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12. Kapitel.
Die Zeit verrinnt.

Madeline und ihre Mutter warteten während des ganzen langen Nachmittags auf Nachricht. Die Fensterläden waren herabgelassen und die Vorhalle des kleinen Hauses lag in Halbdunkel gehüllt. Die Marter des Wartens war beinahe unerträglich.

Tag für Tag hatten sie gierig die Zeitungen durchsucht, in der Erwartung, es müsse etwas geschehen, eine Verhaftung oder ein Geständnis, etwas, das Anthonys Unschuld an den Tag bringen würde. Aber die Zeit war ereignislos vergangen und der verhängnisvolle Tag der Verhandlung war herangenaht.

Eine Gestalt kam langsam mit gesenktem Kopf auf das Haus zu. Schon stand die Sonne Lief; unheilverkündend lagerten schwere Wolkenmassen am abendlichen Himmel. Es war schwül, kein Lüftchen regte sich, unbeweglich in gläserner Stille lag das Meer da. Ein Gewitter lag in der Luft.

Arthur Barrat hatte seinen Wagen in der Hotelgarage eingestellt. Seine Aufgabe bedrückte ihn schwer und er zog es vor, den Weg zu dem Haus, das die Frauen beherbergte, zu Fuß zu machen. Er hatte geschworen, nicht eher zu Madeline zurückzukehren, bis seine Unschuld erwiesen sei. Zwölf ehrenwerte Männer aus dem Volk hatten den stärksten Beweis für seine Unschuld erbracht, indem sie den andern schuldig sprachen. Wie aber würde Madeline die Nachricht aufnehmen? Frauen sind unberechenbare Instinktwesen.

Mehr als einmal blieb er stehen und noch beim Gartenzaun zögerte er. Sollte er nicht doch lieber schreiben? Würde ihn nicht Madeline ein zweites Mal von der Schwelle weisen? Schließlich aber trat er doch ein, entschlossen, die einmal begonnene Aufgabe zu Ende zu führen, komme was da wolle.

Nun stand er vor den beiden Frauen.

»Warum bist Du hergekommen?« fragte Madeline mit starker Stimme.

»Ich wollte nicht herkommen, bis meine Unschuld klar erwiesen sei. Leider komme ich mit dem schrecklichsten Beweis, den es gibt. Die Wahrheit ist endlich an den Tag gekommen.«

»Was soll das heißen?« Madelines Augen starrten ihn voll Entsetzen an.

»Anthony wurde heute nachmittags schuldig gesprochen und zum Tode verurteilt.«

Madeline stieß einen Schrei aus und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen, während ihre Mutter in Tränen ausbrach.

»Ich werde niemals daran glauben,« schrie das Mädchen. »Niemals! Und wenn die Geschworenen ihn tausendmal schuldig sprechen, ist er doch unschuldig! Es ist häßlich von Dir, Anthony für schuldig zu halten.«

»Und doch,« sagte er bitter, »hast Du an meine Schuld nur allzurasch geglaubt.«

»Vielleicht habe ich unrecht getan,« sagte sie traurig. »Es steht mir nicht zu, zu richten. Augenblicklich kann ich an nichts anderes denken, als an den armen George. Es ist entsetzlich!«

»Ich war während der ganzen Verhandlung anwesend. Sein Verteidiger tat alles Erdenkliche, um seinen Freispruch zu erwirken. Es war alles vergeblich. Die Schuldbeweise waren zu erdrückend.«

»Du hältst ihn also für schuldig?«

»Es ist unmöglich, anderer Meinung zu sein. Du wärest selbst von seiner Schuld überzeugt, wenn Du der Verhandlung beigewohnt hättest.«

»Nie und nimmer. Und um zu zeigen, wie felsenfest ich von seiner Unschuld überzeugt bin, werde ich ihn besuchen.«

»Was, Madeline, in der Zelle der zum Tode Verurteilten?«

»Jawohl, in der Zelle der zum Tode Verurteilten!« sagte sie hoch aufgerichtet. »Ich werde ihn trösten, so weit es in meinen schwachen Kräften steht.«

Frau Lake hatte aufgehört zu weinen und rieb sich ihre geröteten Augen. »Du kannst das unmöglich tun, mein Kind!«

»Ich werde es tun, und wenn Du nicht mit mir kommen willst, so gehe ich allein.«

»Aber Liebling, was werden die Leute sagen?«

»Was kümmert das mich? Oh, wenn Herr Sinclair in England wäre, so wäre es nie so weit gekommen.«

»Herr Sinclair ist auf geheimnisvolle Weise verschwunden,« sagte Barrat. »Es kam während der heutigen Verhandlung an den Tag.«

»Dann ist unsere letzte Hoffnung dahin.« Verzweiflung packte Madeline. »Wird George Berufung einlegen?«

»Sicherlich. Aber der Richter betonte ausdrücklich, daß wenig Hoffnung vorhanden sei.«

Madeline stampfte mit dem Fuß auf. »Was kümmert mich die Meinung des Richters! Du mußt sofort alle Hebel in Bewegung setzen. Herr Kenyon wird Dir helfen. Er hat Verbindungen, er wird mir eine Audienz beim Minister des Innern ermöglichen. So tu doch etwas! Steh' nicht da und gaffe in die Luft wie ein Idiot!«

»Du bist unvernünftig, Madeline,« fiel ihre Mutter ein. »Ich finde es sehr schön von Arthur, daß er sofort zu uns gekommen ist, trotzdem Du ihn so schlecht behandelt hast.«

»Bitte lassen Sie das, Frau Lake,« sagte Arthur bitter. »Ich verstehe Dich ganz und gar nicht, Madeline, Du bist nicht mehr Du selbst. Aus einem mir unbekannten Grund bist Du gegen mich eingenommen und hast nur George Anthony im Sinn. Wirklich, ich verstehe Dich nicht.«

»Es gibt gar nichts zu verstehen,« sagte Madeline fest. »Einer unserer Freunde ist in höchster Gefahr, infolge eines Justizirrtums eines schimpflichen Todes zu sterben. Alles andere ist gegenwärtig gleichgültig. Rette sein Leben, das ist alles, was ich von Dir verlange! Wenn Du noch ein wenig Ergebenheit für mich hast, mußt Du mir in dieser Sache helfen.«

»Ich werde tun, was ich kann. Wunder kann ich allerdings nicht wirken.«

Einen Augenblick wich die Härte aus Madelines Zügen und sie ergriff Arthurs Hand. »Siehst Du denn nicht, daß augenblicklich keiner von uns normal ist? Es tut mir leid, wenn ich Dir gegenüber unfair bin. Rette Georges Leben und alles wird anders sein.«

»Was ist sie ihm oder er ihr?« grübelte Barrat. »Es hat beinahe den Anschein, als ob sie in diesen Anthony verliebt sei.« Madeline war ihm entglitten, war eine Fremde für ihn geworden. Anthonys Schicksal ging ihr zu Herzen, zu Sinclair hatte sie Vertrauen und zu Kenyon. Was aber war er ihr? Eine Art Dienstmann, dem man Aufträge gibt, den um Rat zu fragen es einem aber nicht einfällt. Und das Seltsamste dabei war, daß sie trotz all dem höher in seiner Achtung stand denn je. Er mußte zeigen, daß er ihrer würdig, daß er ein Mann sei.

Er stand auf, um zu gehen. »Ich werde sofort zu Herrn Kenyon gehen und sehen, was sich tun läßt. Kann ich sonst noch etwas für Euch tun?«

Madelines Gesicht rötete sich vor erwartungsvoller Erregung.

»O, wenn Du das tun wolltest?«

»Und zwar?«

»Arthur,« sagte sie zaghaft, »ich wage kaum, Dich darum zu bitten. Würdest Du mir einen wahrhaft großen Dienst erweisen, trotz allem, was ich gesagt habe?«

»Ich bin bereit, alles zu tun, was in meiner Macht steht.«

»Es klingt lächerlich, Du wirst mich für verrückt halten – würdest Du versuchen, Herrn Sinclair nach England zurückzuholen?«

Jäh durchzuckte Barrat die Erinnerung an die Begegnung im Zuge. Hatte Sinclair an eine solche Eventualität gedacht, als er ihm gesagt hatte, er würde seine Reise unterbrechen, sobald Barrat seiner bedürfe? Oder war es nur Zufall? War es nicht absurd, eine wilde Jagd ins Blaue hinein nach einem berühmten Detektiv in die Wege zu leiten, der einer wichtigen Aufgabe wegen im Ausland weilte? Und das alles wegen einer Chimäre?

Madeline beobachtete ihn angstvoll. »Tu es, um meinetwillen,« flehte sie.

»Aber wozu soll das gut sein, Madeline? Ich würde als ein schöner Narr dastehen, wenn ich ihn nach einer Jagd durch halb Europa finden und er mich fragen würde, weshalb in drei Teufels Namen ich ihn suche.«

»Ich bin sicher – ganz sicher, daß es der rechte Weg ist. Er weiß etwas, und –«

»Und?«

»Hör' mich an, Arthur!« Flehend ruhten ihre blauen Augen auf ihm. »Lach' mich nicht aus – aber ich weiß, daß Du mich nicht auslachen wirst. Zwischen Zwillingen besteht eine tiefe, innerliche Verbindung. Nun denn: Nacht für Nacht ist es mir, als ob ich Kitty vor mir sähe und als ob sie sich bemühe, mir etwas mitzuteilen. Ich weiß, daß es sich um Sinclair handelt. Das Seltsame daran ist, daß er sich in Gefahr zu befinden scheint, daß er der Hilfe bedarf, und dabei sind wir es, die hilfsbedürftig sind.«

Barrats Gestalt straffte sich.

»Versucht sie nicht, Dir noch eine andere Botschaft zukommen zu lassen?« Die Erinnerung an die Anschuldigung seiner Braut wurde wieder in ihm lebendig.

Madeline verstand ihn und sie schüttelte traurig den Kopf.

Nach kurzem Stillschweigen sagte Barrat: »Ich halte es für zwecklos. Das sind krankhafte Phantastereien. Wenn man ihn überhaupt zurückbringen kann, so ist die Polizeidirektion am ehesten dazu imstande. Ich werde mit Herrn Kenyon darüber reden.«

»Ach, wenn ich doch ein Mann wäre! Ich bin überzeugt davon, daß Georges Leben daran hängt.«

»Gut denn, ich werde reisen. Im Falle eines Erfolges werde ich Dir sofort telegraphieren. Zuerst werde ich Kenyon mit den Schritten betrauen, die Du hier getan wünschest, und dann sofort abreisen. Ich erinnere mich jetzt, daß Sinclair mir auftrug, mich gegebenenfalls an seinen Sekretär zu wenden.«

»Siehst Du,« sagte Madeline, »er ahnte den Lauf der Dinge voraus. Ich danke Dir, Arthur, Du vergiltst Böses mit Gutem.«

Er verabschiedete sich rasch, um nicht in Gefahr zu geraten, seinen Entschluß wieder umzustoßen. Im Grunde genommen war diese Expedition ja doch ein lächerliches Unternehmen. Da er es aber Madeline einmal versprochen hatte, so sollte die Reise auch mit einem Erfolg enden.

Er fuhr in einem höllischen Tempo in die Stadt zurück und hielt kurz vor zehn Uhr vor Kenyons Haus. Aus den Fenstern des Studierzimmers drang Licht. Der Schriftsteller war also zu Hause. Auf sein Läuten öffnete ihm Kenyon persönlich. Ueber seinem Smoking trug der Dramatiker einen Schlafrock.

»Treten Sie ein,« sagte er zu Barrat. »Ich habe die Dienstboten zu Bett geschickt. Es ist nicht schwer zu erraten, was Sie herführt.« Seine Stimme klang ernst. »Nehmen Sie einen Whisky, Sie sehen abgespannt aus.«

»Danke.« Barrat sah sich in dem prächtigen Arbeitszimmer, das oft von Interviewern beschrieben worden war, um.

»Wo waren Sie seit der Verhandlung?«

»Ich brachte Madeline und ihrer Mutter Nachricht über den Ausgang des Prozesses.«

»Wie nahmen die Damen sie auf?«

»Schlecht. Sie wollen nicht an seine Schuld glauben. Sie wissen, wie Frauen sind. Madeline beabsichtigt, Anthony im Gefängnis aufzusuchen. Ferner wünscht sie, daß wir ein Gnadengesuch in die Wege leiten.«

»Ich fürchte, daß das fruchtlos sein wird. In solchen Fällen kann der Angeklagte kaum auf Gnade rechnen. Eine schreckliche Sache. Ich kann mich selbst nicht an den Gedanken gewöhnen, daß er schuldig sein sollte. Was ist Ihre Ansicht?«

»Meiner Ansicht nach ist der Schuldbeweis vollkommen lückenlos.«

Kenyon beugte sich vor, seine Zigarre in der Hand. »Alles schön und gut und doch glaube ich nicht, daß er es getan hat.«

Barrat fuhr auf. »Sie halten ihn nicht für schuldig?«

»Nein. Wie Sie wissen, befasse ich mich seit Jahren beruflich mit dem Studium von Verbrechen und Verbrechern. Glauben Sie mir, George ist nicht fähig, jemandem die Kehle durchzuschneiden. An der Schwangerschaft mag er schuld sein. Er ist sicher eine schwache Natur, die ihren Trieben keinen Widerstand entgegensetzen kann, aber bestimmt kein Mörder. Was soll nun geschehen?«

»Er wird wohl berufen, aber es ist ganz aussichtslos. Merkwürdig ist Sinclairs Verschwinden.«

»Verschwinden? Er ist tot!«

»Gestorben? Wann? Wo?«

»Die Polizei nimmt es wenigstens an. Man sagt, daß er in Konstantinopel umgebracht worden sei. Freilich ist alles in ein mystisches Dunkel gehüllt.«

»Seltsam! Denken Sie sich nur, Madeline wünscht, daß ich ihm nachreisen und ihn zurückbringen soll.«

»Sie? Ihn zurückbringen? Zu welchem Zwecke denn?«

»Weiß ich selbst nicht. Sie hat sich in den Kopf gesetzt, daß Sinclair Anthony retten könne, – daß er etwas wisse, was kein anderer weiß.«

»Unsinn. Wenn er wirklich etwas gewußt hätte, würde er doch selbstverständlich vor seiner Abreise das Geheimnis der Polizei enthüllt haben.«

»Ich habe es nun einmal Madeline versprochen.«

Der Dramatiker zuckte die Achseln. »Na, wie Sie glauben. Allerdings wären Sie hier vielleicht nützlicher gewesen. Sie werden doch wohl vorher Boyce aufsuchen?«

»Nein, man könnte mir Schwierigkeiten in den Weg legen. Ich werde nur noch mit Sinclairs Sekretär sprechen. Mein Paß ist in Ordnung, ich kann sofort abreisen. Sie werden wohl die Güte haben, sich mit dem Minister des Innern in Verbindung zu setzen?«

»Aber gewiß, lieber Freund, ich kenne ihn persönlich. Was kann ich ihm allerdings sagen? Ich werde eine ziemlich lächerliche Rolle spielen. Schließlich kann ich ihm doch schwer sagen, daß mir ein gewisses innerliches Gefühl wichtiger ist, als das ganze Beweisverfahren.«

»Ich sehe jedenfalls nicht, was ich hier noch weiter tun kann,« sagte Barrat aufstehend. »Werden Sie Madeline auch die Erlaubnis erwirken, George zu besuchen? Sie legt größten Wert darauf.«

»Gewiß,« sagte Kenyon.

Plötzlich gellte die Hausglocke durch die Stille. Beide Männer zuckten zusammen.

Kenyon öffnete die Haustür. Barrat stand ein paar Schritte hinter ihm. Ein riesiger Polizist stand draußen. Barrat unterdrückte mit Mühe einen Schrei.

»Gehört der Wagen hier Ihnen?« fragte der Polizist.

»Sie können ihn doch nicht die ganze Nacht draußen stehen lassen. Das ist gegen die Vorschrift.«

Kenyon lachte. »Geht in Ordnung. Mein Freund geht ohnehin schon.«

Er sah Barrat voll in die Augen und reichte ihm die Hand. »Gute Nacht! Ich werde tun, was ich kann.«

Barrat ließ ein Geldstück in die empfangsbereite Hand des Auges des Gesetzes gleiten und kletterte in seinen Wagen. Als er in die dunkle Nacht hineinsauste, hatte er den unbestimmten Eindruck, als stünde eine hohe Gestalt schwarz gegen das Licht der Eintrittshalle, regungslos und drohend.


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