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8. Kapitel.
Sergeant Curtis geht an die Arbeit.

Sergeant Curtis war sich seiner Verantwortung wohl bewußt. Es war eine schwere Aufgabe für ihn, Licht in das »Geheimnis von Littleworth« zu bringen und er lebte in beständiger Furcht, daß man ihm den Fall entziehen würde.

Als die hohe Gestalt Kenyons, geleitet von einem Polizisten, feine Kanzlei betrat, blickte er überrascht von seinen Papieren auf.

»Womit kann ich Ihnen dienen?« fragte er, indem er sich erhob.

»Sie führen den Fall Kitty Lake, nicht wahr, Herr Sergeant?«

»Allerdings.«

»Ich möchte in mein Haus, um gewisse Papiere zu holen, die ich dort gefunden habe. Mein Wagen wartet draußen und wenn es Ihre Zeit erlaubt, möchte ich Sie bitten, mit mir hinüberzufahren.«

»Aber gerne. Ich hole nur die Schlüssel und stehe sofort zu Ihrer Verfügung.«

Ein paar Minuten später fuhren sie die steile Straße empor, die durch die Wälder zu dem Unglückshaus führt. Sie passierten eine von dichtem Laubwerk beinahe verborgene Kirche und ein daneben liegendes, winziges Schulhaus, in dem die Kinder aus den weitverstreuten Bauernhäusern sich allmorgendlich zum Unterricht versammelten. Im übrigen war weit und breit keine menschliche Wohnstätte zu sehen.

Kenyons Haus wies schon Spuren des Verfalles auf. Der Rasen war verwildert und überall wucherte Unkraut. Die Fensterläden waren herabgelassen und der ländliche Aberglauben hatte das Haus bereits mit Schauergeschichten von nächtlichen Gespenstererscheinungen und unheimlichen Klagelauten umwoben. Die Bauern gingen des Nachts an dem Haus nur dann vorbei, wenn unumgängliche Notwendigkeit sie dazu zwang.

Die beiden Männer standen beim Gartentor.

»Merkwürdig,« meinte Curtis, »was Vernachlässigung in ein paar Tagen anrichten kann. Das Haus sieht aus, als ob es seit Monaten unbewohnt sei.«

»Ich werde nie wieder hier wohnen,« sagte Kenyon.

»Sie werden es wohl verkaufen?«

»Nein, ich lasse es, wie es ist?«

Curtis lachte. »Dadurch werden Sie es todsicher zu einer Sehenswürdigkeit machen. Besonders die Amerikaner werden herbeiströmen, um das verwunschene Haus anzugaffen. Geben Sie nur acht, daß Cook nichts davon erfährt.«

Nun lag das Wohnzimmer in gespenstischem Halbdunkel vor ihnen. Das Knarren eines Stuhles ließ sie beide erschauern, als ob die arme Seele der Ermordeten durch ihr Eindringen aufgescheucht worden sei. Curtis öffnete einen Fensterladen, aber das hereinströmende Tageslicht ließ den Raum nur noch trostloser erscheinen.

Kenyon trat in sein Arbeitszimmer ein, dessen Tür sich mit einem stöhnenden Laut öffnete. Curtis versuchte, den unheimlichen Eindruck abzuschütteln und öffnete mit einer ungeduldigen Geste das Fenster, um Luft und Licht einzulassen. Seine Stirne war feucht. Er sprach im Flüsterton.

»Mir ist, als ob ich die Gegenwart des Bösen körperlich spürte, als ob der Astralleib der Ermordeten sich in diesen Räumen aufhielte.«

»Ich habe Aehnliches gespürt, wollte es aber nicht aussprechen, um mich nicht lächerlich zu machen. Aber wenn Sie von der Polizei sogar solchen Eindrücken unterworfen sind …«

Kenyon ging zu seinem Schreibtisch und zog eine Schublade nach der andern auf, bis ihm ein Stoß Papiere unter die Hände kam.

»Das hier habe ich gesucht,« sagte er, »es ist der Rohentwurf meines nächsten Stückes. Der Fall war mir derart auf die Nerven gegangen, daß ich gar nicht daran gedacht habe, meine Arbeit mitzunehmen.« Er schloß den Schreibtisch wieder und sah sich um. »Wie geht es übrigens mit Ihrer Untersuchung? Haben Sie schon irgendetwas entdeckt?«

»Ich verfolge gewisse Spuren. Wenn ich nur wüßte, was Sinclair damals mit seinen seltsamen Andeutungen gemeint hat. Ob wohl etwas dahinter steckt?«

»Ein Mann von solchem Ernst und solcher Erfahrung würde eine derartige Aussage sicher nicht gemacht haben, wenn er nicht wirklich etwas gewußt hätte. Wahrscheinlich hatte er aber seine guten Gründe dafür, vorläufig geheim zu halten, was er weiß.«

»Ja, seit er fort ist, muß ich den Fall ohne seine Hilfe bearbeiten. Da ist erstens einmal die Frage der Fußspuren. Wir haben sie auf das genaueste untersucht, aber bis heute keinen Schuh gefunden, der dazu passen würde.«

»Das beweist wohl kaum etwas. Ein Mensch, der ein solches Verbrechen vorhat, wird natürlich die Schuhe eines andern anziehen und sich ihrer dann entledigen. Und wie steht es mit dem Handschuh?«

»Wir haben seinen Besitzer bisher nicht eruieren können. Es ist ein Handschuh, wie er zu Tausenden vorkommt.«

»Fingerabdrücke?«

»Waren nicht vorhanden. Es ist klar, daß der Mörder einen Handschuh trug, wenn nicht zwei.«

»Den Mann, der in intimen Beziehungen zu dem Mädchen stand, haben Sie wohl auch noch nicht ausfindig gemacht?«

»Leider nicht. Diese Sache ist genau so geheimnisvoll wie der Mord selbst. Vielleicht hatte sie gar nichts mit dem Verbrechen zu tun.«

»Ganz meine Meinung. Wir gehen immer von der Voraussetzung aus, daß der Mann, der sie verführt hat, auch der Täter sein müsse. Dabei handelt es sich vielleicht um zwei ganz verschiedene Personen. Könnte nicht der Täter ein ganz gewöhnlicher Strolch mit mörderischen Instinkten sein, der sich durch das offene Fenster einschlich und, als er sich entdeckt sah, das Mädchen, ohne auch nur nachzudenken, umbrachte?«

»Nein, nein, hinter der Sache muß etwas Tieferes stecken, denken Sie doch an den Brief!« sagte Curtis.

Kenyon blickte auf. »Wissen Sie eigentlich schon, aus welchem Grund sich Herr Anthony damals in dieser Gegend aufhielt?«

»In dieser Richtung wird man wohl vergeblich suchen. Seine Erklärung machte durchaus den Eindruck der Wahrhaftigkeit.«

»Das freut mich. Der Gedanke, George mit einem so abscheulichen Verbrechen auch nur im entferntesten in Verbindung gebracht zu sehen, hätte für mich etwas Peinigendes. Aber ich verstehe vollkommen, daß Sie allen Möglichkeiten nachgehen müssen.«

Kenyon stand auf. »Ich glaube, wir sollten jetzt gehen. Das Haus hat etwas Unheimliches für mich bekommen.« Plötzlich umklammerte er erschrocken den Arm seines Begleiters. »Was war das?« rief er aus.

»Was denn?« fragte Curtis, unwillkürlich zusammenfahrend.

»Ich habe etwas gehört. Es klang wie ein Stöhnen.«

Curtis sah den Schriftsteller beinahe mitleidig an, dem seine Nerven offenbar einen Streich gespielt hatten. »Ich habe nichts gehört –!« Kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, als ein feiner, klagender Ton hörbar wurde. Der Sergeant war kein Hasenfuß, aber jetzt lief es ihm eiskalt über den Rücken.

Kenyon war aschfahl geworden, aber er wandte sich um und ging unerschrocken daran, das Haus zu untersuchen. Curtis wartete wie auf Nadeln, aber der Laut wiederholte sich nicht. Gleich darauf kehrte Kenyon zurück.

»Ich habe die Ursache des Geräusches entdeckt,« sagte er.

»Wahrscheinlich irgendein Blödsinn, was? Ein Hund oder eine Katze?«

»Nein, ein Mensch. Raten Sie, wer es ist?«

»Geben Sie mir keine Rätsel auf, Herr! Wer war es?«

»Das kleine Bauernmädchen, das meiner Frau bei der Hausarbeit half. Ich weiß nicht einmal, wie sie heißt. Sie scheint den Verstand verloren zu haben, – sie jammert über dem leeren Herd, den sie ohne Zündhölzer anzuzünden versucht. Kommen Sie und reden Sie mit ihr. Vielleicht bringen Sie etwas Vernünftiges aus ihr heraus.«

Sie traten in die kleine Küche und sahen ein Bauernmädchen, das auf einem Schemel hin und her schaukelte.

»Was machst Du hier?« fragte Curtis scharf.

»Ach, die arme Tote, die liebe arme Tote. Ich muß ihr eine Tasse Tee kochen. Bald wird sie hier sein.«

»Aber Kind, hör' doch mit diesen Dummheiten auf und sag' mir, was Du hier machst?« Curtis faßte sie ungeduldig bei der Schulter.

Das Mädchen sah auf. »Ich muß doch Fräulein Kittys Tee machen, sie kommt immer um diese Zeit.«

Unwillkürlich schauerte es Curtis. »Red' doch keinen Blödsinn. Das arme Fräulein Lake ist tot. Du hast überhaupt kein Recht, hier zu sein. So, jetzt sei ein vernünftiges Mädel! Geh und laß Dich nicht wieder hier blicken.«

»Der Herr hat mir aber einen Brief gegeben und ich habe ihn verloren.«

»Von wem sprichst Du? Was für ein Herr?«

»Das weiß ich nicht, er hat mir den Brief und Geld gegeben und sie hat mich danach gefragt.«

»Wer hat danach gefragt?«

»Fräulein Kitty. Jedesmal, wenn ich ihr den Tee brachte.« Das Mädchen machte sich wieder beim Herd zu schaffen.

Curtis fragte die Kleine eindringlich: »Hör' mal gut zu. Möchtest Du uns nicht klar und deutlich sagen, was Du mit dem Brief meinst? Wann hast Du ihn bekommen und von wem?«

Es erwies sich als völlig unmöglich, aus dem armen Geschöpf etwas herauszubekommen. Sie wiederholte in einem fort dasselbe. Mit vereinten Kräften gelang es ihnen, sie zum Weggehen zu überreden, nachdem sie ihr den Küchenschlüssel abgeschwatzt hatten. Schließlich ging sie ruhig mit und verschwand gleich darauf im Walde, in der Richtung nach dem Häuschen ihrer Mutter.

»Was halten Sie davon?« fragte Curtis.

»Das arme Ding ist durch die Mordtat vollkommen aus der Balance gekommen. Sie macht geradezu den Eindruck einer Schwachsinnigen.«

»Aber sie muß sich doch bei der Erwähnung des Briefes irgend etwas gedacht haben.«

»Sicher, Vielleicht handelt es sich hier um eine Spur von höchster Wichtigkeit. Ich würde der Sache an Ihrer Stelle jedenfalls nachgehen.«

Kenyon sah auf die Uhr. »Donnerwetter, es ist spät geworden. Ich führe Sie zur ›Epheuranke‹. Sie lunchen mit mir, ja?«

»Vielen Dank, Herr Kenyon, ich will nur noch das Haus absperren.«

Das alte Gasthaus lag im Sonnenlicht gebadet da, als der Wagen vor dem Tor haltmachte. An den Tischen vor dem Hause saßen im Schatten hoher Bäume ein paar alte Männer, um sich vor der Mittagsmahlzeit ein wenig die Kehle anzufeuchten. Friedlich lag das Dörfchen da. Die Sensation des großen Mordfalles war schon ein wenig verebbt und nur der Briefträger, ein Sozialist, brachte den Dorfbewohnern mit ihrer Post seine umständlich auseinandergesetzte Theorie mit, daß so ein Verbrechen nur in der Stickluft der vornehmen Gesellschaft möglich sei.

Kenyon und Curtis nahmen im Honoratiorenzimmer Platz und Mary, die Wirtstochter, eilte zu ihrer Bedienung herbei.

»Können wir was zu essen haben?« fragte Kenyon. »Wir sind ganz ausgehungert.«

»Die Herren sind leider sehr spät daran. Das Mittagessen ist schon vorbei, aber ich werde sehen, was es noch gibt.«

»Bringen Sie, was immer Sie haben.«

Das Mädchen brachte einen kalten Rindsbraten von gigantischen Ausmaßen und zog sich in eine Ecke des Zimmers zurück. Curtis ließ sich in eine Unterhaltung mit ihr ein.

»Was hört man denn Neues über den Mord?«

»Es heißt, daß es im Mordhause spukt,« erzählte die Wirtstochter, »und es wäre ja auch kein Wunder, wenn die arme Seele umgehen und Vergeltung fordern würde. Kennen die Herren vielleicht den Herrn Anthony, der damals bei uns gewohnt hat?«

»Sogar sehr gut.«

»Das ist fein. Da können Sie mir sicher sagen, wo er wohnt. Nach seiner Abreise habe ich nämlich was gefunden, was ihm gehört und was er vielleicht braucht.«

»Und das wäre?«

»Nur ein alter Handschuh. Aber vielleicht hat er den andern noch, und so ein Paar Handschuhe kosten doch eine Menge Geld heutzutage.«

»Schauen wir ihn uns einmal an«, sagte Kenyon und tauschte einen Blick mit Curtis.

Das Mädchen lief hinaus und kam gleich darauf mit einem alten Ziegenleder-Handschuh zurück.

Die beiden Männer spürten ein seltsames Gefühl der Erregung, als sie bemerkten, daß es ein Handschuh für die rechte Hand war.

»Ich werde ihn Herrn Anthony zurückgeben,« sagte Curtis und ließ ein Geldstück in die Hand des Mädchens gleiten.


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