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Wie so mancher mit dem Fluch der Phantasie begabte Mensch hatte sich auch George Anthony zuweilen auszumalen versucht, wie einem zum Tode Verurteilten, der in der Armensünderzelle seinem letzten Stündchen entgegenbebt, zu Mute sei. Nun war der Traum zur bitteren Wirklichkeit geworden. Seine erste Empfindung war ein Gefühl der Erleichterung nach der Tortur der Verhandlung. Er hatte nur den einen Wunsch: allein zu sein. Aber selbst dieser wurde ihm verweigert. Zwei Aufseher brachten Tag und Nacht in der Zelle zu, um zu verhindern, daß er den Henker betrüge. Sein gemartertes Hirn konnte zunächst die tragische Wirklichkeit gar nicht erfassen und er lag auf dem harten Bett, unfähig zu sprechen oder sich zu bewegen. Wie im Delirium wandte sich sein Geist dem Tode des Sokrates, dem selbstgewählten Ende durch den Giftbecher zu. Wie leicht mußte es doch sein, im Kreise seiner Freunde würdevoll den Tod herbeizurufen! Dann plötzlich, in einer einzigen Sekunde zerrissen die Nebel, die um seine Seele lagerten und die grausame Vision des Galgens im Morgengrauen lag in unerträglicher Kraßheit vor ihm.
Die Nahrung, die man ihm brachte, ließ er unberührt stehen. Die Aufseher waren schweigsam, aber taktvoll. Sie waren an solche Dinge gewöhnt und im Grunde ihrer Seele standen sie innerlich meist auf Seiten des armen Menschenkindes, das sie zu bewachen hatten.
Der Geistliche kam, ein gütiger Mann. Er sprach weder über Religion, noch über die hoffnungslose Lage des Verurteilten, sondern über gleichgültige Dinge. Könnte er etwas für Anthony tun? Wünschte Anthony jemandem zu schreiben? Dann kam der Gefängnisdirektor, dann der Arzt und Anthony war froh, als die eisenbeschlagene Tür sich wieder hinter ihnen schloß.
Seinen täglichen Spaziergang machte er allein, in der Kirche saß er gleichfalls abgesondert von den anderen Häftlingen und hie und da richtete sich ein neugieriger Blick auf ihn wie auf ein fremdartiges Tier.
Der Advokat Forbes kam, um die Berufung mit ihm zu besprechen, aber es war klar, daß er diese Formalität für eine nutzlose Zeitvergeudung hielt. Am meisten lag ihm augenscheinlich die Sorge um sein Honorar am Herzen.
So verrannen die Tage. Zuweilen packte Anthony wilde Verzweiflung und er fürchtete, den Verstand zu verlieren. Er spielte mit dem Gedanken, seine Berufung zurückzuziehen, damit alles rascher vorbei sei. Dann kamen wieder Tage völliger Apathie, an denen ihm alles gleichgültig war.
Eines Vormittags betrat der Gefängnisdirektor seine Zelle, begleitet von dem Oberaufseher.
»Es liegt ein Gesuch vor, Sie besuchen zu dürfen, Anthony,« sagte der Direktor. »Wünschen Sie jemanden zu sehen?«
»Wer ist es, Herr Direktor?« fragte er.
»Ein gewisses Fräulein Madeline Lake,« antwortete der Direktor langsam und sah dem Häftling voll in die Augen. Es war ein seltsames Verlangen für die Schwester eines ermordeten Mädchens, den Mörder zu besuchen und der Direktor fragte sich, ob er wohl eine solche Begegnung aus eigener Machtvollkommenheit gestattet hätte. Da aber die Bewilligung direkt vom Minister des Innern kam, trug er keine Verantwortung und war froh darüber.
Anthony fuhr auf. Was um Himmels willen wollte Madeline von ihm? Ihm die Ermordung ihrer Schwester vorwerfen? Min, so war sie nicht. Oder wollte sie ihm sagen, daß sie ihm vergebe? Das wäre unerträglich.
»Aus welchem Grunde wünscht sie mit mir zu sprechen?« fragte er.
»Das weiß ich nicht. Sie richtete ein Gesuch an den Minister des Innern.«
Anthony dachte einen Augenblick nach. Schließlich und endlich war jetzt alles gleichgültig. Da sie sich einmal die Mühe genommen hatte, konnte er nicht nein sagen.
»Ja, ich will sie sprechen,« sagte er.
»Gut.« Der Direktor erteilte dem Oberaufseher eine Weisung und verließ die Zelle.
Anthony wurde in einen kleinen Raum geführt, der durch eine Art Barriere in zwei Teile geteilt war. Auf der einen Seite wartete er mit einem Aufseher. Eine Tür öffnete sich und Madeline trat ein.
Anthony stand aus und trat einen Schritt auf seine durch die Barriere von ihm getrennte Besucherin zu. Madeline war zweifellos tief erschüttert, erschien aber äußerlich ruhig. Ohne jede Einleitung sagte sie: »George, ich hoffe, daß Sie nicht böse darüber sind, daß ich gekommen bin. Es drängte mich unwiderstehlich, Sie aufzusuchen und Ihnen zu sagen, daß Mutter und ich von Ihrer Unschuld ganz, ganz tief überzeugt sind. Wir sind sicher, daß ein Justizirrtum geschehen ist und wir beten zu Gott, daß Ihre Unschuld durch ein unerwartetes Ereignis an den Tag kommen möge. Sie glauben uns doch, nicht wahr, George?«
Es dauerte einige Augenblicke, bevor Anthony seine Stimme genügend in der Gewalt hatte, um antworten zu können.
Dann sagte er: »Ich danke Ihnen. Es ist edel von Ihnen hierhergekommen zu sein und es ist mir eine große Erleichterung, zu wissen, daß wenigstens Ihr mich für unschuldig an diesem furchtbaren Verbrechen haltet.«
Er schwieg. Was war da weiter zu sagen? Es war so schwer, die richtigen Worte zu finden. Hilfe war ja doch nicht möglich!
»Ist jemand mit Ihnen herausgekommen?« fragte er, um nur etwas zu sagen.
»Herr Kenyon erbot sich, mich zu begleiten, aber er hat seine eigenen Sorgen und ich lehnte ab. Und Arthur …«
»Herr Barrat?« sagte Anthony kalt.
»Ja. Er benimmt sich wunderbar. Auf meine Bitte ist er abgereist, um Herrn Sinclair womöglich zurückzubringen. Wenn er ihn doch finden würde!«
In Anthonys Erinnerung tauchte plötzlich sein letztes Gespräch mit Sinclair auf. Damals hatte er nicht verstanden, was der Detektiv mit den Worten: »Wenn immer Sie mich brauchen werden, rufen Sie mich« gemeint hatte. Es fiel ihm ein, daß Sinclair ihn damals so seltsam angesehen hatte. Lag hinter all dem vielleicht ein Geheimnis verborgen?
Jäh kehrte Hoffnung in sein Herz zurück und machte ihn schwindeln. Er wäre gefallen, wenn ihn der rasch herbeieilende Aufseher nicht gehalten hätte.
»Es ist schon wieder vorbei, Aufseher,« sagte er. Dann wandte er sich an Madeline: »Das ist schön von Herrn Barrat, wenn ich auch nicht recht einsehe, zu was es gut sein soll.«
»Sobald er ihn findet, telegraphiert er uns.«
Ein peinigendes Schweigen entstand. Es gab nichts mehr zu sagen. Mit Mühe hielt sich Madeline aufrecht und reichte Anthony zum Abschied die Hand, die dieser stumm drückte.
Dann winkte er dem Aufseher, der aufstand und die Türe öffnete. Ein leiser Aufschrei Madelines klang ihm in den Ohren, als sich die Türe hinter ihm geschlossen hatte.
Schon schien sich das Grab unter seinen Füßen zu öffnen.
»O Gott im Himmel,« ächzte er in seinem Bett, »muß es denn sein? Dann laß mich es tragen wie ein Mann!«