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Frau Lake bewohnte zusammen mit ihren Töchtern Kitty und Madeline eine Wohnung in dem Londoner Stadtviertel St. John's Wood. Ihre Lebensanschauung gipfelte darin, genug damit geleistet zu haben, die beiden Mädchen in die Welt zu setzen und aufzuziehen, und daß sie nunmehr damit rechnen könne, daß ihre Kinder ihr nicht nur töchterliche Liebe entgegenbrächten, sondern nach dem Tode ihres Gatten auch für ihren Unterhalt sorgten.
Der selige Herr Lake hatte bei seiner Reise ins bessere Jenseits bedauerlicherweise daran vergessen, seiner Familie irdische Güter zu hinterlassen. Er hatte Zeit seines Lebens auf sein Glück und seine künstlerischen Fähigkeiten vertraut, welch letztere jedoch seitens des Kunsthandels keine rechte Würdigung erfahren hatten. Er hinterließ nichts als Schulden und einen Kreis treuer Freunde verschiedener Nationalität, die ihm einen vollen Tag nachtrauerten.
Einer von diesen hatte immerhin genug Interesse für die Familie gezeigt, um Kitty zum Eintritt in die Bühnenlaufbahn zu verhelfen, und schon in der ersten Rolle, die sie spielte, einer Kinderrolle, hatte sie Talent und Intelligenz bewiesen, und eines Tages war dann plötzlich der große Erfolg gekommen, auf den jede Schauspielnovize wartet und den so wenige erreichen.
Frau Lake freute sich dieses Erfolges nicht nur wegen des Abglanzes, der vom Ruhme ihrer Tochter auf sie fiel, sondern auch wegen der materiellen Annehmlichkeiten, die ein gesichertes Einkommen mit sich brachte. Ihre einzige Furcht war die, daß die Mädchen eines Tages Sehnsucht nach einem eigenen Heim verspüren und sie als eine einsame, verlassene, alte Frau zurücklassen würden.
Ihre Töchter waren Zwillinge und einander so ähnlich, wie Zwillinge überhaupt nur sein können. Frau Lake hatte in ihrem Klub mehr als einmal scherzend gesagt, daß, wenn Kitty einmal plötzlich krank würde, Madeline ohneweiters auf die Bühne spazieren und Kittys Rolle spielen könne, ohne daß jemand etwas merken würde.
Kitty verdiente viel Geld und hatte eine große Zukunft. Madeline war das schwerere Los zugefallen. Sie führte den Haushalt und tat ihre Arbeit pflichteifrig und unverdrossen, so daß die Mutter ein angenehmes und unbeschwertes Leben führen konnte, hinreichend Zeit zu ihrer täglichen Bridgepartie im Klub hatte und überhaupt mit sich und der Welt in Frieden lebte. Mama Lake war eine wohlerhaltene weißhaarige Dame mit einigen kleineren Leiden, auf die sie auf bescheidene Art stolz war.
Die Zwillinge waren reinrassige, blauäugige Blondinen. Ihre Haut war zart und helltönig und ihre feingeschwungenen Lippen drückten Temperament und Weichheit aus. Sie schienen dazu geschaffen zu sein, an Sommerabenden lässig in einem Boot hingestreckt die Themse hinaufzufahren und die Winternächte durchzujazzen; aber ein solches Urteil hätte nicht das Nichtige getroffen. Sie hatten beide Charakter, Energie und sehr viel Zielbewußtsein. Kitty hatte das bei ihrer Arbeit auf der Bühne bewiesen und sich weder von den Verführungen des Films noch dem exotischen Reiz der Revue bestricken lassen. Sie ging den geraden Weg, Höchstes im Sprechstück zu erreichen.
Als Madeline ihrer Mutter eines Tages einfach ankündigte, daß sie sich mit Arthur Barrat verlobt habe, ließ sie sich von den Tränen und jammernden Bitten ihrer Mutter durchaus nicht erweichen.
»Was weißt Du überhaupt von ihm, mein Kind? Und was soll aus mir werden? An Deine Mutter hast Du wohl überhaupt nicht gedacht? Die jungen Leute sind heutzutage so egoistisch.«
Madeline hatte geduldig zugehört – viele Male. Kitty stand ganz auf ihrer Seite; die Schwestern waren immer einig.
Als Arthur Barrat persönlich auf der Bildfläche erschien, ein anständiger, gut aussehender, erfolgreicher Geschäftsmann, wurde Frau Lakes Haltung etwas versöhnlicher. Er war Juniorchef einer Cityfirma und gab zu verstehen, daß Madeline und er ja schließlich keine besondere Eile hätten. Uebrigens brauchte man sich auch nach der Verheiratung nicht von der Mutter zu trennen. Hiemit war das Eis gebrochen und Frau Lake war mit einem Male Feuer und Flamme für die Sache.
»Wirklich ein sehr netter, junger Mann,« verkündete sie am nächsten Tag ihren Klubfreundinnen. »Und die Firma ist ausgezeichnet fundiert. Er hat mich so gern, und Sie können sich meine Gefühle vorstellen, wo ich mir doch immer einen Sohn gewünscht habe.«
Und diesen friedlich dahinlebenden Haushalt traf der furchtbare Schlag.
Madeline war morgens ausgegangen, um die Einkäufe für den Tag zu besorgen und sah die Ueberschriften der Morgenzeitungen.
In der Verwirrung, die am Abend vorher in Kenyons Landhaus geherrscht hatte, war vergessen worden, die Familie telegraphisch zu benachrichtigen.
Madeline kaufte eine Zeitung und fühlte, wie ein dumpfer Schmerz ihr Herz erfaßte. Die gutmütige Geschäftsinhaberin brachte ihr einen Sessel und kaltes Wasser. Wie eine Geistesabwesende ging das Mädchen durch die Straßen, noch konnte ihr armes Gehirn das Geschehene nicht fassen. Es mußte, mußte ein Irrtum sein.
Sie fand ihre Mutter wie gelähmt auf dem Bett liegend. Während Madelines Abwesenheit war die Zeitung gekommen. Die alte Frau weinte wild, hemmungslos und jammerte unaufhörlich: »Kitty! Arme Kitty! Was wird aus uns werden!«
Madelines tapfere Besonnenheit kam ihr zu Hilfe. »Wir müssen Arthur anrufen,« sagte sie. Ein tiefes Bedürfnis nach männlichem Schutz war in ihr. »Es wundert mich, daß er noch nicht hier ist.«
Sie stand eben auf, um zu telephonieren, als die Wohnungsglocke läutete. Es war Herr Kenyon. Er reichte beiden Frauen in stillem Beileid die Hand. Ein Blick genügte ihm, um zu erkennen, daß er zu spät gekommen war. Es war seine Absicht gewesen, die schreckliche Nachricht als Erster schonend zu überbringen.
»Erzählen Sie uns … alles!« Frau Lakes Stimme klang tonlos. »Wir wissen nichts als die nackte Tatsache. Wie herzlos diese Zeitungen darüber schreiben!«
Kenyon berichtete den Hergang so schonend als möglich. Und doch empfand er die Furchtbarkeit der Mordtat wieder aufs neue, als er diese armen, schutzlosen Frauen an seinen Lippen hängen sah.
»Das arme Kind – sie hat doch in der ganzen Welt keinen Feind gehabt,« schluchzte Frau Lake.
»Sicherlich nicht,« antwortete er. »Nur ein Wahnsinniger kann diese teuflische Tat begangen haben.«
Madeline fiel ein: »Wir sind erstaunt darüber, daß Arthur noch nicht hier ist. Ich hatte erwartet, daß er sofort kommen werde.«
»Ich werde ihn für Sie anrufen, wenn Sie es wünschen,« sagte Kenyon und ging zum Telephon. »Ist Herr Barrat im Bureau?« fragte er, als er mit der Nummer verbunden worden war.
»Wer spricht, bitte?« kam die Antwort.
»Robert Kenyon. Ich möchte Herrn Barrat in einer äußerst wichtigen Angelegenheit sprechen.«
»Herr Barrat ist seit zwei Tagen nicht im Bureau gewesen. Wir wissen nicht, wo er ist, wahrscheinlich im Ausland. Er reist sehr viel für die Firma … Nein, er hat kein Telephon zu Hause …«
Kenyon legte das Hörrohr nieder.
»Es ist äußerst unangenehm, daß er in einer solchen Zeit verreist ist,« sagte er.
»Wir werden wohl gleich nach Littleworth fahren müssen,« meinte Madeline müde.
»Zuerst will ich mich mit der Polizei in Verbindung setzen,« entgegnete Kenyon, dann flüsterte er Madeline zu: »Der Körper ist bis nach Beendigung der Leichenbeschau von der Polizei beschlagnahmt worden.« Frau Lake hatte seine Worte gehört.
»Wie entsetzlich! Daran hatte ich gar nicht gedacht! Und all das Gerede und die Zeitungsartikel!«
»Gewiß, es ist schrecklich,« sagte Kenyon, »aber Sie müssen versuchen, tapfer zu sein, um das Unvermeidliche gefaßt zu ertragen. Ich werde meinen ganzen Einfluß geltend machen, damit alles so schonend wie möglich vor sich geht.«
»Wo Arthur nur hingefahren sein mag?« fragte Madeline plötzlich. »Er hat uns doch sonst immer verständigt.«
»Ich denke nach Frankreich oder Belgien. Sie wissen ja, daß er oft geschäftlich dort zu tun hat.«
Madeline sah ihn zweifelnd an.
»Auch für ihn wird es ein schrecklicher Schlag sein,« jammerte Frau Lake. »Sie müssen wissen, daß er die arme Kitty beinahe so gerne hatte, wie seine Braut, wenn auch natürlich nicht ganz so.«
Diese Worte berührten Kenyon seltsam, obgleich er eigentlich nicht wußte weshalb, und er studierte intensiv Madelinens Gesichtsausdruck.
»Ihre beiden Töchter waren einander in der Tat sehr ähnlich, sowohl äußerlich als im Charakter.« Er sagte dies zu Frau Lake, sah aber dabei Madeline prüfend an. Sie saß steil aufgerichtet in ihrem Sessel, mit geballten Fäusten und ein seltsam gespannter Ausdruck lag in ihren Augen.
»Ich fürchte, ich muß jetzt gehen, gnädige Frau,« sagte Kenyon aufstehend. »Mein erster Weg war zu Ihnen, um Ihnen die furchtbare Nachricht womöglich beizubringen, bevor Sie durch die Zeitung davon erführen. Meine Frau liegt zu Hause darnieder, in einem solchen Aufregungszustand, daß ich eine Pflegerin für sie bestellt habe. Ich kann sie nicht lange allein lassen.«
»Es war sehr schön von Ihnen, daß Sie gekommen sind, um so mehr, als wir niemanden haben, der uns zur Seite steht. Ich verstehe vollkommen, daß Sie zu Ihrer Frau zurück müssen,« sagte Frau Lake. Madeline saß noch immer unbeweglich da, ihre Augen sahen ins Leere, ihren Kopf hatte sie in die Hand gestützt.
»Noch eines, gnädige Frau,« sagte Kenyon bei der Türe. »Ich würde an Ihrer Stelle nicht in London bleiben. Ein Heer von Reportern und Zeitungsphotographen wird sich auf Sie stürzen. Könnten Sie und Ihre Tochter nicht die Stadt auf eine Zeitlang verlassen?«
»Wohin sollen wir gehen,« antwortete sie hilflos. »Und woher sollen wir das Geld nehmen? Wir waren auf den Verdienst meiner armen Kitty angewiesen.« Sie brach wiederum in Tränen aus.
Kenyon zögerte einen Moment. »Einer meiner Freunde hat ein kleines Wochenendhäuschen in Shoring, das mir jederzeit zur Verfügung steht. Es ist sehr ruhig dort und das Meer ist nur ein paar Schritte entfernt. Wie wäre es, wenn Sie dorthin gingen? Ich würde Sie in meinem Wagen hinbringen lassen, und Sie brauchen niemand zu verständigen als die Polizei. Schon allein die Luftveränderung würde wohltuend auf Sie wirken.«
Madeline blickte endlich auf: »Es ist wirklich zu lieb von Ihnen, Herr Kenyon. Mama und ich nehmen mit tausend Dank an.«
»Hier ist die Adresse,« sagte Kenyon. »Ich werde der Frau, die das Häuschen beaufsichtigt, sofort telegraphieren, so daß Sie alles bereit finden werden. Gleichzeitig verständige ich die Polizei von Ihrem Aufenthaltsort. Der Wagen wird Sie heute nachmittags abholen und Sie können unterwegs Littleworth besuchen.« Er senkte die Stimme. »Sie werden die Tote noch einmal sehen wollen. Vermutlich wird Ihnen die Polizei die Erlaubnis dazu geben.«
Nachdem er gegangen war, wandte sich Frau Lake an Ihre Tochter. »Du glaubst wirklich, Kind, daß wir weggehen sollen, wo doch Arthur jeden Moment hier sein kann? Wird er nicht böse darüber sein, daß wir das von Herrn Kenyon annehmen?«
Leidenschaft zuckte plötzlich in Madelines Zügen auf. »Wenn er es für richtig hält, uns in einem solchen Augenblick zu verlassen, so kann er uns nicht tadeln, wenn wir die Hilfe anderer Leute annehmen. Er wird uns schon zu finden wissen, falls ihm daran gelegen ist.«
»Wahrscheinlich hast Du recht, Kind,« sagte Frau Lake schwach. »Es wird eine Erleichterung für uns sein, von hier wegzukommen, um der Meute der Zeitungsmenschen zu entgehen.«
Am Nachmittag kam Kenyons Wagen. Es war in der Tat eine Erleichterung für die Frauen, wegzukommen. Schon kamen die ersten Besucher und wollten nicht glauben, daß sie ausgegangen seien. Die Wohnung war gleichsam im Belagerungszustand. Das Telephon läutete ununterbrochen und aufdringliche Menschen fragten nach intimen Details.
Die sausende Fahrt durch den Sommernachmittag erweckte ihre Lebensgeister ein wenig, bis der Anblick des Polizeigebäudes in Ketworth ihnen die Tragödie, die sie betroffen hatte, wieder zur furchtbaren Wirklichkeit werden ließ.
Sergeant Curtis war eine gute Seele und führte sie taktvoll in ein Privatzimmer im Bell Hotel, wo sie in Ruhe sprechen konnten.
Die beiden Frauen waren nicht in der Lage, Mitteilungen zu machen, die Licht in das Dunkel des Verbrechens hätten bringen können; sie beschränkten sich darauf, eine Darstellung ihres bisher so wenig ereignisreichen Lebens zu geben.
»Sie haben also keinen Verdacht, gnädige Frau?« fragte Curtis schließlich.
»Nicht den geringsten, Herr Curtis. Es ist ganz, wie Herr Kenyon sagte: Nur ein Wahnsinniger kann es getan haben.«
»Und Sie, Fräulein Lake?« Zum Erstaunen ihrer Mutter antwortete Madeline:
»Ich möchte lieber nichts darüber sagen.«
»Es ist aber sicherlich Deine Pflicht, mein Kind, dem Herrn Beamten gegenüber ganz offen zu sein, wenn Du auch nur die Spur eines Verdachtes hast.«
Madeline wandte sich mit einer jähen Bewegung ihrer Mutter zu: »Mehr kann ich nicht sagen. Es ist die Aufgabe der Polizei, den Täter ausfindig zu machen.«
Eine peinliche Pause entstand, die Sergeant Curtis mit den Worten beendete: »Sie wollten nach Littleworth hinüber. Ich werde Sie begleiten, damit man Ihnen keine Schwierigkeiten macht.«
Ein Anbau des Gasthauses »Zur Epheuranke« diente als provisorische Leichenkammer und hier sahen sie Kittys entseelte Hülle. Die Tote lag wie im ruhigen Schlaf versunken da, schön und zart wie eine Blume.
Sergeant Curtis gab es einen förmlichen Ruck, als er die tote und die lebende Schwester in ihrer außerordentlichen Aehnlichkeit nebeneinander sah. Madeline war seltsam ruhig und beherrscht und führte ihre Mutter sanft zu dem wartenden Wagen. Während der ganzen Fahrt zum Meer und selbst als sie ihre gramgebeugte Mutter in das Haus führte, sprach sie kein einziges Wort.
Das Licht war aus ihrem Leben verschwunden und weit und breit war nichts zu sehen, das ihr Trost bedeuten konnte.