daran hatte ich gar nicht gedacht.‹

Das Mädchen sah ihn mit wachsendem Erstaunen an.

»Vielen Dank, liebes Kind,« sagte Sinclair, »es war mir nur aufgefallen, daß man so viele Kinder auf der Straße sieht.«

»Möchten Sie nicht doch hier mit mir zu Abend essen?« fragte Sinclair, als Kenyon wieder eintrat.

»Nein, danke vielmals. Sie können sich keinen Begriff davon machen, wie widerwärtig mir dieser Ort geworden ist. Lassen Sie mich bitte wissen, wenn Sie etwas Neues hören. Ich werde inzwischen Boyce besuchen und ihn ein wenig aus seiner Ruhe aufscheuchen. Wir können die Sache nicht einfach im Sand verlaufen lassen.«

Kaum war das Geräusch des abfahrenden Wagens verhallt, als Sinclair neuerdings das Mädchen hereinrief.

»Bitte, machen Sie mir ein paar Sandwiches fertig und füllen Sie meine Flasche mit Kognak und Wasser. Und dann noch eines: wenn jemand nach mir fragt, sagen Sie einfach, ich sei ausgegangen und Sie wüßten nicht, wohin. Ich bleibe vielleicht die ganze Nacht weg, komme aber jedenfalls am Morgen zurück und bezahle meine Rechnung. Und reinen Mund halten, nicht wahr? Ich weiß, was Dorfklatsch bedeutet. Kann ich mich auf Sie verlassen?«

»Gewiß, Herr, nicht ein Wort werde ich sagen.«

Das Mädchen ging, um Sinclairs Auftrag auszuführen.

Der Detektiv zog seinen Revolver aus der Tasche, reinigte ihn sorgfältig und lud ihn mit frischen Patronen.

Dann knöpfte er seinen schweren Wettermantel zu, ließ die Waffe in die rechte und das Proviantpaket in die linke Außentasche gleiten und stahl sich durch die Hinterpforte in den Garten. Er überkletterte eine Mauer und machte sich über verlassene, regengetränkte Felder auf den Weg. Trotz des herrschenden Sturmes und des jetzt steil aufsteigenden Pfades bewegte er sich mit großer Schnelligkeit vorwärts. Es war inzwischen vollkommen dunkel geworden. Eine schreckliche Angst hatte sich seiner bemächtigt. Er hatte alles auf diese eine Karte gesetzt und wenn es schief ginge, so trug er möglicherweise die Verantwortung für einen neuen Mord.

Dunkel stieg die letzte Erhebung vor ihm auf und der Wind nahm immer mehr zu. Er tastete sich, so gut es ging, durch das nasse Gebüsch – von seiner Taschenlampe Gebrauch zu machen, wagte er nicht – und versank mehr als einmal bis zu den Knien in Morast.

Endlich hatte er den höchsten Punkt erreicht und rutschte auf der anderen Seite den schlüpfrigen Pfad bis zu dem undeutlich sichtbaren dunklen Wald hinab. Er kroch von Baum zu Baum und hatte endlich die Straße erreicht. Rechts vor sich sah er den Gartenzaun von Kenyons Haus, während sich zur Linken die Straße teilte. Der eine Teil senkte sich zu Tal, während der andere über den Hügel nach Ketworth führte. An der Wegkreuzung war eine kleine Waldlichtung, auf der man eine Heine Kapelle und ein Schulhaus erbaut hatte.

Sinclair blickte auf das leuchtende Zifferblatt seiner Uhr und erneuter Schrecken packte ihn. Seine Wanderung durch die Dunkelheit hatte zwei Stunden in Anspruch genommen. Unter die Bäume geduckt, eilte er auf das Schulhaus zu.

Vor der geöffneten Türe stand ein großes Automobil und Sinclair rannte in ein paar Sätzen auf den Wagen zu. Er war leer. »Gott sei Dank!« knirschte er zwischen den Zähnen.

Er trat in das Schulhaus ein und fand das Innere stockdunkel, aber ein leises Geräusch drang an sein Ohr. Jemand sprach. Sinclair folgte dem Ton der Stimme und stürzte über die Bänke, mit denen das Schulhaus ausgestattet war.

Das Geräusch des Sturzes zerriß die tiefe Stille. Sinclair blieb stehen. Mit seiner Taschenlampe suchte er den ganzen Raum ab. Er sah zwei Türen, eilte zur nächstgelegenen und fand sie verschlossen. Mit einem Stuhl hämmerte er so lange gegen die Türe, bis sie nachgab. Mit schußbereitem Revolver drang er in das Nebenzimmer ein und schaute sich um.

Der Raum war seltsam möbliert. Schwarze Vorhänge verhüllten die Wände, ferner gab es ein Bett, einen Tisch und ein Waschgestell. Auf dem Bett lag eine bewegungslose Gestalt und Sinclairs Hand zitterte, als er sich ihr näherte.

»Zu spät!« murmelte er und schlug die Decke, die die ruhende Gestalt verhüllte, beiseite.

Es war eine Frau, bewußtlos oder tot, und Sinclair leuchtete ihr mit seiner Taschenlampe ins Gesicht. Ein einziger Blick zeigte ihm, daß es Moira Kenyon war und in äußerster Hast suchte er nach ihrem Herzschlag. Das Herz schlug rasch und unregelmäßig und aus seiner langen Erfahrung heraus erkannte Sinclair sofort, daß die Frau durch ein Rauschgift betäubt worden war.

Der Knall eines Pistolenschusses erscholl im nächsten Zimmer. Sinclair war mit einem Sprung bei der Tür und stürzte in den Schulraum. Die zweite Tür stand offen und führte in eine Rumpelkammer. Auf dem Boden lag ein Mann und eine dünne Rauchwolke kräuselte sich zur Decke empor. Der Geruch verbrannten Fleisches erfüllte das Zimmer.

Sinclair wandte den Körper um und starrte in das rauchgeschwärzte Gesicht eines völlig Fremden. Die rechte Schläfe wies eine häßliche Wunde auf. Der rechten Hand des Toten war der Revolver entfallen.

Sinclair sah sich rasch um, aber nichts Verdächtiges regte sich, dann durchfuhr ihn ein plötzlicher Gedanke, und er beobachtete von neuem sorgfältig das Antlitz des Toten.

»Aha,« murmelte er, »das hätte ich mir denken können.«

Das dichte Haar des Selbstmörders war ergraut und auch sein wirrer Bart war mit Silberfäden durchzogen. Mit einem Griff riß ihm Sinclair den Bart und die Perücke herunter. Die glasigen Augen Farrars starrten ihm entgegen.


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