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»Herr Anthony, Sie werden ohne Zweifel den Grund unseres Kommens erraten haben, und ich mache Sie darauf aufmerksam, daß jede Ihrer Aussagen als Beweismaterial gegen Sie verwendet werden darf.«
Anthony war soeben vom Theater zurückgekehrt und wurde in seiner Wohnung von zwei Polizeibeamten erwartet. Sein Diener stand in tiefster Niedergeschlagenheit neben ihnen.
»Ich weiß zwar nicht im geringsten, um was es sich handelt, aber ich habe immerhin genug Kenntnis von den Dingen dieser Welt, um zu verstehen, daß Sie mich aus irgendeinem Grund verhaften wollen,« sagte Anthony ruhig.
»Ich erkläre Sie für verhaftet unter dem dringenden Verdacht, Fräulein Kitty Lake ermordet zu haben.«
»Großer Gott, was soll das heißen? Ich kann Ihnen nichts anderes sagen, als daß ich mit diesem furchtbaren Verbrechen nicht das geringste zu tun habe. Ich bin nicht fähig, irgend jemand umzubringen, am allerwenigsten ein armes, wehrloses Mädchen.«
Der Inspektor blieb ungerührt. »Sie werden reichliche Gelegenheit haben, sich zu verteidigen. Jetzt muß ich Sie zu meinem Bedauern auffordern, uns zu begleiten. Ich habe ein Taxi draußen.«
»Sie wollen mich also allen Ernstes so ohneweiters ins Gefängnis schleppen, ohne mir auch nur die Möglichkeit zu geben, meine Angelegenheiten zu erledigen? Wissen Sie, was das für mich bedeutet?«
»Herr Anthony, es tut mir leid, aber machen Sie, mir meinen Auftrag nicht noch schwerer, als er sowieso ist. Ich habe strikte Instruktionen, Sie ohne Aufschub ins Gefängnis einzuliefern. Vom Gefängnis aus können Sie sich sofort mit Ihrem Anwalt in Verbindung setzen.«
»Entsetzlich! Kann ich mich nicht jetzt auf der Stelle von dem schrecklichen Verdacht reinigen?«
»Leider nicht und ich halte es sogar in Ihrem eigenen Interesse für das Beste, wenn Sie jetzt so wenig als möglich sprechen.«
Der Inspektor wandte sich zum Gehen und forderte Anthony mit einer Geste auf, ihm zu folgen.
Eine Minute später setzte sich das Taxi in Bewegung. Der Schauspieler war unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Alles war so unerwartet gekommen. Das Bild einer engen, vergitterten Zelle tauchte in seinem Hirn auf, wirr, undeutlich, von tausend anderen Bildern gejagt.
Er war ein Mann, der im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses stand. Morgen schon würde man im Theater fragen, warum er nicht auftrete und – o Gott! – zur Antwort bekommen, daß er wegen Mordverdachtes verhaftet worden sei. Die Morgenblätter würden in gesperrtem Druck die Sensationsnachricht von seiner Arretierung bringen. Niemals wieder würde er seinen Namen von dieser Befleckung reinigen können, selbst wenn es ihm gelänge, seine Unschuld zu beweisen. Die trostlose Unbequemlichkeit der finsteren Zelle, in die man ihn sperrte, war nichts, verglichen mit seiner Seelenangst. Er sah vor seinem geistigen Auge die ausführlichen Beschreibungen seiner Persönlichkeit in den Zeitungen, mit grotesken Rollenbildern, die ihn als Hamlet oder Romeo darstellten. Innerlich und äußerlich war tiefstes Dunkel um ihn und die qualvolle Nacht auf der harten Matratze wollte kein Ende nehmen.
Endlich aber brach doch ein blasser Morgen herein und mit ihm kam sein Anwalt, den er sofort hatte verständigen lassen. Anthony berichtete ihm über sein Mißgeschick. Im Augenblick konnte man nichts tun. Er wurde unter strenger Bewachung durch zwei Polizisten in ein Automobil geleitet und nach Ketworth geführt. Die frische Morgenluft wirkte nach der dumpfen Kerkerzelle wie eine Erlösung und eine Art stumpfer Apathie kam über ihn, die ihn vor dem Verrücktwerden rettete. Eine unbestimmte Erinnerung an ein überfülltes Untersuchungszimmer, an neugierig gaffende Zuschauer, an den Polizeirichter mit seinen Beisitzern war alles, was ihm von dem Aufenthalt in Ketworth blieb. Es handelte sich lediglich um die formelle Erhebung der Anklage. In rasender Fahrt ging es wieder nach London zurück. Endlose Stunden und Tage martervoller Qual in enger Zelle folgten.
Herr Forbes, sein Anwalt, war trotz seiner angesehenen Stellung und seines hohen Einkommens ein bekümmert aussehender Mann, der sich um einen Sitz im Parlament bewarb und dem trotzdem Intelligenz nicht abzusprechen war.
Anthony konnte ihm nicht mehr sagen, als daß er das Verbrechen nicht begangen und auch nicht das geringste mit ihm zu tun habe. Aber das schien den Advokaten nicht zu befriedigen.
»Zuerst müssen Sie einmal für ein Alibi sorgen. Ich hoffe, daß Ihnen das keine Schwierigkeiten bereiten wird.«
»Ich wohnte im Gasthaus ›Zur Epheuranke‹ und zur Zeit des Mordes befand ich mich auf einem Spaziergang, mehr kann ich nicht sagen.«
»Hm! Wohin gingen Sie?«
»Ich ging ganz ziellos spazieren. Ich kenne die Gegend nicht genauer.«
»Sind Sie irgend jemandem begegnet, der Sie identifizieren könnte?«
»Nicht, daß ich mich erinnerte.«
»Ich halte es für meine Pflicht, Sie darauf aufmerksam zu machen,« sagte der Anwalt, auf und ab gehend, »daß die Polizei schwerwiegendes Beweismaterial gegen Sie in Händen hat.«
»Was soll ich tun, Herr Forbes? Ich kann nur immer wieder sagen, daß ich unschuldig bin.«
Der Advokat wandte sich zum Gehen und tiefe Sorgenfalten lagen auf seiner Stirne.
»Haben Sie bereits über die Wahl eines Strafverteidigers nachgedacht?« fragte er.
»Nein, wen würden Sie vorschlagen?«
Der Jurist dachte einen Augenblick lang nach.
»Ich würde mich in einem solchen Fall an Sir James Duncan wenden. Eine bessere Wahl können Sie nicht treffen. Allerdings ist er nicht billig.«
»Das spielt keine Rolle. Nehmen Sie den besten Verteidiger. Aber was soll das heißen: in einem solchen Fall?«
»Nun, wenn Sie die Wahrheit wissen wollen, so darf ich Ihnen nicht verheimlichen, daß es sehr, sehr schwer fallen wird, Sie loszukriegen.«
»Was? Wollen Sie damit sagen, daß eine Verurteilung überhaupt möglich ist?«
»Darüber kann ich kein Urteil abgeben. Alles, was ich sagen kann, ist, daß die Schuldbeweise sehr schwerwiegende sind.« Er schüttelte sorgenvoll den Kopf. »Ich werde also Sir James mit dem Fall betrauen.«
»Tun Sie, was Sie für das Beste halten,« sagte Anthony. Der Mann machte ihn noch nervöser, als er schon war, und er war froh, ihn los zu werden. Wenn sein eigener Anwalt die Sache so ansah, mußte es wahrhaftig schlecht um ihn stehen.
Einige Tage später wurde ihm Besuch angekündigt, und er wurde in das Sprechzimmer geführt, wo der große Verteidiger, Sir James Duncan, ihn erwartete. Gefängnisaufseher beobachteten die Zusammenkunft durch eine Glastüre.
Der große Mann enttäuschte Anthony. Er war klein und grauhaarig, trug einen Kneifer auf der Nase und machte einen selbstgefälligen Eindruck. Die herablassende Art, mit der ihn der Verteidiger behandelte, brachte Anthony zur Verzweiflung.
»Herr Forbes hat mich beauftragt, Ihre Verteidigung zu übernehmen,« begann er, »und obgleich ich über und über beschäftigt bin, habe ich mich entschlossen, anzunehmen, wenn Sie es wünschen.«
»Ich würde mich freuen, wenn Sie sich dazu entschließen würden.«
»Bei der einleitenden Polizeiverhandlung wird Herr Forbes die Vertretung Ihrer Interessen in die Hand nehmen.«
»Wollen Sie damit sagen, daß keine Möglichkeit für mich besteht, schon bei der Polizeiverhandlung loszukommen?«
»Nur wenn Sie ein vollkommen überzeugendes Alibi beibringen können. Und dazu sind Sie ja, wie mir Herr Forbes sagt, nicht in der Lage.«
»Der Fall wird also vor die Geschworenen kommen?«
»Gewiß. Und legen Sie sich Ihre Verteidigung inzwischen recht sorgfältig zurecht. Ich werde noch Gelegenheit haben, den Fall mit Ihnen auf das genaueste zu besprechen.«
Es überlief Anthony eiskalt, denn aus dem ganzen Gebaren des Verteidigers ging nur allzu deutlich hervor, daß er wenig Hoffnung hatte. Wortlos verabschiedete er sich und gleich darauf fiel die schwere Tür seiner Zelle wieder hinter ihm zu.
Wie im Traum durchlebte er die Polizeiverhandlung. Die dumpfe Atmosphäre der Zelle mit ihrem schwervergitterten Fenster legte sich aufs neue lähmend um seine Seele. Bleierne Gleichgültigkeit, die ihn wie eine Narkose umfing, bewahrte ihn vor dem Aergsten.
In schlaflosen Nächten zog sein bisheriges Leben wie ein Wandelpanorama an ihm vorüber. Eigentlich war er immer einsam gewesen. Er war von einem alten, gutherzigen, aber wenig mitteilsamen Onkel aufgezogen worden, der starb, als George in Oxford studierte, und ihm einiges Vermögen hinterließ. Er konnte die Schauspielkunst erlernen, ohne die unangenehmen Mühsale des Schmierenlebens mitmachen zu müssen, die den meisten Thespisjüngern nicht erspart bleiben. Der Erfolg stellte sich früh ein. Sein Aeußeres, sein Organ und seine guten Manieren unterstützten ihn. Aber vor allem hatte er es seinem brennenden Ehrgeiz und zielbewußter Konzentration auf seine künstlerische Arbeit zu danken, daß sich der Erfolg so früh und so reich eingestellt hatte. Auf seiner Gefängnispritsche zog Jahr um Jahr seines Lebens an ihm vorüber und ein Gefühl der Bitterkeit überkam ihn.
Sein Erfolg war zu rasch gekommen, sein Lebenspfad zu reich mit Rosen bestreut gewesen. Die Götter waren eifersüchtig geworden und hatten den Blitzstrahl auf ihn geschleudert.
Ein Brief Madelines versicherte ihn ihres unerschütterlichen Vertrauens. »Mutter und ich sind überzeugt davon, daß Sie unschuldig sind und der Instinkt einer Frau ist zuverlässiger als alle Schuldbeweise der Welt,« schrieb sie. Er erhielt die Erlaubnis, ihr zu antworten. Wenn sie, die Schwester des Opfers, an seine Unschuld glaubte, so mußte es auch noch andere Menschen geben, die ihn nicht für schuldig hielten.
So vergingen die Tage, bis der Zeitpunkt, der für die Verhandlung festgesetzt war, heranrückte. Forbes, sein Anwalt, war gekommen, um die Richtlinien der Verteidigung mit ihm durchzusprechen, aber es entging Anthony nicht, daß sein Benehmen kühl und zurückhaltend geworden war.
»Ich habe alles aufgeboten, um jemanden zu finden, der Sie auf Ihrem damaligen Spaziergang gesehen hat, aber alles vergebens,« sagte er.
Anthony schwieg.
»Können Sie mir wirklich gar nichts weiteres sagen, das Licht in die Angelegenheit bringen könnte? Verbergen Sie mir nichts? Ich beschwöre Sie, sagen Sie mir alles, was Sie wissen.«
»Ich habe weiter nichts zu sagen,« antwortete Anthony mit fester Stimme.
Forbes warf einen Blick auf das dickleibige Dossier.
»Die Anklage behauptet, daß der Brief, den die Ermordete erhalten hat, auf Ihrer Maschine geschrieben wurde. Stimmt das?«
»Ich habe ihr niemals geschrieben.«
Das Gesicht des Anwalts hellte sich ein wenig auf. »Wenn Sie das beweisen können, so ist es immerhin etwas. Die Fußspuren vor dem Fenster entsprechen genau Ihren Schuhen. Konnte sich vielleicht ein Fremder ihrer bedienen?«
»Warum nicht? Ich hatte auf meiner Reise mehrere paar Schuhe mit. Zu Hause in meiner Wohnung pflegte natürlich mein Diener das Schuhwerk zu reinigen.«
»Er hatte doch gewiß auch Zutritt zu Ihrer Schreibmaschine?«
»Gewiß. Aber Sie wollen doch nicht etwa den armen William in die Sache hineinzerren?«
»Es ist immer gut, wenigstens auf eine andere Möglichkeit hinweisen zu können und auf diese Weise die Schuldbeweise zu erschüttern. Uebrigens wird in ein paar Minuten Sir James hier sein.«
In der Tat trat der berühmte Verteidiger gleich darauf ein. Er stellte ungefähr die gleichen Fragen wie der Anwalt. Anthony schien das alles zwecklos und unnötigerweise ermüdend zu sein. Immer und immer wieder fragte man ihn dasselbe, so daß er sich beinahe wie ein Opfer der berüchtigten Inquisitionsmethoden der amerikanischen Justiz vorkam. Am liebsten hätte er die beiden Juristen hinausgeworfen. Schließlich stand Sir James auf und sagte mit nachdrücklicher Betonung: »Ich habe Ihnen etwas zu sagen, Herr Anthony, und wenn Sie nachher noch wünschen, daß ich Ihre Verteidigung durchführe, so werde ich Ihrem Wunsch entsprechen. Wenn Sie es aber vorziehen werden, Ihre Sache einem anderen Verteidiger anzuvertrauen, so werde ich mich zurückziehen.«
Anthony verharrte in schweigender Erwartung.
»In vielen Fällen,« fuhr Sir James fort, »die nicht gerade Mordfälle zu sein brauchen, besteht die Möglichkeit, die Verteidigung nach ganz bestimmten Richtlinien zu führen … diese Möglichkeit besteht nur in einer beschränkten Zahl von Fällen … Wenn der Weg zu einer solchen Verteidigungsart einmal versperrt ist … Allerdings bringt diese Art der Verteidigung auch ihre Gefahren mit sich. Können Sie mir folgen?«
Was zum Teufel wollte dieser Mann mit all diesem Kauderwelsch? »Ich fürchte, Sir James, daß ich keine Ahnung habe, wo Sie hinaus wollen!«
»Ich kann mich wohl kaum noch deutlicher ausdrücken, was, Forbes?« Er warf einen Blick auf den anderen Juristen.
»Was Sir James meint, ist dieses: In manchen Fällen kann auf mildernde Umstände plaidiert werden. Man kann zum Beispiel die Tat als Totschlag hinstellen, man kann sogar auf Affektverbrechen plaidieren, aber natürlich kann anderseits kein Angeklagter gezwungen werden, sich schuldig zu bekennen.«
Jetzt war es allerdings klar, wo Sir James mit seinen geschraubten Redensarten hinauswollte. Anthony sprang auf, außer sich vor Wut. »Sie wollen also damit sagen, daß Sie mich für den Mörder halten, und daß ich mich durch das Geständnis, die Tat in einem Augenblick der Sinnesverwirrung begangen zu haben, vielleicht vor dem Galgen retten kann! Wie können Sie es wagen, mir einen solchen Vorschlag zu machen!«
»Bitte regen Sie sich nicht auf, Herr Anthony.« Forbes legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter. »Das wollte Sir James gewiß nicht sagen. Er sucht lediglich nach den besten Richtlinien für die Verteidigung.«
»Und ich sage Ihnen, meine Herren, daß das eine ungeheuerliche Anschuldigung von Ihnen ist. Ich habe das Verbrechen nicht begangen – ich schwöre es!«
Die beiden Männer des Gesetzes tauschten einen Blick aus.
»Nun gut denn,« sagte Sir James. »Wünschen Sie, daß ich Ihre Verteidigung weiterführe?«
»Was kann ich tun? In zwei Tagen ist die Verhandlung. Gewiß hoffe ich, daß Sie meine Verteidigung beibehalten.«
»Ich werde mein Möglichstes tun,« sagte Sir James, aber seine Stimme klang unsicher.
»Sir James ist ein großer Kämpfer. Wenn Ihnen jemand helfen kann, so ist er es,« meinte Forbes.
Als Anthony wieder abgeführt worden war, wandte sich Sir James an Forbes. »Ein dummer Junge. Er verspielt seine einzige Chance, und auch die wäre verdammt gering gewesen. Wie die Sache jetzt steht … Eine nette Aufgabe haben Sie mir da zukommen lassen, Forbes!«