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14. Kapitel.
Konstantinopel.

Inspektor Sinclair spazierte langsam über die neue Galata Brücke von Stambul nach Pera. Er hatte sein Gepäck in das Pera Palace Hotel vorausgesandt, er selbst aber zog es vor, zu Fuß zu gehen, um das bunte Gewühl von Menschen aller Rassen in Muße studieren zu können. Ein Gewirr von fünfzig verschiedenen Sprachen durchschwirrte die Luft. Auf der einen Seite dehnte sich das Goldene Horn aus, das das alte mohammedanische Stambul von dem modernen Pera trennt, auf der anderen Seite erstreckte sich der Bosporus, mit Schiffen und Booten übersät.

Sinclair stieg die steilen Stufen hinauf, die zur Rue de Pera emporführen. Teppiche und Bilder und hunderterlei bunter Kram standen in den Geschäften zur Schau. Lebhaft gestikulierend drängten einander die Türken, Juden, Griechen, und kohlschwarze Neger. Das vielfarbige Bild war für einen Mann wie Sinclair, der seit Jahrzehnten gewohnt war, die Spezies Mensch in all ihren Abarten zu studieren, von ungewöhnlichem Reiz.

Das Pera Palace Hotel war wieder Europa. Man hätte genau so gut in Paris, Berlin oder Wien sein können, alles war ›up to date‹, die Preise nicht ausgenommen. Sinclair hatte Stevens, den Leiter der englischen Geheimpolizei, von seiner Ankunft benachrichtigt und eine Zusammenkunft mit ihm im Hotel vereinbart.

Die beiden Männer kannten einander bereits und begrüßten sich aufs herzlichste. Bald saßen sie vor einem fürstlichen Mahl, denn Stevens war ein Epikuräer.

»Wie lange haben wir uns eigentlich nicht gesehen?« sagte Stevens. »Es kommt mir vor wie ein Jahrhundert. Ich lese in den Zeitungen oft Berichte über Ihre Leistungen. Sie sind ja wahrhaftig inzwischen ein richtiges ›großes Tier‹ in Scotland Yard geworden.«

»Kann sein,« sagte Sinclair, »aber oft sehne ich mich nach den alten Zeiten in Indien zurück, wo wir doch hie und da unser Leben einsetzen mußten. Damals hatte das Dasein noch Reiz. England ist zivilisiert; die Mörder benehmen sich bei uns wie die Pfarramtskandidaten und schluchzen bei der Verhandlung wie die jungen Mädchen.«

Der andere lachte. »Sie sind der alte geblieben. Aber apropos Gefahr,« er beugte sich vor und senkte die Stimme, »die Sache, mit der Sie sich da befassen sollen, ist eine mächtig kitzlige Angelegenheit. Sehen Sie, der Rajah ist märchenhaft reich und hat einen ganzen Stab von Geheimagenten. Wenn es sich herausstellt, daß er Mörder gedungen hat, um diesen Ali um die Ecke bringen zu lassen, so bedeutet das das Ende seiner Regierung. Schwupp, weg mit ihm! Und er ist sich dessen bewußt.«

»Man hat mir das in London erzählt, aber – – –«

»Pst! nicht so laut! Die Musik hat aufgehört zu spielen.«

»Sehen Sie,« fuhr Sinclair mit gedämpfter Stimme fort, »möglicherweise steckt der Rajah gar nicht dahinter. Nach unseren letzten Informationen sieht es ganz danach aus. Man glaubt jetzt, daß das Mädel, die Zania, nach dem Mord an ihrem Vater über die Grenze geschmuggelt wurde und am Bosporus irgendwo in Therapia versteckt gehalten wird. Wir versuchen, sie aufzuspüren. Dieser Forester, der in den letzten fünf Jahren in alle dunklen Affairen in Indien verwickelt war, scheint auch diesmal wieder die Hand im Spiel zu haben. Wir könnten der indischen Regierung keinen größeren Gefallen erweisen, als den Kerl dingfest zu machen.«

»Sie glauben also, daß er das Mädchen hierher verschleppt hat?«

»Es gibt meiner Ansicht nach zwei Möglichkeiten: Entweder er selbst hat sie hierher gebracht, um sich ihres riesigen Erbes zu bemächtigen, oder ihre Freunde haben sie nach Konstantinopel in Sicherheit gebracht, um sie den Fängen dieses Raubvogels zu entziehen. Auf jeden Fall bedeutet es höchste Gefahr für Sie, wenn man erfährt, daß wir ihr auf der Spur sind. Die Wasser des Bosporus sind tief und so mancher ist schon in ihnen verschwunden.«

»Meinen Sie, daß ich versuchen sollte, mich mit ihr in Verbindung zu setzen?«

»Das wäre vollkommen zwecklos. In der Sache kann kein Europäer etwas ausrichten. Wir haben eine sehr gescheite kleine Armenierin in unserem Dienst. Der Klatsch in den Harems ist grenzenlos und sie ist am ehesten in der Lage, den Aufenthaltsort Zanias ausfindig zu machen.«

»Ich kann also hier gar nichts tun?«

»Doch. Hinter dieser ganzen Geschichte steckt sicher dieser Forester. Er hält sich verborgen und Sie sollten versuchen, sein Versteck ausfindig zu machen. Kommen Sie in das Rauchzimmer, wir können dort ungestört sprechen.«

Sie standen auf und gleichzeitig erhoben sich vom Neben-Tisch ein Mann und eine Frau. Sinclair warf einen scharfen Blick auf das Paar, denn bei solchen Gelegenheiten erschien ihm alles verdächtig. Der Mann war von südlichem Typus, wahrscheinlich ein Grieche, das Gesicht der Frau konnte er nicht sehen.

Sinclair und Stevens besprachen bei einer Tasse Kaffee die nächsten Schritte, und als Stevens sich verabschiedete, fragte Sinclair: »Gesetzt, wir finden sie. – Was dann weiter?«

»Dann beginnt Ihre eigentliche Aufgabe. Sie müssen sie nach Indien bringen und der dortigen Polizei bei der Enthüllung des Verbrechens behilflich sein. Inzwischen benehmen Sie sich möglichst unauffällig. Vor allem besuchen Sie mich um Gottes willen nicht in meinem Bureau.«

Als Sinclair in die Hall zurückkehrte, fiel sein Blick wieder auf den Griechen, der gerade seinen Zigarrenstummel an einer Säule ausdrückte. Er war ein gut gebauter Mann mit schwarzem Schnurrbart und sorgfältig zurückgebürstetem, glänzend schwarzem Haar. Der Detektiv prägte sich die Physiognomie für alle Fälle ein und begab sich nachdenklich zur Ruhe.

Den nächsten Tag verbrachte er damit, die schönsten Prunktempel Konstantinopels wieder einmal aufzusuchen. Als er gerade in die märchenhafte Schönheit der Hagia Sophia vertieft war, wurde er durch eine englisch sprechende Stimme mit leichtem fremden Akzent aus seiner stummen Bewunderung aufgeschreckt.

»Ein unvergleichliches Gebäude, nicht wahr? Ich bin das erstemal hier.«

Sinclair sah sich um und erkannte den Griechen vom vergangenen Abend. War sein Verdacht gerechtfertigt, so hätte es viel für sich, den Mann näher kennen zu lernen. Möglicherweise handelte es sich aber nur um einen ganz harmlosen Zufallsbesucher.

»Ich hoffe, Sie werden mir verzeihen, daß ich Sie so ohne weiteres anspreche. Aber in der Fremde hat man ja immer ein gewisses Mitteilungsbedürfnis. Mein Name ist Frangi, Hauptmann in der griechischen Armee.«

»Wirklich sehr angenehm,« sagte Sinclair lächelnd, »Ich heiße Fraser.« Unter diesem Namen war er im Hotel gemeldet.

»Ich kannte einen Offizier namens Fraser in der englischen Armee in Saloniki. Wohl kein Verwandter von Ihnen?«

»Nicht daß ich wüßte,« antwortete Sinclair behutsam.

»Eines Tages wird diese Kirche wieder ein christliches Gotteshaus werden. Die Türken haben sie uns mit Gewalt entrissen. Wenn man uns Griechen nach dem Krieg freie Bahn gelassen hätte, so würde man heute schon wieder Christus hier anbeten statt Allah.«

Sinclair fand seinen neuen Bekannten interessant. Sein Verdacht schien sich als grundlos zu erweisen.

»Haben Sie etwas Besonderes vor?« fragte Frangi.

»Eigentlich,« sagte Sinclair, »wollte ich mir die Katakomben hier in der Nähe anschauen, das heißt, genau genommen, ist es ein Reservoir. Man hat mir gesagt, daß das etwas ganz Merkwürdiges sein soll. Tief unter der Erde, von mächtigen Säulen getragen. Es stammt aus der grauen Vorzeit. Man kann meilenweit in der Dunkelheit wandern und kommt doch nicht ans Ende.«

»Das klingt ja direkt aufregend. Schauen wir uns das an,« sagte Frangi mit knabenhaftem Eifer.

Sie machten sich auf den Weg zur steinernen Hütte, von der aus man in die schwarze Tiefe hinabsteigt. Der türkische Aufseher sah sie zweifelnd an und murmelte etwas von einem Führer, – es sei gefährlich, allein zu gehen. Es gäbe da Löcher von unerforschlicher Tiefe, in die man fallen könne.

»Sprechen Sie türkisch?« fragte Frangi.

»Nicht ein Wort,« log Sinclair.

Frangi richtete einige Worte an den türkischen Aufseher, der mit einem Wortschwall antwortete. Wenn die Herren sich auf der rechten Seite hielten, könne ihnen nichts passieren. Er empfahl, nicht zu weit vorzudringen und sich mit den Stöcken die Wand entlang zu tasten.

»Was sagt er?« fragte Sinclair harmlos.

»Er sagt, daß wir uns immer an der linken Wand halten müssen, dann könne uns nichts geschehen.«

Sinclair war über die Frechheit dieses Menschen überrascht und sein Verdacht kehrte mit doppelter Stärke zurück. Oder verstand Frangi nur schlecht türkisch und wollte lediglich mit seinen Sprachkenntnissen protzen? Einen Augenblick zögerte er. Er war in amtlicher Mission hier und hatte nicht das Recht, sich unnützen Gefahren auszusetzen, aber wenigstens wüßte er nachher über seinen sonderbaren Gefährten Bescheid. Er erklärte sich also bereit, mitzutun und sie stiegen die ausgetretenen Stufen in die Dunkelheit hinab.

Von oben drang durch spärliche Schächte schwaches, gespenstiges Licht. Der Boden war mit Abfällen von Jahrhunderten bedeckt. Sinclair war bereits einmal hier gewesen und er kannte die gefährlichen Stellen, aber er erwähnte seinem Begleiter gegenüber nichts von dieser Tatsache. Er hatte eine elektrische Taschenlampe bei sich und hielt sie in der Hand, jederzeit bereit, Licht aufflammen zu lassen.

Sie hielten sich an der linken Wand. Frangi sprach unaufhörlich. Ein nervöser Unterton schwang in seiner Stimme mit, der ebensogut Angst wie Erwartung bedeuten konnte.

Sinclair ging voran, bei jedem Schritt den Boden abtastend. plötzlich stieß er mit dem Stock ins Leere. Er blieb stehen. Instinktiv kehrte er sich rasch um und leuchtete seinem Gefährten voll ins Gesicht. In dieser einen Sekunde sah er einen Blick voll teuflischer Gier und ihm war, als ob Frangi eben im Begriff gewesen sei, sich auf ihn zu stürzen. Der Grieche stieß einen Schrei aus und packte Sinclair beim Arm.

»Was ist los? Sie haben mich erschreckt!«

Sinclairs Nerven waren aus Stahl und er drängte den anderen sachte zurück. »Hier ist eines von diesen ekelhaften Löchern,« sagte er ruhig. »Es ist ein bißchen riskant. Ich glaube, wir sollten umkehren und ein andermal mit einem Führer zurückkehren.«

So ungerührt seine Stimme klang, so erregt war er innerlich. Mit einemmal war ihm das Gesicht seines Begleiters seltsam bekannt vorgekommen.

»Warum haben Sie nicht gesagt, daß Sie eine Lampe haben,« sagte der Grieche in sauersüßem Tone. »Dann hätten Sie das Loch gesehen.«

Sinclair sah sich die Stelle noch einmal in Ruhe an; selbst er schauderte, als er unmittelbar vor sich diesen unheimlichen Abgrund sah. Ein Schritt weiter und er wäre unfehlbar hinabgestürzt.

Er hob einen Stein auf und warf ihn hinab; es dauerte geraume Zeit, bis er das undeutliche Plätschern des Wassers vernahm, auf das der Stein aufgefallen war. Sein Gesicht war steinern, als er sich umkehrte.

»Wer hier hinabfällt, den drückt kein Schuh mehr. Stellen Sie sich nur vor! In dieses dunkle Wasser zu fallen und verzweifelt in der Runde umherzuschwimmen, vielleicht schwer verletzt vom Fall, ohne Hoffnung auf Rettung.«

Der andere schwieg.

»Ich glaube wirklich, wir haben genug, was? Ein Spaß kann ganz nett sein, aber man darf ihn nicht zu weit treiben,« sagte Sinclair.

Endlich standen sie wieder draußen, geblendet vom hellen Tageslicht. Die frische Luft war ein Labsal nach dem Moderdunst dort unten. Sinclairs Verdacht war aufs höchste gestiegen, aber äußerlich tat er so, als habe er nichts bemerkt.

»Kommen Sie, lunchen wir hier in Stambul,« sagte er, »außer Sie legen Wert darauf, ins Hotel zurückzukehren.«

»Aber keine Spur. Es ist mir ein Vergnügen. Und Sie müssen mir gestatten, mich als Ihren Gastgeber zu betrachten.«

Man speiste in einem kühlen, schattigen Garten. Zu ihren Füßen breitete sich das märchenhafte Panorama des Bosporus aus. Die beiden Gegner, – denn es war Sinclair nur allzu klar geworden, daß er es mit einem Gegner und zwar einem sehr gefährlichen zu tun hatte, – tasteten einander gewissermaßen ab. Ein Beobachter hätte nichts anderes vernommen, als ein heiteres Gespräch über belanglose Dinge, aber dabei versuchte jeder, etwas über die wahre Person des Gegners in Erfahrung zu bringen. Als man aufstand, war Sinclair von drei Dingen überzeugt: Erstens, daß Frangi bereits wußte, wer der vermeintliche »Herr Fraser« sei, zweitens, daß Frangi nicht der richtige Name des Mannes sei, und drittens, daß er um ein Haar in dem Reservoir sein Grab gefunden hätte.

Er überlegte, ob es besser sei, sogleich zu Stevens zu gehen und ihn einzuweihen, oder auf eigene Faust weiter zu operieren. Das letztere war so recht ein Spiel nach seinem Sinn und er entschloß sich kurzerhand dazu.

Auch Frangi schien daran gelegen zu sein, in der Gesellschaft des Detektivs zu bleiben und er erfand eine Ausrede nach der andern, um das Zusammensein auszudehnen. Er schlug vor, sich die heulenden Derwische anzusehen und Sinclair nahm an. Für den harmlosen Touristen mochten die Darbietungen dieser Fakire, die sich Nägel in den Kopf und scharfe Messer in den Leib bohren ließen, ohne einen Augenblick ihre monotonen, heulenden Gesänge zu unterbrechen, erschrecklich genug ausschauen. Sinclair wußte, daß diese Leute von Jugend an auf diese Leistungen trainiert waren und daß es sich im Grunde um wenig mehr als Taschenspielerkunststücke handelte.

Ins Hotel zurückgekehrt, dankte ihm Frangi für seine Begleitung.

»Es würde mich freuen, Sie meiner Frau vorzustellen,« sagte er.

»Speisen Sie heute abends hier im Hotel?«

»Es tut mir leid, aber ich habe eine Verabredung,« log Sinclair wiederum. Er hatte genug von dem Mann. »Ein anderes Mal wird es mir ein Vergnügen sein.«

Er speiste allein in einem Restaurant in Therapia und es war spät geworden, als er ins Hotel zurückkehrte. Seine lange Beamtenlaufbahn hatte den Sinn für peinliche Ordnung in ihm entwickelt und als er die Handtasche, in der sich seine Briefe und Akten befanden, öffnete, fuhr er zurück. Er erinnerte sich genau, daß ein bestimmtes Schriftstück obenauf gelegen war, das sich auf einen Fall in England bezog, mit dem er sich gegenwärtig befaßte. Ein einziger Blick bewies ihm, daß sich jemand mit den Papieren zu schaffen gemacht hatte. Sie lagen anscheinend in musterhafter Ordnung da, aber ein anderes Schriftstück lag obenauf.

Glücklicherweise trug er stets alle wirklich wichtigen Papiere bei sich. Die Eindringlinge hatten nichts von besonderer Bedeutung erfahren, mit einer einzigen Ausnahme; sie wußten nun, wer dieser angebliche Herr Fraser sei. Und vielleicht war es ihnen gerade darauf angekommen.

Was geschehen war, war nicht mehr zu ändern. Sinclair begab sich mit dem Entschluß zur Ruhe, mehr denn je auf der Hut zu sein.


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