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1. Kapitel.
Der Mord.

»Die Szene ist fabelhaft. Aber finden Sie sie nicht doch vielleicht etwas zu grausig?« Farrar schaute einen Augenblick von dem Manuskript, aus dem er vorlas, auf.

»Lächerlich, lieber Freund,« meinte Kenyon. »Was suchen denn die Leute heutzutage im Theater? Doch nichts anderes als Nervenkitzel. Ein bißchen Ablenkung von dem grauen Einerlei des Alltags. Die Szene bleibt selbstverständlich.«

»Wie Sie glauben,« sagte Farrar und fuhr in der Lektüre fort.

Kenyon ging nervös auf und ab. In der einen Hand hielt er das Manuskript seines neuesten Stückes, in der anderen ein seidenes Taschentuch. Aus dem Nebenzimmer tönte Kitty Lakes leises Klavierspiel. Hier und da hörte man Frau Moira in der Küche hantieren.

»Sie haben mir gestern die Idee Ihres nächsten Stückes –« begann Farrar.

Ein Ausruf Kenyons unterbrach ihn: »Halt! Was war das?« Ein Zucken ging durch den Körper des Dramatikers.

Der Sekretär schaute erstaunt auf. Warum war Kenyon so jäh erschrocken? Etwa weil im Nebenzimmer plötzlich das Klavierspiel aufgehört hatte?

»Mein Gott, wer ist das?« sprach Kenyon jetzt. Seine Stimme klang heiser.

Farrar ging auf den Zehenspitzen zur Tür. Auch er hörte jetzt im Nebenzimmer deutlich eine Männerstimme. Gleich darauf vernahm man das Schluchzen einer Frau und dann Töne, die wie angstvolles Flehen klangen. »Gehen Sie, um Himmels willen, gehen Sie doch,« tönte die Stimme des Mädchens aus dem Nebenzimmer herüber. Dann wildes, herzzerreißendes Weinen.

Mit einem Satz war Kenyon bei der Tür und rüttelte an der Klinke. »Versperrt,« flüsterte er. »Rasch, Farrar, schauen Sie von draußen nach, wer bei Kitty ist,« Furcht bebte in seiner Stimme.

Schon war Farrar durch die Gartentüre hinausgestürmt. Draußen aber stand unglückseligerweise eine Mähmaschine, über die er stürzte. Das ging nicht ohne Lärm ab, der den Eindringling, wenn es einen solchen gab, verscheuchen mußte. Mit einem Fluch sprang der Sekretär auf und rieb sich seine aufgeschürften Schienbeine. Als er endlich auf die andere Seite des Hauses gelangte, stand die Fenstertür offen. Der Raum schien leer. Gleichzeitig wurde gegen die innere Türe mit Gewalt gehämmert, bis sie endlich krachend aufflog. Kenyon und Frau Moira, die der Lärm aus der Küche herbeigelockt hatte, stürzten in das Zimmer.

Auf dem Boden lag der Körper Kitty Lakes. In schmalen Streifen sickerte Blut über den Teppich.

Wie in einer gemeinsamen Geste knieten die drei neben der stillgewordenen Gestalt, die noch vor Minuten voll warmen Lebens gewesen war. Schauder kroch durch den Raum.

Ein einziger Blick ließ erkennen, daß die Kehle der jungen Schauspielerin mit einem bestialischen Schnitt durchtrennt worden war, und daß der Tod augenblicklich eingetreten sein mußte.

Kenyon sprang auf, dem Wahnsinn nah.

»Rasch! Hinaus, bevor er noch entkommen kann!« brüllte er und sprang von Farrar gefolgt, durch die geöffnete Fenstertüre. Stumm vor Schmerz und Schrecken kniete Moira Kenyon halb ohnmächtig neben der Leiche.

Die Männer jagten den Hügel hinab in den Wald. Das Gestrüpp war sehr dicht und nur mit größter Anstrengung konnten sie sich einen Weg hindurchbahnen. Endlich auf dem schmalen Pfad angelangt, der den Wald durchzog, sahen sie eine gebückte Gestalt vor sich. Mit einem Satz war Kenyon bei ihr und schlug sie zu Boden.

»Habe ich dich, du Teufel,« schrie er.

Ein schrecklicher Seufzer entrang sich der Kehle des wehrlos gemachten Mannes. Farrar mußte Kenyon mit Gewalt von ihm losreißen.

»Um Gottes willen!« sagte er. »Sie bringen ihn ja um! Wir wollen doch erst einmal sehen, wer es ist.«

Kenyon erhob sich.

Auch der Mann stand schweratmend auf. »Warum wollen Sie mir denn ans Leben, meine Herren? Ich habe doch nichts angestellt!«

»John!« rief Kenyon überrascht. »Was tust denn du hier? Rasch, erzähle!«

»Ich tue überhaupt nichts,« brummte der Mann tiefbeleidigt und rieb sich den Hals. »Ich wollte nämlich bloß mal nachschauen, ob die Schweine schon alle im Stall sind.«

»Du hast nichts gehört, nichts gesehen?«

»Während Sie hier mit dem Mann Ihre Zeit vergeuden, entkommt vielleicht der Verbrecher,« mischte sich jetzt Farrar ein. Eilends versuchte er dem Mann zu erklären: »Soeben ist hier ein Mord begangen worden; der Mörder muß hier in der Nähe sein. Ist Ihnen nichts Verdächtiges aufgefallen?«

John rieb sich noch immer beleidigt den Hals: »Ein Mord? Wen haben sie denn umgebracht?«

»Das geht dich nichts an. Hast du jemanden gesehen?«

»Ja, wenn ich so richtig hin und her überlege, so habe ich eigentlich schon jemanden gesehen.«

Rasch von Begriff war John gerade nicht. »Also, er ist da irgendwo hinuntergerannt. Aber wo hinunter, das könnte ich nun nicht genau sagen. Ich habe nur die Schweine im Kopf gehabt.«

»So besinn dich doch! Ungefähr wirst du dir doch die Richtung gemerkt haben!«

John malte unsichere Schlangenbewegungen in die Luft.

»Auf jeden Fall zu viel Vorsprung,« meinte Farrar. »Wir können ihn nicht mehr einholen. Benachrichtigen wir lieber die Polizei und den Doktor, wenngleich der kaum mehr helfen kann.«

»Der Gedanke, daß sich der Mörder vielleicht ein paar Meter von uns entfernt aufhält, macht mich wahnsinnig. Ich muß doch suchen, ich muß! Versuchen Sie inzwischen meine Frau zu beruhigen, Farrar, dann nehmen Sie den Wagen und verständigen Sie die Polizei. Du kommst mit mir, John.«

Im Studierzimmer fand Farrar die Leiche auf dem Sofa liegend, mit einem Tuch bedeckt, vor. Frau Moira war jetzt äußerlich ruhig, aber ihr Gesicht war tödlich bleich, sie hielt sich nur mühsam aufrecht.

»Wo ist mein Mann?« fragte sie.

»Er durchsucht den Wald nach dem Mörder. Ich hole inzwischen die Polizei und den Doktor.«

»Tun Sie das!« sagte sie wie abwesend.

»Niemand darf hier im Zimmer etwas anrühren, bevor die Polizei kommt. Eigentlich hätten Sie nicht einmal die Leiche aufheben dürfen.« Es kam ihm plötzlich zu Bewußtsein, daß die Frau vor ihm nahe daran war, zusammenzubrechen.

»Ueberlassen Sie nur alles mir, Frau Moira.«

Moira war mit ihren Kräften zu Ende. »Wie entsetzlich das alles ist! Arme, arme Kitty!« Sie sank in einen Sessel und schluchzte hysterisch. »Aber so gehen Sie doch! Ich werde mich schon beruhigen.«

Die Garage befand sich in einem kleinen Bauernhäuschen, das einige Minuten vom Hause Kenyons entfernt an der Straße lag und gleichzeitig als Chauffeurwohnung diente. Der Chauffeur, ein ruhiger Mann namens Hunter, war gerade von einem Spaziergang zurückgekommen und wusch sich umständlich.

Farrar wartete ungeduldig, bis er fertig war und gleich darauf sauste der Wagen in der Richtung nach dem Dorf Littleworth dahin.

Ein unscheinbares Haus trug die Aufschrift »Bezirkspolizei«. Der Ortspolizist arbeitete in seinem Garten. Nachdem er Farrars Geschichte gehört hatte, stieß er seinen Spaten in den Boden und nahm seinen Rock vom Zaun. »Ich werde Sergeant Curtis in Kattworth anläuten, meinen Chef, dann komme ich selbst hinüber.«

Der Polizist war ein Mann, der langsam sprach und noch langsamer handelte.

»Tun Sie das,« sagte Farrar, »ich hole inzwischen den Doktor.«

»Den können Sie von hier aus anläuten, Dr. Weaver wohnt neben dem Bahnhof.«

Nachdem Farrar den Doktor verständigt hatte, fühlte er sich dazu berechtigt, etwas Stärkendes zu sich zu nehmen und trat in das Gasthaus »Zur Epheuranke« ein. Der Anblick lärmender Bauern vor gefüllten Bierkrügen wirkte beruhigend auf ihn.

»Haben Sie auch Logiergäste?« fragte er den Wirt, nachdem er sich etwas zu trinken bestellt hatte.

»Nur ein amerikanisches Paar, das sich die Gegend anschaut, und so 'n Schauspieler.«

»Wie heißt der?« fragte Farrar beiläufig.

»Moment mal! Du Mary, wie heißt doch gleich der Schauspieler, der bei uns wohnt?«

»Anthony,« antwortete seine Tochter von der Schank. »Er ist im Extrazimmer, sucht ihn jemand?«

»Anthony? Doch nicht etwa George Anthony?«

»Weiß ich nicht,« sagte der Wirt. Die Sache schien ihn nicht sonderlich zu interessieren.

»Was für ein Zufall, wenn es wirklich George wäre,« dachte Farrar. Anthony war der aufgehende Stern, der in Kenyons letzten Stücken die männliche Hauptrolle meist als Gegenspieler Kitty Lakes dargestellt hatte. Farrar trank nachdenklich sein Glas leer und ging ins Extrazimmer hinüber, wo eine einsame Gestalt am Schreibtisch saß. Farrar erkannte sofort den jungen Schauspieler George Anthony, dessen rasche Karriere zu den großen Ereignissen der verflossenen Theatersaison gehört hatte.

»George,« rief Farrar, »nein, so eine Überraschung! Wie zum Teufel kommen Sie hieher?«

Der Mann stand auf, eine kraftvoll schlanke Erscheinung, mit einem schön geschnittenen Gesicht und tiefliegenden, ruhelosen Augen. Der Anblick Farrars schien ihm, seinem Gesichtsausdruck nach zu schließen, nicht eben angenehm zu sein. Dieser fuhr fort, ohne eine Antwort abzuwarten:

»Uebrigens ist es ja auch gleich. Etwas Schreckliches hat sich ereignet. Kitty Lake wohnte in Kenyons Sommerhaus, ganz nahe von hier. Sie ist vor einer Stunde ermordet worden.«

Anthony umklammerte seinen Arm. »Ermordet?«, die sonst so wohllautende Stimme klang heiser. »Sie spassen wohl? Rasch, so erzählen Sie doch!«

»Es ist, wie ich es Ihnen sage. Ich komme soeben von der Polizei.«

Anthony ließ Farrars Arm los und taumelte mit irren Augen zurück.

»Unmöglich! Ich –« er hielt inne. »Kommen Sie, wir müssen sofort gehen. Erzählen Sie mir alles Nähere unterwegs.« Farrar sah ihn scharf an. Er war Offizier gewesen und hatte für die Künstlerpsyche wenig Verständnis.

»Gut, kommen Sie. Ich habe den Wagen draußen.«

Während das Auto den Hügel hinaufraste, erzählte er den Fall in kurzen, abgerissenen Sätzen. Bald waren sie beim Unglückshaus angelangt. Das Wohnzimmer war voller Menschen. Außer dem Arzt und dem Polizeisergeanten Curtis war noch ein Mann mittleren Alters mit rötlichem Haar und angegrautem Schnurrbart anwesend, der sich mit Kenyon unterhielt, während der Dorfpolizist die Türe zum Arbeitszimmer bewachte. Die Frau des Dramatikers hatte sich zurückgezogen.

»Wir haben Glück,« sagte Kenyon, »wenn man bei dieser entsetzlichen Sache von Glück sprechen kann. Inspektor Sinclair, der bekannte Detektiv von Scotland Yard, befand sich zufällig auf einer Inspektionsreise in Kettworth.«

Farrar und Anthony betrachteten neugierig den Mann, dessen Name anläßlich vieler Sensationsprozesse in aller Munde gewesen, und fanden in ihm einen bescheidenen einfachen Menschen, der ganz und gar nicht dem üblichen Typ des Romandetektivs glich. Um diese Zeit hatte Inspektor Sinclair eine der höchsten Vertrauensstellen inne, die die englische Polizei zu vergeben hat. Seine früheren Dienstjahre hatte er in Indien verbracht, aber seitdem er nach London versetzt worden war, hatte er sich einen Ruf geschaffen, um den ihn die meisten seiner Kollegen beneideten. Hinter seiner Stirne lag Geheimnis um Geheimnis in verwirrender Vielfältigkeit verborgen, äußerlich aber war er sicherlich eines der unscheinbarsten Mitglieder des Polizeikorps; dabei war er der ruhige, höfliche und herzensgute Mensch geblieben, der er immer gewesen war.

Farrar wandte sich an Kenyon. »Haben Sie in den Wäldern jemand gefunden?«

»Nein, es war hoffnungslos. Aber es besteht natürlich die Möglichkeit, daß der Verbrecher trotz des trockenen Wetters Spuren hinterlassen hat. Inspektor Sinclair wird sich darüber ja bald klar werden.«

Der Inspektor war soeben erst angelangt und nachdem alle am Tische Platz genommen hatten, wandte er sich zunächst an Farrar:

»Herr Kenyon erzählte mir gerade, daß Sie sich in diesem Zimmer hier über eines seiner Stücke unterhielten, als er eine fremde Stimme im Nebenzimmer hörte.«

»Ganz richtig.«

»Eine Männerstimme. Konnten Sie etwas verstehen?«

»Von dem, was der Mann sagte, nichts. Er sprach offenbar absichtlich mit gedämpfter Stimme.«

»Fräulein Lake aber hörten Sie sprechen?«

»Jawohl. Sie war erregt. Wir hörten sie schluchzen: ›Gehen Sie, so gehen Sie doch, um Gottes willen‹, oder so ähnlich.«

»Seit wann war Fräulein Lake im Arbeitszimmer?«

»Ungefähr seit dreiviertel Stunden. Sie ging hinein, als wir zu arbeiten begannen.«

Sinclair wandte sich an Kenyon: »Ersuchten Sie sie, sich zu entfernen? Oder sagte Fräulein Lake, daß sie Sie nicht bei der Arbeit stören wolle?«

»Weder noch. Sie stand auf und verließ das Zimmer, ohne ein Wort zu sprechen.«

»Sie ging dann zum Klavier und spielte?«

»Jawohl.«

»Wollen Sie sich bitte jetzt sehr genau erinnern! Hörten Sie, während Hauptmann Farrar um das Haus herum zur Fenstertüre ging, jemanden um Hilfe schreien?«

»Nein. Die Stimme verstummte. Ich versuchte natürlich sofort die Türe aufzubrechen.«

»Ich bin leider genötigt, einige persönliche Fragen an Sie zu richten. Merkten Sie etwas Besonderes an Fräulein Lake, als sie auf Besuch in Ihr Haus kam?«

Kenyon fuhr empor: »Merkwürdig, daß Sie mich das fragen. Im allgemeinen war sie immer heiter und guter Dinge; das war einer der Gründe, weshalb meine Frau sie eingeladen hatte. Die beiden waren sehr befreundet. Als sie hier ankam, bemerkten wir, daß sie niedergeschlagen und schlechter Laune war, irgendetwas schien sie zu bedrücken. Meine Frau überraschte sie zweimal dabei, als sie weinte.«

»Wissen Sie, ob das Mädchen einen – sagen wir einen Verehrer hatte? Oder haben Sie eine Ahnung davon, mit wem sie sich etwa hinter Ihrem Rücken hätte verabreden können?«

»Nicht die geringste. Alles ist mir vollkommen unerklärlich. Meine Frau und ich kennen Kitty seit ihrer Kindheit. Sie hatte natürlich viele Bewerber, lebte aber nur ihrem Beruf.«

»Soviel Sie wissen, hat sie keine Briefe erhalten?«

»Nein.«

»Es hat sich auch niemand in auffallender Weise in der Nähe des Hauses zu schaffen gemacht?«

»Absolut niemand.«

Sinclair drehte seinen Sessel Anthony zu. »Wie ich höre, sind Sie mit Fräulein Lake zusammen aufgetreten, Herr Anthony. Uebrigens habe ich Sie selbst in einem der glänzenden Stücke unseres Freundes gesehen.«

Kenyon verneigte sich leicht.

»Ist Ihnen jemand bekannt,« fuhr der Detektiv fort, »der sich auffallend viel in ihrer Gesellschaft aufhielt? Haben Sie irgend einen Verdacht?«

»Nicht den geringsten. Sie hatte bestimmt keinen Feind in der ganzen Welt. Wie Herr Kenyon ganz richtig sagte, ging sie ganz in ihrer Kunst auf. Ich glaube nicht, daß die Liebe in ihrem Leben eine Rolle gespielt hat.«

Sinclair versank in tiefes Nachdenken. Das Schweigen wurde so lastend, daß Kenyon es schließlich brechen mußte.

»Meine Frau kann Ihnen mehr über Kitty sagen als irgend jemand anderer. Soll ich sie holen?«

Sinclair wandte sich an Farrar. »Vielleicht haben Sie die Liebenswürdigkeit, die Dame des Hauses herzubitten.«

Kenyon blickte Sinclair eine Sekunde lang überrascht an.

»Gerne,« sagte Farrar und sprang auf. Er wandte sich zu der Tür, die zu der altmodischen Holztreppe führte, wie man sie in alten Landhäusern so häufig sieht. Sobald sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, wandte sich Sinclair Kenyon zu.

»Seit wann ist Hauptmann Farrar in Ihren Diensten?« fragte er rasch.

»Seit ungefähr drei Monaten. Er war aktiver Offizier und hatte glänzende Referenzen. Dank seiner Tüchtigkeit leistete er mir ausgezeichnete Dienste.«

»Woher kam er?«

»Soviel ich weiß, diente er in Indien und erlitt dort einen schweren Fieberanfall.«

»Seltsam. Hat er viele Bekannte?«

»Nicht daß ich wüßte. Ein einziges Mal hat ihn ein Regimentskamerad hier besucht; ein reizender Mensch namens Forester oder Fortescue oder so ähnlich. Ein ungemein belesener, weitgereister Mann. Die Abenteuer aus seinem Leben, die er uns erzählte, sind seltsamer als meine Stücke, und das will doch schon etwas besagen.«

»Wie sah dieser Offizier aus?«

»Eigentlich schwer zu sagen. Typus des Offiziers, etwa vierzig Jahre alt.«

»Hat er bei Ihnen gewohnt?«

»Daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Farrar brachte ihn ein paarmal heraus, ich glaube, er kehrte am Abend mit seinem Auto immer nach London zurück.«

In diesem Augenblick öffnete sich die zur Treppe führende Türe und Moira Kenyon trat ein. Sie war wenig über zwanzig Jahre alt und seit zwei Jahren mit dem Schriftsteller verheiratet. Ihr Haar war blauschwarz und ihre Augen von dunkler Veilchenfarbe. Ein Hauch von Traurigkeit umschwebte sie, wie er bei Irländerinnen nicht selten ist. Als sie jetzt an den Tisch herantrat, war ihr Antlitz totenbleich und ihre Augen glänzten fiebrig.

Sinclair erhob sich. »Ich bedaure, Sie stören zu müssen, gnädige Frau. Nehmen Sie bitte Platz.« Seine Stimme hatte etwas Beruhigendes. »Bitte erzählen Sie mir, was Sie über die Ereignisse des heutigen Nachmittags wissen.«

Moira sank in einen Sessel und stützte ihren Kopf in die Hände.

»Ich war mit Sarah, dem Dorfmädel, das mir bei der Arbeit hilft, in der Küche und hörte plötzlich, wie mein Mann die Türe einbrach. Sofort eilte ich herbei, um nachzusehen, was geschehen sei, und betrat zusammen mit meinem Mann das Nebenzimmer. Zuerst glaubte ich, daß der Raum leer sei, dann sah ich Kitty auf dem Boden liegen.«

»Sahen Sie auch Herrn Farrar?«

»Im Augenblick, als wir in das Zimmer traten, kam er durch die Fenstertüre.«

»Ueber die Person des fremden Besuchers können Sie keinerlei Angaben machen?«

»Ich tappe vollkommen im Dunkeln. Kitty hat mit mir niemals über eine Bekanntschaft außerhalb unseres gewohnten Kreises gesprochen.«

»Hat sie öfters allein das Haus verlassen?«

»Nur zweimal machte sie allein mit Hunter, dem Chauffeur, Automobilausflüge. Als Städterin liebte sie die Natur ganz besonders.«

»Waren Sie mit der Verstorbenen befreundet?«

»Wir waren wie Schwestern und vertrauten einander alles an.«

»Danke, gnädige Frau,« sagte Sinclair. »Wir brauchen Sie nicht länger zurückzuhalten. Man sieht Ihnen an, daß Sie noch der Ruhe bedürfen.«

Moira stand wortlos auf und ging langsam in ihr Zimmer zurück.

»Viel weiter werden wir wohl heute nicht kommen,« sagte Sinclair. »Doktor, wir brauchen Sie heute nicht mehr. Sie muß ich morgen früh hier haben, Jones,« wandte er sich an den Polizisten. »Das Sanitätsauto wartet draußen. Die Leiche muß in die Totenkammer überführt werden.«

Sergeant Curtis stand auf. »Nein,« sagte Sinclair. Sie brauchen nicht zu gehen, es sind ohnehin zwei Mann bei dem Auto.«

Dann wandte er sich an die übrigen Anwesenden. »Zu meinem Bedauern muß ich Sie ersuchen, die Nacht hier zu verbringen, meine Herren.«

»Soll auch ich bleiben?« fragte Anthony erstaunt.

»Wenn ich Sie darum bitten darf!«

»Wir haben nur zwei Schlafzimmer, unser eigenes und das der armen Kitty,« erklärte Kenyon. »Dann steht noch dieses Zimmer hier zur Verfügung und das Arbeitszimmer. Aber in dem wird sich wohl niemand aufhalten wollen,« fügte er schaudernd hinzu.

»Im Gegenteil,« sagte Sinclair ruhig, »ich gedenke die Nacht dort zu verbringen. Die drei Herren darf ich wohl bitten, in diesem Raum hier zu bleiben und das Haus nicht zu verlassen.«

Kenyon sah Sinclair überrascht an: »Wir sollen also wirklich alle hier bleiben?«

»Sehen Sie,« sagte der Detektiv mit halbgeschlossenen Augen, »es besteht die – wenn auch sehr entfernte – Möglichkeit, daß der Mörder zurückkommt. Vielleicht hat er in der Eile eine Spur hinterlassen, die er verwischen will. Durch dieses Zimmer kann er nicht kommen, wenn Sie hier sind. Ich aber bin bewaffnet. Den Garten soll niemand betreten.«

Sinclair gab Curtis ein Zeichen, ihm zu folgen, die zwei Männer gingen in das Mordzimmer und schlossen die Tür hinter sich. Die drei anderen blieben in gedrücktem Schweigen zurück.

Aus Ehrfurcht vor der Gegenwart Sinclairs hatte Curtis während des ganzen Gespräches nicht den Mund aufgetan. Er wußte, daß es von dem großen Detektiv viel zu lernen gab und er rechnete damit, daß ihm die Wetterführung des Falles übertragen werde. Sinclairs Gegenwart war ja schließlich nur reiner Zufall.

Sinclair sagte mit gedämpfter Stimme: »Ich weiß, Curtis, daß ich gar kein Recht habe, mich in diesen Fall hineinzumischen, aber er interessiert mich, deshalb möchte ich heute Nacht hier bleiben. Kommen Sie in aller Früh mit so vielen unserer Leute wieder her, als Sie in der Eile zusammentrommeln können. Wenn das Verbrechen bekannt wird, haben wir natürlich eine Menge neugieriger Gaffer und vor allem die ganze Reportermeute auf dem Hals.«

»Wird gemacht, Herr Inspektor. Uebrigens, im Vertrauen gesagt, sehen Sie schon Licht in dieser Sache? Ich für meinen Teil tappe vollkommen im Dunkeln.«

»Vielleicht kann ich Ihnen morgen früh auf diese Frage schon Antwort geben, Curtis. Wollen Sie jetzt so gut sein, einmal durch diese Türe hinauszugehen?« Er öffnete die Fenstertüre weit. »So, jetzt gehen Sie einmal dicht an der Wand entlang – nein dort; dort herum kam Hauptmann Farrar: an der Küche vorbei durch den Garten zum Hauptweg.«

Curtis sah ihn überrascht an: »Wozu soll denn das gut sein?«

»Das werden Sie morgen erfahren. Gute Nacht!«

Nachdem Sinclair gegangen war, saßen die drei Männer in nervösem Schweigen rund um den Tisch des Wohnzimmers. Kenyon ging zum Wandschrank und entnahm eine Whiskykaraffe, eine Siphonflasche in einem Silberständer und geschliffene Gläser, die er füllte.

»Was fällt diesem Sinclair nur ein?« fragte Farrar, den Whisky begierig schlürfend. »Es ist lächerlich unbequem in diesem Raum und dabei drückend heiß. Sollte man nicht die Türe aufmachen?«

»Wie Sie wollen,« sagte Kenyon gleichgültig. »Uebrigens hüllen sich diese Detektive immer in ein geheimnisvolles Dunkel. Wer weiß, ob überhaupt etwas dahintersteckt!«

Anthony lehnte ganz tief in einem Fauteuil. Er war von der Schrecklichkeit dieses Verbrechens wie benommen.

Kenyon wandte sich jetzt an ihn. »Was machen Sie eigentlich in dieser abgelegenen Gegend, George? Und warum, zum Teufel, verständigten Sie uns nicht von Ihrem Hiersein?«

»Einfach eine kleine Urlaubstour. Anfangs hatte ich die Absicht, Sie aufzusuchen. Ich wohne schon seit drei Tagen in Littleworth. Plötzlich fiel mir ein, daß es so aussehen könnte, als ob ich die Hauptrolle in Ihrer neuen Komödie angeln wollte, wenn ich so plötzlich auftauchte. Wäre ich nur gekommen!«

»Ich wüßte nicht, was das an den Ereignissen geändert hätte,« warf Kenyon kühl ein.

»Man hat in einem solchen Fall immer das Gefühl, daß vielleicht doch etwas geschehen wäre, um diese furchtbare Tat zu verhindern.«

Allmählich machten sich die Aufregungen des Tages und die dadurch hervorgerufene Abspannung doch geltend und schließlich versanken alle drei in Schlaf, Kenyon auf dem Sofa, die beiden anderen in Klubsesseln.

Im Zimmer nebenan hielt Sinclair Wacht. Seine Nerven warm zum Zerreißen angespannt. Ein geladener Revolver und eine elektrische Taschenlampe lagen neben ihm auf dem Tisch. In der Ferne schlug die Kirchenuhr die Stunden. Aus dem Tal klangen die mannigfaltigen Geräusche der nächtlichen Natur, die Laute unruhiger Nachttiere herauf. Hier und da ein Hupensignal von einem auf der entfernten Landstraße vorbeifahrenden Auto, … das Rauschen der Baume in den dichten Wäldern. Es war eine schwüle, weiche Nacht, eine Nacht ohne Mond. In solchen Nächten ist das Böse lebendig. Aus dem Wohnzimmer klang das regelmäßige Ticken einer Uhr wie der Schlag eines unruhevollen Herzens. Zweimal ging Sinclair auf Zehenspitzen durch das Zimmer und öffnete lautlos die eingeschlagene Tür, die lose in den Angeln hing. Dann kehrte er zu seinem Sitz beim Fenster zurück und starrte in die schwarze Nacht hinaus. Als die ersten Anzeichen des heraufdämmernden Morgens am Himmel sichtbar wurden, richtete er sich plötzlich steil in seinem Sessel auf. Eine dunkle Gestalt kroch langsam aus dem Wald hervor.


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